Freitag, 8. Dezember 2006

Wie überflüssig sind Väter (G. Amendt)

Zitat:
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Gerhard Amendt
Wie überflüssig sind Väter?

Wer Männer und deren Väterlichkeit verstehen will, muß die Vorgeschichte der Männlichkeit als Geschichte eines jeden Sohnes mit seinen Eltern verstehen.
So gesehen ist die Väterlichkeit eines jeden Mannes das Produkt einer langen Vorgeschichte. Sie hat sowohl mit den Erfahrungen mit dem eigenen Vater als auch mit den Erfahrungen mit der eigenen Mutter zu tun. Obendrein handelt Väterlichkeit davon, wie Vater und Mutter nicht nur Teileltern jeder für sich waren, sondern wie sie ihre Aufgaben als Vater oder Mutter in der Elterlichkeit – als einer gemeinsamen dritten Dimension – zusammenführten.
Deshalb ist Elterlichkeit mehr als nur die Summe von Vater und Mutter. Männer und ihre Väterlichkeit werden für die Entdeckung der äußeren Welt gebraucht.
Ich mache hier eine Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Welt des Kindes. Die innere Welt verkörpert die Mutter. Die äußere Welt hingegen verkörpert der Vater.
Jedes Kind beginnt mit der inneren Welt, um sich über die Jahre in die äußere Welt zu emanzipieren. Der Unterschied ist letztlich ein biologischer Unterschied. Das Kind wächst in der Frau heran. Seine Geburt ist für die Frau die erste große Trennung. Alle weiteren Entwicklungen ebenso. Je besser ein Kind sich entwickelt, um so mehr entfernt es sich von seiner Mutter, um diese in sich selber aufzubewahren. Die Frau muß das Kind für die äußere Welt freigeben. Sie kann es auch lassen, den Vorgang verzögern oder besonders fördern.
Der Vater hingegen nimmt das Kind in die äußere Welt auf. Der Mann als Vater führt es in die äußere Welt ein. Er führt sein Kind dort hin und verführt es dazu, sich dieser Welt zuzuwenden. Er tut das nicht unmittelbar nach der Geburt und nicht in Konkurrenz zur Mutter, sondern erst nach einiger Zeit. Anfangs repräsentiert er alleine die äußere Welt gegenüber dem Kind. Er steht neben und zur Mutter. Von der Mutter entfernt sich jedes Kind.
Diese Entfernung, die wir gelungene oder mißlungenen Ablösung nennen, ist die Voraussetzung für jedes Gedeihen, das zur psychischen Erwachsenheit führt. Das Mißlingen deutet in die Richtung von Unabgelöstheit, eben Beziehungsunfähigkeit wie gestörte Psychosexualität etc. Kinder müssen sich zu einem späteren Zeitpunkt auch vom Vater ablösen. Im Gegensatz zur Mutterbindung ist die Beziehung zum Vater wegen ihrer geringen biologischen und nicht-körperlichen Anbindung immer mehr vom Willen und von der Anstrengung nach dem Kind geprägt.
Väterlichkeit ist deshalb mehr ein Produkt der Kultur, denn ein Ausdruck einer biologisch- körperlichen Ursprungsbindung. Die Mutter kann die Entfaltung der Väterlichkeit unterstützen, sie kann sie aber auch blockieren. Ebenso kann eine Gesellschaft Väterlichkeit fördern oder durch Vergesellschaftung väterlicher Funktionen deren Bedeutung zurückdrängen.
