Donnerstag, 18. Januar 2007

Der Prügelknabe

DIE ZEIT

Der Prügelknabe

Nicht Mädchen, sondern Jungen werden in Schule und Elternhaus benachteiligt. Doch die Erkenntnis setzt sich bei Pädagogen nur zögernd durch

Sabine Etzold

Die Klasse ist außer Rand und Band. Eine Gruppe johlender Schüler hat einen Kreis gebildet, in deren Mitte zwei Jungen aufeinander einprügeln. Das geht schon ein paar Minuten so, und der Kleinere zeigt Schwächen. Er kassiert ohne Unterbrechung kräftige Schläge auf den Rücken, versucht, seinem überlegenen Gegner zu entkommen. Aber es gibt kein Entrinnen aus der Arena, und der Lehrer schaut zu - bis ein Gong der Klopperei ein Ende macht. Und siehe da: Die Gegner schütteln sich die Hand und reihen sich friedlich in den Kreis der anderen ein. Jetzt wird der Kampf besprochen. War er fair? Wurden Regeln eingehalten? Warum hat der Sieger nicht aufgehört, als klar war, dass er gewonnen hatte? Der "Ringkampf nach Regeln" gehört zu einem Projekt, das der Tübinger Sozialpädagoge Reinhard Winter in Baden-Württemberg organisiert. Die Jungen sollen erfahren, wie es ist, Opfer zu sein und Angst vor anderen zu haben. Gleichzeitig lernen sie, so Winter, "die lust- und machtvollen Seiten der Gewalt" kennen.

Jungen in der Schule das Prügeln beibringen, das klingt genauso befremdlich wie das langfristige Ziel des Projektes: Jungen in der Schule zu ihrem Recht kommen zu lassen. Bisher nämlich schien es eine pädagogische Gewissheit, dass die Schule Mädchen benachteiligt. Das vernachlässigte "katholische Arbeitermädchen vom Land" musste jahrzehntelang als Symbolfigur für die Ungerechtigkeit des deutschen Bildungssystems herhalten. Feministisch inspirierten Reformpädagogen gilt die Mädchenförderung bis heute als besonderes Anliegen.

Doch die Förderung richtet sich an die falsche Adresse. Zahlen und Fakten belegen: Mädchen machen heute häufiger Abitur als Jungen. Sie bleiben seltener sitzen und haben im Schnitt bessere Noten. 55 Prozent der Hauptschüler sind Jungen, in den Sonderschulen verfügen sie sogar über eine Zweidrittelmehrheit.
Das Schulsystem benachteiligt die Jungen.

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