Freitag, 5. Januar 2007

Beziehungsweise

Die schweizer Fachstelle für Aids- und Sexualfragen http://www.hivnet.ch/ahsga/ hat eine CD-ROM herausgegeben, die das Verhältnis der Geschlechter umfassend behandelt.
Sie finden Informationen zu dieser CD unter der Rubrik Produkte (anklicken!).


Teile dieser CD sind auch online verfügbar http://www.hivnet.ch/ahsga/bwonline/html/bw_1.htm


Hier ein kleiner Auszug:


1.8. MÄNNLICHE UND WEIBLICHE SEXUALITÄT

Im engeren Sinn ist die sexuelle Anziehung zwischen den Geschlechtern in der Tierwelt und bei den Menschen die Kraft, welche die Fortpflanzung und somit die Erhaltung der Art sichert.
Sexuelle Anziehung soll dazu führen, dass sich "Männlein" und "Weiblein" paaren und Geschlechtsverkehr stattfindet.
Verschiedene biologische Faktoren, welche dieses Ziel unterstützen, können auch beim Menschen nachgewiesen werden.
Frauen haben - wie Studien nachweisen - während ihrer fruchtbarsten Tage eine erhöhte Neigung, sich auf eine sexuelle Begegnung einzulassen. Nach seriösen Schätzungen stammt so jedes fünfte Kind nicht von seinem gesetzlichen Vater. Die sexuelle Anziehung hat also eindeutig eine wichtige biologische Funktion. Bestimmte hormonelle Zyklen unterstützen das Ziel der Fortpflanzung. Doch was ist eigentlich Sexualität und sexuelle Anziehung?

Sexualität und Erotik entstehen aus dem Magnetismus der gegenseitigen sexuellen Anziehung. Sie entsteht immer dann, wenn ein magnetisches Feld zwischen einem Plus- und einem Minus-Pol fliesst. Verschiedene Lehren des Ostens anerkennen die Kräfte des Himmels und der Erde als die zwei fundamentalen Prinzipien, die alles durchdringen und deshalb auch in der erotischen Anziehung wirksam sind. Das im Westen bekannteste Konzept ist das aus dem chinesischen Taoismus stammende Konzept von Yin und Yang, die als sich ablösende, ineinanderfliessende Kräfte dargestellt werden. In der einen Kraft ist die andere als Keim enthalten und so bleibt die Lebensenergie andauernd im Fluss.Vgl. Kapitel 1.1.1.
Nach dieser Vorstellung bestimmt die Kraft des Himmels (Yang) die Struktur des männlichen Geschlechtsorgans und die Kraft der Erde (Yin) die Form des weiblichen Geschlechtsorgans. Dementsprechend ist die Potenz des Mannes eine nach aussen dringende, gebende und manifestierende Kraft, die sich in der Erektion des Penis sichtbar ausdrückt. Die Potenz der Frau hingegen ist eine empfangende und aufnehmende Anziehungskraft, die sich in der aufnahmebereiten Vagina ausdrückt. Die männliche Kraft fliesst - körperlich gesehen - von oben nach unten, die weibliche Kraft von unten nach oben. Beide Kräfte sind absolut gleichwertig.
Genauso wie bereits die Geschlechtsteile die polare Kraft des Weiblichen (aufnehmende Kraft) und des Männlichen (abgebende Kraft) zeigen, so zeigen auch die männlichen und weiblichen Körper eine Ergänzung. Während der weibliche Körper zu schön gerundeten Formen neigt, sind beim kräftigen männlichen Körper eckigere Formen vorherrschend. Diese sichtbaren Merkmale versinnbildlichen die Unterschiede zwischen der weiblichen und männlichen Energie. Beide Formen von Potenz sind jedoch völlig gleichwertig.

Diese prinzipielle Anschauung einer zwischen einem Plus- und Minus-Pol fliessenden Energie wirkt unabhängig von der sexuellen Orientierung bei jeder erotischen Anziehung. Auch zwischen zwei Männern oder zwischen zwei Frauen kommt diese Polarität zum Ausdruck, indem sich die männlichen Anteile einer Person von den weiblichen Anteilen einer anderen Person angezogen fühlen und umgekehrt. Dies ist deshalb möglich, weil jeder Mensch eine bestimmte Komposition von Yin (Minus) und Yang (Plus) darstellt.
Die Bandbreite dieser Zusammensetzung ist gross. Damit ist es durchaus möglich, dass bestimmte Männer mehr weibliche Anteile und bestimmte Frauen mehr männliche Anteile in sich tragen. In dieser Anschauung hat das Gleichgewicht zwischen den beiden grundlegenden Kräften eine grosse Bedeutung. Jede Kraft sollte von beiden Geschlechtern gewürdigt und integriert werden. Diese Anschauung taucht auch im Westen in verschiedenen psychologischen Konzepten auf, beispielsweise in der bereits vorgestellten Anima-Animus Polarität des Schweizer Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung.
So zeigen sich menschliche Wesen zwar körperlich (meistens) klar polarisiert als Frauen oder Männer, doch psychisch und geistig bestehen sie sowohl aus weiblichen wie auch aus männlichen Kräften. Dank dieser Tatsache können sich Frauen und Männer überhaupt gegenseitig aufeinander einstellen, sich einfühlen und einander verstehen. Wenn Geschlecht die absolute Trennung zwischen Frau und Mann bedeuten würde, wäre dies nicht möglich. So sind auch die Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Sexualität nicht so tiefgreifend wie manchmal behauptet wird, sie ergänzen einander vielmehr zu einem wohltuenden Ganzen.