So wird heutzutage Sozialstaatlichkeit – Vater Staat – auch ambivalent gesehen, nämlich als kulturell bedingte Verhinderung der Väterlichkeitsentstehung. Die psychische Funktion von Väterlichkeit geht verloren. Der Staat übernimmt mehr oder weniger schlecht die Funktion der materiellen Versorgung. Väterlichkeit als Beziehungserfahrung ist hingegen nicht an den Staat delegierbar.1
1 Luigi Zoya: Das Verschwinden der Väter, Patmos Verlag, September 2002
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Der Mann hat sehr viel weniger biologisch fundierte Motive zur Väterlichkeit als die Frau sie zur Mütterlichkeit hat. Trotzdem ist Mütterlichkeit kein „Naturprodukt". Das Mütterliche der Frau steht gerade anfangs für das Verharren, für die Wunscherfüllung und für den Schutz vor äußeren An- und Überforderungen. Damit steht sie gegen das Wesen der Väterlichkeit des Mannes, der die Gefahr der Überforderung (zu schnell und deshalb verfrüht) verkörpert oder als solche phantasiert wird. Erfahrungsgemäß bildet das im Alltag den Hintergrund für regelmäßige „Meinungsverschiedenheiten" von Eltern. Die erste väterliche Forderung ist die nach dem allmählichen Wechsel des Kindes in seine männliche Welt. Wenn der Vater an das Kind herantritt, dann als der am nahesten stehende Außenstehende. Das Väterliche steht für die sich fortsetzende Abnabelung nach der Geburt, damit für das Normative, für das Gesetz als einem Äußerlichen, das auf die Geschichte des Gemeinwesens, einer Kultur, einer Stammeskultur oder einer Gesellschaft hinweist. Das gilt für den Sohn und die Tochter. Wie die Durchtrennung der Nabelschnur die Voraussetzung des eigenen körperlichen Lebens jenseits der Mutter ist, so ist die Übernahme des „Gesetzes" letztlich die Voraussetzung für ein späteres psychisches Leben alleine jenseits beider Eltern. Die kluge Frau und die weise Mutter erlebt die väterliche Welt ihres Mannes zugleich als eine Herausforderung und eine Entlastung. Gelingende Elterlichkeit besteht darin, daß beide sich sprachlich wie vorsprachlich darüber einigen können, wann das Verharrende der Mutter zu Gunsten der Außenorientierung des Vaters behutsam aufgegeben werden kann. Die Beschreibung des mütterlichen Verharrens und des väterlichen nach außen Drängenden ist eine funktionale Beschreibung einer lebensbefähigenden Beziehungsdynamik. Weder das nach außen Drängende, noch das innerliche Verharrende enthält normative Unter-scheidungen von „gut oder schlecht". Dies bezieht sich gegebenenfalls auf die gelingende bzw. mißlingende Praxis geteilter Elterlichkeit. Was heißt es für den Sohn, daß er sich von der Mutter abwenden muß, um zum Mann werden zu können? Und wofür steht Abwendung und wie kann sie gestaltet sein? Der Gang von der Mutter zum Vater ist in allen Kulturen in je besonderer Weise organisiert. Damit haben sich Psychoanalyse und Ethnologie besonders eingehend befaßt. Verbunden damit sind Namen wie Ralph Greenson, Jessica Benjamin oder Christiane Olivier, Theodor Reik und natürlich Sigmund Freuds Theorie zur Ödipalität als dem Beginn von Kulturfähigkeit, Individualität und Gewissen. Aber auch dort, wo keine explizite theoretische oder empirische Befassung damit stattfindet, ereignet sich der Übergang. Freud hat die Praxis theoretisch gefaßt, die aber auch ohne ihn als alltägliche Praxis überall und kulturabhängig stattfindet. Bevor ich mich den Einzelheiten dieses Übergangs zuwende, möchte ich anmerken, daß die Hinwendung des Sohnes von der Mutter zum Vater nichts prinzipiell Neues ist. Es ist für das Kind weder ein Abbruch, noch eine Entwertung der Mutter, sondern eine Akzentverschiebung. Für das Kind ist es eine Erweiterung und Bereicherung seines Lebensraumes. Der Vater ist von früh an beim Kind. Sogar während der Schwangerschaft. Die Frau erlebt die Schwangerschaft im Bewußtsein der Zeugung, eben eines konkreten Dritten, den sie repräsentiert. Ich bin schwanger heißt: es gibt einen Mann, der, so wie ich zur Mutter werde, zum Vater wird. Die werdende Mutter
