Freitag, 5. Januar 2007

Die Befreiung des Geistes aus der Flasche


Die Befreiung des Geistes aus der Flasche
Charles Lumsden 01.07.1998

Die Evolutionsbiologie und die Erklärung der menschlichen Kreativität II

Genau-so-Geschichten sind leider der größte Teil dessen, was in der Evolutionspsychologie als erklärender Diskurs gilt, wozu auch deren Anwendung auf die menschliche Kreativität gehört. Obwohl sie an sich oft interessant sind, sollte man sie am besten als Bestandteile einer vorwissenschaftlichen Methode betrachten, die mit komplexen historischen Daten zurechtkommen will.
Warum es nicht genau so ist
Derartige Geschichten beginnen mit der Übernahme des Anpassungsprogramms, wie es Gould und Lewontin (1979) verstanden haben sollen, indem sie sich vor allem das Postulat einverleiben, daß es bei Organismen beobachtbare Eigenschaften deswegen dort gibt, weil sie die Ausbreitung von Kopien der mit ihnen verbundenen Gene fördern. Eigenschaften sind, mit anderen Worten, adaptiv. Die natürliche Selektion, der primäre Motor des evolutionären Wandels, trennt sie von konkurrierenden Optionen ab. Um die spezifischen Strukturen, Funktionen oder Verhaltensweisen zu verstehen, akzeptieren wir, daß sie Anpassungsleistungen sind, und versuchen zu erraten, was ihnen eigen ist, um der Verbreitung der Gene dienen zu können.
Aber müssen sie Anpassungen sein? Natürlich nicht. Unser Blick auf die Mikro- und Makroevolution sowie die Physik der Ontogenese hat deutlich gemacht, daß eine beliebige Zahl von "Kräften" am Werk ist, um die biologische Vielfalt und das Aussehen des Organismus zu formen. Die natürliche Selektion ist nur eine von diesen Kräften. Ihre Vorherrschaft muß für jeden Fall sorgfältig mit Daten bewertet werden, die die vergleichbaren Rollen aller Elemente des Evolutionsprozesses beleuchten. Wenn man dies nicht macht, riskiert man, Trugschlüsse zu ziehen und ungerechtfertigte Erklärungen zu geben. Das sowie zwei weitere Eigenschaften der Gerade-so-Geschichten, die wir gleich behandeln, sind der Grund, warum der Anpassungsdiskurs eine solche Debatte auch unter Evolutionstheoretikern auslösen kann.
Ein verbreiteter Zusatz zu den Gerade-so-Geschichten ist der extreme genetische Reduktionismus, der auf der falschen Formel "Gen --> Eigenschaft" beruht (man vergleiche damit die zuvor besprochene Formel: "Veränderung der Gene --> möglicherweise Veränderung der Eigenschaft"). Individuen duplizieren sich nicht selbst im Reproduktionsprozeß. Sie replizieren ihre Gene und schleudern diese dann in die Zukunft. Wenn ein Gen der Bauplan für eine Eigenschaft wäre, dann wäre es leicht, Individuen als passive, von den Genen programmierte Behälter für die Replikation von Polynukleotiden darszustellen. Alle Eigenschaften wären dann nichts anderes sein als Mittel, die der expansiven Replikation des Erbmaterials dienen. Wie wir weiter oben sahen, ist die unterschiedliche Replikation von Genvarianten eine universelle Eigenschaft der biologischen Evolution, aber nicht deswegen, weil ein Gen mit einer Eigenschaft gleichzusetzen ist oder weil alle Gene zusammen einen Bauplan bilden, dem der Organismus bereits wie ein Homunculus innewohnt.
Wie die Gleichnisse des Neuen Testaments belehren und unterhalten Gerade-so-Geschichten. Wir werden später einige kennenlernen. Als wissenschaftliche Gegenstände sollte man sie, wie ich lieber vorschlage, als Produkt - und nicht als Meisterwerk - einer jungen Wissenschaften sehen, die dabei ist zu entdecken, wie man überprüfbare Voraussagen über die biologische Geschichte macht. In den Händen der gegenwärtigen Meister dieses Genres, wie beispielsweise Dawkins (1976) oder Wilson (1978) lenken sie die Aufmerksamkeit auf zentrale Themen der Anpassung und lösen Dikussionen aus. Aber sie sind kein Ersatz für falsifizierbare Hypothesen, d.h. für Vermutungen, die nicht nur das Bekannte rationalisieren, sondern die es wagen, Voraussagen zu machen, und dann zum allgemeinen Nutzen zerschmettert werden.

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