Eine Analyse autobiographischer Geschichten über Sexualität und Beziehung1
Elina Haavio-Mannila, Osmo Kontula und Anna Rotkirc
Übersicht
Basis dieser empirischen Untersuchung sind 166 Autobiographien, die finnische Männer und Frauen der Jahrgänge 1917 bis 1973 über ihr Sexual- und Beziehungsleben geschrieben haben.
Die Autoren destillieren fünf Typen sexueller Lebensstile aus ihrem Material:
- zufriedene Monogamie,
- devitalisierte Beziehungen,
- serielle Beziehungen,
- Parallelbeziehungen und
- Partnersuche.
Die Häufigkeit dieser Lebensstile wird für drei Generationen verglichen, die die Autoren als
- Generation der sexuellen Restriktivität (Jahrgänge 1917-1936),
- der sexuellen Revolution (1937-1956) und
- der „Gender Equalization" (1957-1973)
kennzeichnen.
Es zeigt sich, dass dauerhafte Monogamie auf dem Rückzug ist und serielle Monogamie zum vorherrschenden Lebensstil wird.
Sexuell und/oder emotional devitalisierte Beziehungen sind vor allem in den älteren Generationen verbreitet; sie führen hier häufig zu Parallelbeziehungen, während sie in der jüngeren Generation eher rasch mit einer Trennung enden.
Die Geschlechtsunterschiede in den sexuellen Lebensstilen haben sich in der jüngsten Generation abgeschliffen; so sind Parallelbeziehungen bei den jungen Männern nicht mehr häufiger als bei den jungen Frauen.
Die finnischen Ergebnisse werden mit denen kleinerer Autobiographiestudien in St. Petersburg und Estland verglichen. Es finden sich nur geringe Unterschiede in den Lebensstilen dieser drei baltischen Regionen
Schlüsselwörter Beziehungsbiographien; empirische Sexualforschung; sexuelle Lebensstile; sozialer Wandel der Sexualität
Aus dem Englischen von Arne Dekker, Hamburg
Z Sexualforsch 2003; 16; 1-17
Georg Thieme Verlag Stuttgart • New York ISSN 0932-811
In diesem Artikel beschreiben wir Kontinuität und Wandel sexueller Lebensstile von drei Generationen in Finnland. Wir analysieren Veränderungen des sexuellen Verhaltens anhand von Autobiographien, in denen Menschen ihre Erfahrungen und Einschätzungen mit ihren eigenen Worten beschreiben. Außerdem vergleichen wir die Verbreitung verschiedener sexueller Lebensstile in Finnland mit jener in Estland und in St. Petersburg.
Finnland wird hier als ein Beispiel für eine nordwesteuropäische Sexualkultur vorgestellt. Vergleichende Studien zeigen, dass die finnische Bevölkerung einen Großteil der in Nordwesteuropa verbreiteten Werte und Gewohnheiten teilt, auch im Bereich der Sexualität.
Die finnische Gesetzgebung garantiert die sexuelle Selbstbestimmung, solange hierdurch nicht die Rechte anderer verletzt werden. Finnische Bürger sind sexuellen Belangen gegenüber gemeinhin aufgeschlossen und glauben, dass eine befriedigende Sexualität zum allgemeinen Wohlbefinden beiträgt. Eine egalitäre Geschlechter-Ideologie wird allgemein akzeptiert. Gleichberechtigung hat in Finnland eine längere Tradition als in fast allen anderen Ländern dieser Welt. Dies gilt besonders hinsichtlich der Bürgerrechte von Frauen und der Partizipation von Frauen am Arbeitsmarkt. Hinzu kommt, dass in Finnland weder religiöse noch politische Kräfte einen restriktiven Einfluss auf Sexu-alaufklärung und Emanzipationsbestrebungen von Frauen ausüben. Finnen erhalten auf Wunsch eine kostenlose Beratung zu Fragen der Empfängnisverhütung und Familienplanung in kommunalen Gesundheitszentren. Die Raten von ungewollten Schwangerschaften und von Abtreibungen gehören zu den weltweit niedrigsten. Frühere Untersuchungen zeigen, dass das Sexualleben in Finnland während der letzten Jahrzehnte allgemein vielfältiger, gleichberechtigter und befriedigender geworden ist (Kontula und Haa-vio-Mannila 1995a; Haavio-Mannila und Kontula 2003).
Die Daten: Autobiographien
Im Jahr 1992 sammelten wir 166 Autobiographien über Liebe und Sexualität. Sie wurden von erwachsenen finnischen Männern und Frauen geschrieben, die sich an einem Geschichten-Wettbewerb einer Zeitschrift zum Thema „Sexualität als integraler Teil des Lebens" beteiligten (Kontula und Haavio-Mannila 1995b, 1997; Haavio-Mannila und Roos 1999; Haavio-Mannila et al. 2002). Die Autobiographien waren zwischen einer Seite und 60 Seiten (im Durchschnitt 20 Seiten) lang. Die Verfasser orientierten sich in den Schilderungen ihrer sexuellen Lebensgeschichten in der Regel eng an den in der Ausschreibung des Wettbewerbs formulierten Fragen. Dabei wählten die Autoren offenkundig vor allem solche Erlebnisse aus, die ihnen in den unterschiedlichen Phasen ihres Lebensverlaufs bedeutsam erschienen. Wie nicht anders zu erwarten, wurde schmerzhaften und problematischen Ereignissen oftmals größere Aufmerksamkeit gewidmet als glücklichen und stabilen (jedoch ereignislosen) Lebensphasen.
Der reiche Erfahrungsschatz, der in den Autobiographien zum Ausdruck kommt, erlaubt einen Blick darauf, wie sich Sexualität innerhalb der Lebensphasen.
Sexualforschung - 088 - 19.6.03/druckhaus köthen
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