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repräsentiert ihn durch ihr Fühlen und das Kind macht die Erfahrung, daß die Mutter die Welt nicht alleine beherrscht.1 Es gilt der Umkehrschluß, daß eine Mutter, die den Vater und das Männliche nicht repräsentieren will, beim Kinde von Anbeginn den Eindruck mütterlicher Allmacht hervorruft. Umgangssprachlich heißt das: Mutter kann alles und sie ist die Beste. Daß sie nur gut ist, reicht dann nicht mehr aus. Bekanntlicherweise stellt die Elterlichkeit eine besondere und kulturgeschichtlich beinahe neue Qualität in der Beziehung von Vater und Mutter dar. Beide zusammen können Elterlichkeit verkörpern, sie müssen allerdings diesen Zustand der reifen Beziehungsgemeinsamkeit gegenüber dem Sohn oder der Tochter nie erreichen. Ein Kind kann demnach beide Eltern haben, aber es muß nie die Erfahrung der Elterlichkeit mit ihnen machen. Die Gesellschaft wird sich dieser Bedeutung von Elterlichkeit im Augenblick erst so recht bewußt. So basiert das neue Familienrecht auf der Annahme, daß gerade auch geschiedene Erwachsene im Hinblick auf ihre Kinder gemeinsame Pflichten haben, weil sie eine gemeinsame Bedeutung für ihre Kinder haben. Das beschreibt die Bedeutung der Elterlichkeit als einer neuen Qualität jenseits von einer bloß addierten Mutter- und Vaterschaft, die zur elterlichen Versorgung zusammengerechnet wird. Wie wird dieser Ablösungsprozeß, diese Hinwendung von der Mutter zum Vater, von der Innenzur Außenwelt, von der Verschmelzung mit der Natürlichen zur Individualität in der Gesellschaft vollzogen? Nicht nur jede Kultur, sondern bereits jede soziale Schicht in unserer Gesellschaft unterscheidet sich durch Besonderheiten. Auch innerhalb ein und derselben Familie gibt es unterschiedliche Formen für einzelnen Kinder, wie sie den Übergang von der Mutter zum Vater vollziehen: langsam; hart, abrupt, verängstigend, Rache und Vergeltung fürchtend oder gemächlich und fröhlich etc. Wie immer sie vonstatten geht, sie ist für den Jungen in jeder Kultur auch mit großen Problemen verbunden. Auf die Probleme der Töchter wird hier nicht systematisch eingegangen. In der jüngeren Menschheitsgeschichte lassen sich zwei Modelle ausmachen, wie dieser Übergang organisiert ist: einmal als Ritual, das ich als archaisch bezeichne, und zum anderen als dynamischer Vorgang, den ich als modern bezeichne. Man kann diese Modelle auch mit den Begriffen von kalter und heißer Gesellschaft zusammenbringen, wie das Claude Levy-Strauss getan hat. Was charakterisiert aber nun die Gegensätze zwischen ritueller und dynamischer, bzw. kalten und heißen Gesellschaften? Ritual Was passiert im ritualisierten Übergang? Die Jungen werden in einem bestimmen Alter in einem naturhaft erscheinenden Ritual in die Gemeinschaft der Männer überführt. Sie werden aus dem Reich der Frauen und Mütter buchstäblich von einem zum anderen Tag entfernt. Sie werden in einem von allen als „legitim" erlebten Ritual entführt. Die Frauen trauern zwar um den Verlust ihrer Söhne, zugleich sind sie aber auch stolz auf deren Aufnahme in den Kreis der beschützenden 1 Das muß allerdings nicht so sein.
Siehe hierzu Amendt, Gerhard: Der Neue Klapperstorch. Soziale und psychische Folgen der Reproduktionsmedizin , Ikaru Verlag, 1988 und Amendt: Kultur, Kindswohl und homosexuelle Fortpflanzung,. In: LEVIATHAN, 2, 2002, S. 161-174.
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Männer.
Die Aufnahme des Sohnes ist deshalb auch eine Anerkennung für sie, wenngleich eine hoch ambivalente. Was ist das Besondere an diesem Übergang für die Herausbildung der Männlichkeit und die später einsetzende Väterlichkeit? Zuerst einmal ist dieser harsche Wechsel von der Welt der Mutter zu der Welt des Vaters ein Schock, wenn nicht sogar ein Trauma. Der Sohn hat bislang bei den Müttern gelebt. Jetzt muß er ihre Welt schlagartig verlassen. Das Paradiesische der Unmittelbarkeit, man könnte auch sagen: des MacDonaldprinzips, nicht warten zu müssen, sondern alles gleich zu bekommen, was man begehrt, dieses Prinzip geht dem Jungen verloren. Es ist das gute Prinzip der Kindheit, aber nicht das der Erwachsenenwelt von Männern und Frauen. Diese Welt kann aber nur bestehen, weil die Männer und Väter die Versorgung und Sicherheit dieser Welt garantieren, wenn auch nicht immer erfolgreich und ohne negative Auswirkungen für die