Vielleicht ödet es meine Leser an, wenn ich andauernd auf den Genen herumreite. Aber wenn wir nicht wissen, wie unser Körper funktioniert, wie sollen wir dann Stellung zu der Frage nehmen, ob unsere Geschlechtlichkeit eher genetisch oder doch eher kulturell bestimmt ist. Es geht um artgerechte Menschenhaltung. Kulturelle Prägungen kann man zumindest in früher Kindheit ändern. Genetische Vorgaben sind nur in engem Rahmen korrigierbar. Auch wenn man ein Kaltblüterpferd schon als Fohlen fürs Springreiten trainiert, so wird es nie die Meisterschaft erreichen, wie ein echtes Springpferd. Nun ist hier der Unterschied bezüglich des Körperbaus offensichtlich. Aber ist der Unterschied zwischen Mann und Frau nicht auch offensichtlich? Und wenn schon die sichtbaren Körper so verschieden sind, wie kommen wir zu der Annahme, dass dann nicht auch seelische Unterschiede vorhanden sind, Unterschiede, die es erforderlich machen, die Menschen in ihrer Eigenart unterschiedlich zu fördern und zu erziehen. Gaben zu suchen und zu entwickeln verspricht jedenfalls mehr Erfolg, als auf unvermeidlichen Schwächen herumzureiten.
Der folgende Artikel ist sehr lesenswert, weil er uns für die Entstehung des Phänotyps (der äußeren Erscheinung) aus den Genen viel Information liefert.
Fritz Boege
Sind es doch nicht die Gene?
Wir kommen zum Ausgangspunkt zurück: Sind es doch nicht die Gene? Ich versuche
ein Resümee: Wir haben etwa 30.000 Gene, aus denen etwa 300.000 verschiedene
Proteine hervorgehen. Diese finden sich in etwa 3.000 Multiproteinkomplexen zusammen,
und diese determinieren die Funktionen und den Phänotyp unserer Zellen.
Auf die Komplexität mehrzelliger Organismen will ich hier gar nicht erst eingehen. Es ist derzeit
noch nicht einmal möglich zu sagen, ob der Phänotyp einer einzelnen Zelle eher durch
das Genom determiniert wird, das die Grundzusammensetzung des Proteinmixes kontrolliert,
oder durch epigentische Faktoren, die auf jeder Umsetzungsstation modifizierend auf
das System einwirken. Deshalb muss die Ausgangsfrage unbeantwortet bleiben. Was ich
definitiv benennen kann, sind die Projektfelder, auf denen man dem Problem näher rücken
könnte:
1. Wir müssen das Interaktom ins Visier nehmen. Wir müssen Multiproteinkomplexe
identifizieren und ihre Funktionen aufklären. Hier sind wir in Düsseldorf auf einem
sehr guten Weg. Es gibt in verschiedenen Instituten eine hervorragende Analytik von
Proteom und Interaktom. Einige Mitglieder des ortsansässigen Sonderforschungsbereichs
612 haben ausgearbeitet, wie man die Ressourcen bündeln kann, um diesen
Forschungsansatz durchzuexerzieren, und zwar an einem vergleichsweise unkomplizierten
Organ, das letztendlich nur aus einer einzigen Zellsorte besteht und klar messbare
Funktionen hat: dem Herzen.
2. Wir müssen herausfinden, wie im Genom die Simultantranskription multipler Gene
koordiniert und der Proteinmix kontrolliert wird. Hier handelt es sich in erster Linie
darum, die Genregulation in den Kontext von Chromatinstruktur und Zellkernarchitektur
einzuordnen, LCRs und genetische Funktionsgruppen zu identifizieren und eine
Brücke zwischen Zellfunktionen und der Aktivität von Chromatindomänen herzustellen.
Am Ende werden diese beiden Ansätze zusammenlaufen, nämlich dann, wenn man Tiermodelle
herstellt, in denen nicht einzelne Gene manipuliert sind, sondern die regulatorischen
Elemente ganzer Chromatindomänen. Das ist in groben Zügen meine Zielsetzung
für die nächsten 20 Jahre.
Die Sequenzierung des menschlichen Genoms hat mehr Fragen aufgeworfen als Antworten
gegeben. Sie hat Unklarheit gestiftet, wo wir es uns bereits in bequemem Halbwissen gemütlich gemacht hatten. Daher ist es verständlich, dass einige nun die Gelegenheit
ergreifen wollen, um das Konzept der genetischen Determination ganz und gar zu verwerfen.
Denn seien wir einmal ehrlich: So richtig glücklich waren wir noch nie mit diesem
Konzept ñ wir, die wir uns als freie, rein geistig bestimmte Individuen verstehen.
Aber es scheint mir für eine derartig grundlegende Weichenstellung noch etwas zu früh
zu sein. Es ist ein typisches Kennzeichen empirischer Forschung, dass immer mehr rätselhafte
Einzelbeobachtungen zusammenkommen und die Sache über einen langen Zeitraum
immer verwirrender wird, bis dann endlich ein Moment kommt, in dem aus dem
Chaos Klarheit heraustritt. Ein solcher Moment der Klarheit war die Entdeckung der DNS-Doppelhelix
durch Watson und Crick oder die Formulierung der Zellularpathologie durch
Virchow. In der Frage der genetischen Determination sind wir von einem solchen Durchbruch
noch sehr weit entfernt. Aber wir werden nicht lockerlassen und ich verspreche:
Eines Tages werden wir das Genom lesen können, und aus der großen Partitur wird uns
der zu Grunde liegende Schöpfungsgedanke so klar entgegentreten, als wär's ein Stück
von Bach.
Literatur
G÷DECKE, A., U. FL÷GEL, K. ZANGER, Z. DING, J. HIRCHENHAIN, U. K. M. DECKING und
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GAVIN, A. C., M. B÷SCHE, R. KRAUSE, P. GRANDI, M. MARZIOCH, A. BAUER, J. SCHULTZ,
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(2002), 141-147.
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