In dieser Anschauung ist Sexualität wesentlich mehr als ein blosser Trieb mit biologischer Funktion. In der sexuellen und erotischen Anziehung drückt sich bei dieser Sichtweise das Leben in umfassender Form auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene aus. Erst wenn alle Ebenen des menschlichen Seins beteiligt sind, kann die sexuelle Erfahrung zu einem erfüllten Erlebnis werden. Die westliche Kultur entwickelte mit ihrer Vorstellung von Sexualität als bloss körperlicher Vereinigung oder als lediglich triebhafter Abreaktion und Entspannung eine sehr verengte Sichtweise. Diese Ansicht neigt dann auch zu einer ebenso eingeengten Anschauung von Sexualität als Penetration. Im französischen "faire l'amour" schimmert hingegen eine umfassendere Sichtweise durch.
Für jede Frau und jeden Mann bedeutet die allmähliche Befreiung von solchen Klischees, die nicht zuletzt durch die Massenmedien fortlaufend reproduziert werden, einen Zuwachs an sexueller Zufriedenheit und erotischer Freiheit. Sexuelle und erotische Anziehung beinhaltet in erster Linie den Wunsch nach Körperkontakt, nach Nähe und Intimität, nach körperlichem Ausdruck von Sympathie. In welcher Form und wie intim dieser Ausdruck in der jeweiligen Situation geschehen soll, kann jeder Mensch nur in der sorgfältigen Zuwendung gegenüber seinen eigenen erotischen und sexuellen Bedürfnissen erkennen. Dabei ist auch mit dem schlimmsten aller Mythen aufzuräumen, menschliche Sexualität sei durch einen natürlichen Ablauf gewissermassen instinktgesteuert. Es gibt keinen eingefahrenen Ablauf mit den gegeben drei Phasen "Vorspiel-Geschlechtsverkehr-Nachspiel".
Erfüllte Sexualität entsteht nur dann, wenn sich zwei Liebende so ehrlich wie möglich ihre gegenseitigen Bedürfnisse und Vorlieben, aber auch ihre Ängste, Verletztheiten und Abneigungen mitteilen können. Guter Sex ist von Anfang bis Ende ein Lernprozess.
Das verhängnisvollste Vorurteil unserer Kultur ist die Idee, dass Sex von A bis Z etwas Natürliches sei. Dabei sind die sexuellen Vorlieben, Bedürfnisse und Empfindungen jedes Menschen derart individuell und biografisch geprägt, dass nur ein gemeinsamer Lernprozess der PartnerInnen zu einem erfüllten Liebesleben führen kann.
Bild "Der Kuss", Auguste Rodin, 1886, Musée Rodin, Paris
Moderne Forscher und erfahrene Sexualtherapeuten setzen sich für eine umfassende Sichtweise der Sexualität ein. So schreibt der amerikanische Psychologe und Leiter des "Human Sexuality Program"
Bernie Zilbergeld:
Bei gutem Sex geht es nicht darum, ein bestimmtes Organ zu benützen, einem bestimmten Muster zu folgen oder einer bestimmten Aktivität nachzugehen. Vielmehr geht es um die Gefühle, die entstehen - ganz gleich, was auch immer Sie oder Ihre Partnerin tun. Die beste Definition, die ich kenne, geht auf einen Gedanken der Sexualtherapeutin Carol Ellison zurück: Sie haben guten Sex, wenn sie sich mit sich selbst, mit ihrem Partner und bei dem, was sie machen, wohlfühlen. [...] Das heisst, es ist eigentlich gar nicht nötig, dass dabei Geschlechtsverkehr oder irgendein anderer Akt oder eine bestimmte Abfolge von Praktiken stattzufinden haben, es braucht sogar nicht einmal zu einem Orgasmus zu kommen und die Aktivität kann ohne zeitliche Vorgabe von ein paar Sekunden bis zu mehren Stunden dauern. (Zilbergeld, 1996, S. 71)
Auf die Sexualität wirken all die Klischees, Leistungsnormen und Vorstellungen über bestimmte Abläufe nicht befreiend. All die Tipps und Hinweise "Wie-es-zu-sein-hat" erzeugen meist nur Druck und unrealistische Idealvorstellungen. Wirklich befriedigender Sex kann nur dann entstehen, wenn die beteiligten Partner oder Partnerinnen sorgfältig und selbstbewusst auf ihre eigenen erotischen und sexuellen Bedürfnisse achten und dabei auch ihre Grenzen anerkennen. In einer entspannten, offenen, warmen, gefühlsvollen und spielerischen Atmosphäre ohne Leistungsdruck wird Sex zu einem wohltuenden und beglückenden Erlebnis, bei dem die körperliche Nähe und menschliche Intimität sich nährend auswirken.

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