Welt der Frauen. Jetzt befindet sich der Sohn plötzlich in einer anderen Welt: der Welt der Männer, die von den Bedrohungen der äußeren Welt geprägt, von den Kämpfen, den Streitereien und der Welt der feindlichen Natur beherrscht wird. Für den Sohn ist das ein Schock, den die äußere Kultur, eben die Welt der Männer, in ihm auslöst. Sein Vater verkörpert nicht nur dieses Prinzip, nein, er beherrscht es auch mehr oder weniger und er wird von Untergang bedroht, wenn er es nicht im Griff behält. Wenn er überwältigt wird, dann versagt er. Zu diesem Versagen gehört, daß die Frauen ihn verachten und fürchten, weil sie sich von ihm nicht mehr geschützt fühlen. Erfolg und Härte werden von den Frauen psychisch begehrt, weil davon ihre persönliche Sicherheit und die der Kinder abhängt. Das spielt sich alles in einem naturhaft erlebten Ritual im Dorf oder der Stammesgruppe ab. Das Ritual erscheint als das Unhinterfragbare, gegen das sich niemand zu wenden wagt, weil es Teil eines mythologischen Weltverständnisses ist. Als Quasi-Natur und Naturnotwendigkeit erscheint dort, was uns heute als planvolle Brutalität an Söhnen – angetan von ihren Vätern und den anderen Männern – gänzlich unannehmbar innerhalb unserer Kultur erscheint. Was geschieht mit der Beziehung des Sohnes zur Mutter, wenn er sie plötzlich durch den Vollzug des Rituals verliert und wie steht er zu seinem Vater nach diesem Ritual? Was in der Beziehung zur Mutter sich ereignet, kann man sich leicht ausmalen. Der Sohn wird desorientiert von der Gegensätzlichkeit der beiden Welten sein. Er wird von der Mutter enttäuscht sein, daß sie die Entfremdung zugelassen hat. Bislang hat er sie als äußerst autonom erlebt. Nach seiner Wahrnehmung läßt sie ihn fallen, was sie bis dahin noch nie getan hat. Nur wird es bei dieser Wahrnehmung nicht sein Bewenden haben. Der Sohn wird mit heftigen Gefühlen auf die Vertreibung aus dem Paradies reagieren. Er wird die Mutter dafür hassen, daß sie ihm die Vertreibung zufügt hat: die Verstoßung aus dem Reich der schnellen Erfüllungen in die Welt der männlichen Versagung, also der Fall aus dem Himmel der Instant-Kultur in den rüden Alltag der Versagung und damit dem Prinzip der verzögernden Befriedigung bis zum Ende aller Tage. Aber er wird auch mit Freude an die Zeiten mit der Mutter zurückdenken. Das Verhältnis zum Vater ist einigermaßen klar wie die Art von Männlichkeit, die von ihm nach dem vollzogenen Ritual erwartet wird. Die Männer bleiben unter sich und die Väterlichkeit beschränkt sich darauf, die Mutter zu versorgen und ihre Sicherheit wie die der Kinder zu garantieren. Der Vater und seine Genossen waren grausam, aber er wird sich nicht gegen ihn und die anderen Männer stellen, weil deren aggressiver Anteil einmal auf die älteren Männer verlagert war, die die Rituale ausübten. Zum anderen hat das Ganze den Charakter des Naturhaften. Dem
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Vater wird also keine böswillige Schuld zugeschrieben. Der Übergang hat für den Sohn auch etwas Reizvolles. Die Männer eröffnen ihm eine andere Welt und vor allem bieten sie die Möglichkeit, die Frauen zu beschützen und als sexuelle Wesen offen zu begehren. Der Vater steht unter dem Zwang des Gesetzes und damit auch das Begehren auf die Frauen. Sich von den mythisch interpretierten Ritualen zu distanzieren, ist so gut wie unmöglich. Änderungen können hier nur von außen kommen. Dem Sohn bleibt in solchen rituell dominierten Kulturen deshalb nichts anders übrig, als so zu werden wie der Vater und die anderen Männer bereits sind. Deshalb läßt der Vater den Sohn auch ungetrübt und vertrauensvoll bei der Mutter, bis die Zeit gekommen ist, ihn durch das Ritual der Mutter und der Gemeinschaft der Frauen grausam zu entreißen. Was ihm selber in diesem Alter schmerzlich geschah, wird er dem Sohn ebenfalls zufügen, denn so scheint der Weg zum Mannwerden allein möglich. In der Kultur des rituellen Übergangs wird die Mutter und somit das Weibliche nicht nur als strikt getrennte Sphäre vom Männlichen erlebt, sondern als etwas zu Entwertendes: die ihre Versprechen nicht halten! Die Enttäuschung wird auf dem Wege der Reaktionsbildung zur Entwertung der Frau und zur Feindseligkeit, die der Liebe keineswegs im Wege steht, sondern sie hoch ambivalent macht. Frauenabwertung ist ein notwendiger Teil einer kalten Kultur. Das dynamische Modell Das archaische Modell wird von uns als unwürdig erlebt, es widerspricht unseren Vorstellungen von gemeinsamer Elternschaft, von Kinderschutz und ebenso von Humanität. Wir gehen prinzipiell davon aus, daß jede plötzliche Trennung für Kinder traumatisierend wirken kann. Wir sind deshalb zumeist bestrebt, diese Quelle von Traumatisierung durch Sensibilisierung von Erwachsenen für die kindliche Ablösungsproblematik zu unterbinden. Wir haben aus den Folgen des ritualisierten Übergangs einige wichtige Lehren gezogen. Man kann es auch so sagen: So sehr eine klare Geschlechtsidentität wünschenswert ist, so sind wir nicht bereit, diese rigiden Formen von Männlichkeit und Väterlichkeit wie der damit korrespondierenden Form von rigider Weiblichkeit und Mütterlichkeit zu akzeptieren, weil sie unseren Vorstellungen von humaner und aufgeklärter Beziehungskultur nicht entsprechen. Deshalb ist der Übergang in modernen heißen Gesellschaften anders als in kalten Gesellschaften. So tritt an die Stelle einer plötzlichen durch das Ritual vermittelten Ablösung von der Mutter und Hinwendung zum Vater die beziehungsdynamische Alternative. Deren erste Besonderheit ist, daß der Übergang von der Mutter zum Vater zeitlich nicht terminiert ist, sondern sich praktisch über viele Jahre erstreckt. Wo Rigidität war, tritt Verflüssigung, es gibt daher andererseits auch die Gewißheiten des Rituals nicht mehr. Die Folge davon ist, daß alles direkt oder indirekt nur zwischen Eltern „ausgehandelt" werden muß. Das muß nicht zu Problemen führen, wenn die Eltern selber ihre Ablösung von sensiblen Eltern erfolgreich vollzogen haben. Entsprechend offen und anfällig für Konflikte sind die Elternkindbeziehungen und eben auch das Verhältnis des Sohnes zum Vater im dynamischen Modell. Eben das, was wir den Beziehungsalltag nennen. Nur sollte man sich darüber im klaren sein, daß die rigiden Formen des Übergangs nicht ganz verschwunden sind. Besonders der Alltag der Psychotherapie wie der Erziehungsstile zeigt, daß zwischen Eltern mit vorsprachlichen Mitteln heftig darüber gekämpft
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wird, wann der Sohn in eindeutiger Weise sich von der Mutter weg- und zum Vater hinbewegen soll. Wie ausgeprägt diese Bewegung ausfallen darf. Die Lösung von Unklarheiten enden dann nicht selten in machtvollen väterlichen Gesten, die der Sohnesanbindung an die Mütter ein ruppiges Ende bereiten und den Übergang aus dem Erleben des Sohnes einigermaßen schlagartig gestalten. Oder der Vater läßt alles schleifen und die Trennung findet nicht, verspätet oder zu spät statt. Das dynamische Modell ist voller Fußangeln und erlaubt es, den Sohn als Spielmaterial zu behandeln. Man kann sagen, Vater und Mutter kämpfen um die Position des Sohnes. Die Mutter denkt, er kann noch klein bleiben, der Vater denkt, daß er die Mutterbindung aufgeben soll, damit er zum Manne werden kann. Das ist das Material von Elternkonflikten, das sensibilisierten Männern durchaus gegenwärtig ist. Unter dem Ritual können solche Erwägungen nicht auftreten. Die Freiheit zu wählen, hat eben ihren Preis! Auch hier heißt die Frage: Reagiert der Sohn auch unter den dynamisierten Bedingungen den wahrhaft heiß zu nennenden Übergänge von der Mutter- zur Vaterwelt mit der gefürchteten Frauenentwertung? Die Antwort ist: ja, der Haß, der Zweifel an weiblicher Autonomiefähigkeit, die gut gemeinte und deshalb abschätzige Bevormundung und die offene Abwertung der Frau – alles Manifestationen der Abwertung – kann auch hier stattfinden. So sehr das heute den Vorstellungen gerade von beziehungssensibilisierten Männern von ihrer eigenen Männlichkeit im Wege stehen mag, so ist unsere Gesellschaft doch weitgehend von Frauenentwertung geprägt. Allerdings bietet sich hier prinzipiell die Möglichkeit der gelingenden Ablösung und deshalb ein Ende von Frauenentwertung. Beispielhaft für ganz offene Gefühle der Verachtung und Abschätzigkeit ist das angstbesetzte pubertäre abwertende Reden von Jungen zum Beispiel von Fotzen. Hier liegt ein überwältigendes Beispiel dafür vor, wie die Angst vor der Frau durch Entwertung ihres Genitale abgewehrt wird. Interessanterweise sagen die Jungen das, noch bevor sie Erfahrungen mit Frauen und deren Sexualität gemacht haben. Ihre verächtliche Rede ist deshalb keine resümierende Lebenserfahrung, sondern beruht auf reaktiv wirksamen Episoden ihrer Kindheit mit der Mutter. Es ist keine empirisch gesicherte Abschätzigkeit, die es bei einem Mann sein könnte, der von Frauen verächtlich behandelt wurde und der sich in hilfloser Weise an die Terminologie der Pubertät anlehnt. Zusammenfaßend läßt sich also sagen, daß wir zwischen Kulturen unterscheiden müssen, die schlagartig und brutal den Übergang organisieren und solchen, die das nach unseren Standards eher zivilisiert tun. Das Maß der Zivilisiertheit bestimmt den Grad von Traumatisierung, die dem Jungen bei diesem Wechsel erspart bleibt, ohne deshalb zur Abschaffung des Traumas des Übergangs zu führen. Man könnte sagen, es gibt den allmählichen Wechsel einerseits und den abrupten andererseits: Wandel durch Beziehung versus Wandel durch Ritual; einmal heiß ein andermal kalt. Das Brisante an beiden Konstellationen: Frauenentwertung Wie kommt es dazu, daß Männer Frauen entwerten? Da ich nicht von einer Naturhaftigkeit der Entwertung ausgehe, muß ich nach Erklärungen suchen. Eine Erklärung war, daß die Mütter in kalten Kulturen es zulassen, daß die Männer die Söhne aus dem alles erfüllenden Paradies mit der Mutter reißen. In milderer Form trifft das auch in heißen Kulturen zu, denn die erste Lebenszeit mit der Mutter ist „ideal" – gemessen an den später hinzutretenden Lebenseinschränkungen. In heißen Kulturen ist die Frauenentwertung jedoch nicht so zwingend wie in kalten Kulturen. Ursachen für mißliche Entwicklungen während der früher Kindheit von Jungen habe ich empirisch
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untersucht und veröffentlicht.1 In heißen Kulturen ist die Frauenentwertung grundsätzlich vermeidbar. Das ist das Ziel der Geschlechterversöhnung – soweit es den Anteil der Männer betrifft. (Den Anteil der Frauen kann ich hier nicht diskutieren.) Deshalb löst das unmittelbar den Streit darüber aus, wer Schuld an der Frauenentwertung trägt, denn wo Veränderung möglich ist, muß es Widrigkeiten geben, die beseitigt werden können. Damit wird die Frage nach der Frauenentwertung zu einer aufgeladenen moralischen Frage, die den Möglichkeiten der Veränderung durch Selbstreflexion schwerfällig im Wege steht. Wer die Frage der Verantwortung vermeiden und damit die Chance der Veränderung durch persönliche und kulturelle Selbstreflexion ausschließen möchte, der wird sich um den Opferstatus reißen. Angeblich sind Opfer immer die moralisch Überlegenen. Was auch eine Reihe von Männern dazu veranlaßt, tatsächlich mit den Frauen darum zu konkurrieren, wer das größere Opfer im Geschlechterarrangement verkörpern darf. Die Brisanz der „Ursachenforschung" will ich an einem Textauszug aus dem Jahre 2000 demonstrieren. ''Nicht Frauen haben Männern diese Anforderung von Stärke aufgehalst, sondern andere Männer, die ihre eigene Härte beweisen, indem sie ständig andere Männer zur Probe ihrer körperlichen und geistigen Stärke herausfordern" Das ist zum Teil richtig! ''Frauen leisten diesem Prozeß häufig stillschweigend Vorsprung. Manche Mütter verspotten ihre Söhne, wenn sie sie für feige halten. Manche Frauen stacheln ihre Männer dazu an, andere Männer anzugreifen, um sie zu verteidigen" Auch das ist zum Teil richtig! ''Im allgemeinen ist es jedoch so, daß zwar Frauen aus Babys Jungen machen, aber Männer aus Jungen Männer"2 Hier wird es nun problematisch, weil die Söhne mit dem Wechsel zum Vater ihre Geschichte mit der Mutter eben nicht aufgegeben haben. Das ist nämlich nicht möglich. Was man vergißt, hat man allenfalls verdrängt. Nach dem, was Germain Greer sagt, wechseln Söhne irgendwie von den Müttern zum Vater. Sie beginnen vermeintlicherweise ein völlig neues Leben mit ihm. Also eines, das scheinbar keine Vorgeschichte hat; eben eine gänzlich verdrängte. Das beschreibt jedoch das Ritual mit seinem knallharten altersterminierten Übergang; nur das gibt es heute nicht mehr. In den Gesellschaften des Rituals war es gerade das erzwungene Vergessen der Vorgeschichte – das rituell betriebene Ausradieren der Erinnerung an die Geschichte mit der Mutter – das zur unausweichlichen Frauenentwertung geführt hat. Aber wo in primitiven Gesellschaften die Unnachsichtigkeit des Rituals war, ist heute die Härte der schweren Verantwortung für einen langen Prozeß der Ablösung getreten: Wie habe ich als Vater dazu beigetragen und wie als Mutter, daß der Sohn zur Findung seiner sexuellen Identität und ihrer kulturellen Überformungen den Weg zu mir als Mann, von der Mutter wegführend, fand? Ein anderes Fluchtmodell der Eltern (als das zitierte) vor Verantwortung ist die Psychologisierung des Übergangs auf eine Jungenphantasie. Wie wird der Sohn damit fertig, daß die Mutter nicht so omnipotent ist, wie er sie bis jetzt sah und wie er sie gerne weiter für sich behalten möchte? Auch hier wird die ganz reale Beziehung zwischen Mutter und Sohn verleugnet und durch eine Soh-
1 Gerhard Amendt: Wie Mütter ihre Söhne sehen, 1994 und Vatersehnsucht, 1999 2 Germain Greer: Die ganze Frau, DTV 2000
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nesphantasie ersetzt. Demnach wäre dann die Frauenentwertung Ausdruck einer unerfüllbaren Sohnesphantasie. Der Sohn muß seine Phantasien an der Realität abstoßen, sonst kommt es zur Frauenentwertung. Das gibt es sogar regelmäßig. Allerdings wird hier die Entwertung der Frauen so gedacht, daß sie von der Beziehung zwischen dem Sohn und seiner Mutter und auch dem Vater abgelöst wird, so als hätte beides nichts miteinander zu tun. Das ist problematisch, weil beziehungslos. Wissen wir doch, daß Mütter im allgemeinen ihre Söhne höher schätzen als ihre Töchter und daß sich der Glanz im Auge der Mutter einstellt, wenn sie ihres Sohnes ansichtig wird, nicht jedoch, wenn sie ihrer Tochter ansichtig wird. Warum das so ist, kann hier nicht diskutiert werden. Nur weist allein diese Facette schon darauf hin, daß es um Beziehungen geht und nicht nur um die Phantasien des Sohnes über sein Mutter alleine, sondern um Phantasien, die in die Beziehung eingebettet und von ihr begrenzt oder angestachelt werden. Hier wird nun folgende These eingeführt: Weil der Sohn der Mutter die Vertreibung aus dem Paradies verübelt, nicht nur vorübergehend, sondern ein Leben lang, rächt er sich an den Frauen ganz allgemein. Als Kind kann der Sohn in diesem Alter die Mutter nicht mit den Gefühlen seines Zorns und seiner Enttäuschung heimsuchen; er will die Mutter ja nicht verlieren. Also schluckt er dieses Elend, um es später denjenigen Frauen aufzuhalsen, auf die er nicht in dem Maße angewiesen ist, wie er es als kleiner Junge auf seine Mutter war. Nicht nur meine These, sondern die Alltagserfahrung wie die klinische Erfahrung der Psychoanalyse gehen davon aus, daß der Sohn sich für den Hinauswurf aus dem mütterlichen Paradies mit lebenslanger Verachtung an allen anderen erwachsenen Frauen rächt. Demnach ist der Auszug aus dem Paradies die Quelle für die allgemeine Verachtung aller Männer für alle Frauen. Nicht immer allgegenwärtige Verachtung, aber eine Ambivalenz gegenüber Frauen, die irgendwann auch die Einfärbungen der Frauenverachtung und Abwertung erkennen läßt, mal mild, mal hart getönt! Neben einer eindeutigen bereits genannten hart getönten Form der Entwertung gibt es weniger eindeutige, nämlich mild getönte Formen, die die Geschlechterkultur jedoch stark bestimmen: Wer als Mann Frauen schützt, weil er Frauen nichts zutraut, sie für verletzlich hält oder überfordert oder von Gott und der Menschheit bedroht sieht, derjenige muß darauf hingewiesen werden, daß das Beschützerbedürfnis sehr wohl eine Form der wohltätig sich darstellenden Verachtung von Frauen ist. Für Frauen zu sorgen, stellvertretend und besserwissend, ist ein Zeichen der Frauenverachtung. Daß manche Frauen das gut finden, ja, daß das eine Kultur stark bestimmen kann, ändert nichts an dem darin enthaltenden Verächtlichem. Es weist darauf hin, daß solches Zusammengehen eine Form des kulturellen Geschlechterarrangements über lange Zeit sein kann. Als exemplarisches Beispiel kann man die Äußerungen des niedersächsischen Justizministers, Christian Pfeiffer, in der ZEIT heranziehen. Er beschützt Frauen vor den bösen Männern, die an allem Schuld seien, ob im Himmel oder auf Erden. Bezeichnenderweise tut er das gänzlich ungefragt. Er drückt gerade damit Verachtung für die Fähigkeiten und Autonomie von Frauen aus, sich Hilfe selbständig zu holen, in dem er ihnen einen hermetischen Opferstatus zuweist. Überall sind demnach frauenverachtende Männer am Werk, mit der heroischen Ausnahme von Christian Pfeiffer selber, der die Frauen zu lichter Zukunft führen möchte. Darin drückt sich
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Frauenverachtung aus, die mit der christlichen Überhöhung der Frau zu einer „Retterin" letztlich verschmolzen wird. 1 Fazit Der Junge kommt zum Vater nicht ohne „Gepäck". Dazu gehört gerade auch seine Beziehungsgeschichte mit der Mutter und die Haltung seines Vaters zur Lebenserweiterung des kleinen Sohnes. Der Sohn phantasiert zwar auch die Mutter als übermächtig und allesversprechend, aber neben dieser Phantasie gibt es feinstrukturierte Erfahrungen aus der gemeinsamen Beziehung mit ihr. Das zeigt auch meine Forschung: So macht ein großer Teil der Jungen die hoch problematische Erfahrung, die das Ausmaß eines kulturellen Musters hat, daß die Mutter sie nach ihrem inneren Bild von einem besseren Mann formen möchte Deshalb macht sie ihren Sohn zu einem Ersatz für den abgewerteten Ehemann oder Lebenspartner. Sie macht ihn zu ihrem geheimen Vertrauten. Ich habe das ausführlich unter dem Begriff des heimlichen Vertrauten (vergl. Amendt 1999) dargestellt. Der Sohn hat zu seiner Mutter das Verhältnis eines intimen Vertrauten, der sich in offener Konkurrenz, wenn nicht sogar offener Feindschaft und Verachtung zum eigenen Vater befindet. Zu diesem Problem des kleinen Jungen gehört wesentlich dazu, daß der Vater seine Ehefrau gewähren und seinen Sohn ohne Vater läßt. Beides, Elterlichkeit und Partnerschaft funktionieren in solchen Familien nicht. Hier zeigt sich, daß der Sohn die Mutter nicht nur allmächtig phantasiert, sondern daß sie auch übermächtig ist und über ihn verfügen kann und ihn in das Reich der Erwachsenen, der verbotenen Generation, hineinziehen kann. Vorausgesetzt, daß der Vater mit aktiver Passivität2 den Vorgang unterstützt. Das ist zuerst einmal eine Auszeichnung für den Sohn, früher oder später folgt dem aber immer der Absturz in die abgrundtiefe Enttäuschung. Der Sohn kann den Vater nämlich nicht ersetzen. Die Auswirkungen sind weitreichend. Für die allzu frühe Auszeichnung, ein „besserer Mann" als der Vater zu sein, rächen sich diese Söhne später an Frauen, indem sie diesen den rechten Weg zeigen, weil sie ihnen einen eigenen nicht zutrauen und folgerichtig dann blockieren. Das ist eine mächtige Grundlage für den späteren Frauenhaß, basierend auf Kindheitserfahrungen. Und sie findet sich in der späteren Väterlichkeitshaltung wieder. Der kleine Sohn erinnert den großen Sohn an die Schmerzlichkeit der enttäuschten Muttervorstellung und die Bedrohung durch die Überforderung, früh größer zu sein als es eigentlich sein sollte. Vermeidung der Sohneswelt ist die Folge. Hier haben wir einen mächtigen Grund dafür, warum manche Männer ihren Sohn erst anläßlich seiner Fußballfähigkeit so richtig zu entdecken wagen. Aber eben auch dafür, daß Väter jenseits der Fußballfähigkeit unerläßlich sind. Es war zu ahnen, daß kein Vater je überflüssig ist.
1 Christian Pfeiffer: Machos, Feinde der Menschheit. Männer sind gewalttätiger als Frauen. Werden sie als Schläger geboren oder dazu erzogen? In: ZEIT, 16/2001. Diese Idealisierung des Weiblichen hat bereits in der „Frankfurter Schule" in den 50er Jahren des letzten Jahrhundert eingesetzt.
2 Gerhard Amendt: Genderized Power. Männliche Passivität und weibliche Aktivität. In: texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik, Passagen Verlag, Wien, Heft 1, 2002 Prof. Dr. Gerhard Amendt ist Direktor des Instituts für Geschlechter- und Generationenforschung an der Universität Bremen.
Zitat Ende.

http://www.boell.de/downloads/gd/Vaterdoku.pdf

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