Freitag, 5. Januar 2007

Der kreative Geist und der Niedergang des Schöpfergottes


Darwins Schatten: Der kreative Geist und der Niedergang des Schöpfergottes
Charles Lumsden 16.04.1998

Die Evolutionsbiologie und die Erklärung der menschlichen Kreativität Teil I

Gibt es bei der menschlichen Art einen Schöpfungstrieb, der uns von all den anderen Lebewesen, mit denen wir uns auf der Erde befinden, radikal unterscheidet? Oder verbindet uns unsere Lust am großen und kleinen Neuen eng mit der von anderen Arten, so daß die menschliche Kreativität in Wirklichkeit nur die Variation eines Themas ist, das sich in der Geschichte des Lebens unzählige Male wiederholt hat? Können wir uns selbst so verstehen, daß wir einen "regionalen Dialekt" für Innovationen zum Ausdruck bringen, der natürlich auf seine Weise einzigartig und besonders ist, aber nichtsdestoweniger universale Evolutionsstrategien neu gestaltet?
Charles Lumsden lehrt am Institute of Medical Science an der University of Toronto. Bekannt wurde er durch seine Arbeiten über die Soziobiologie, die er teilweise zusammen mit Edward O. Wilson verfaßt hat.
Der Darwinismus, der eine Erbfolge mit Variationen in den Vordergrund stellt, scheint zu behaupten, daß wir sowohl besonders als auch gewöhnlich sind. Ist das ein Sachverhalt der menschlichen Evolution oder zeugt das von der Unfähigkeit der Evolutionstheorie, die Menschlichkeit zu erklären? Besonders durch unseren Platz auf einem von Lebensformen überquellenden Planeten, der in einem Sternennebel einer schönen, aber gewöhnlichen spiralförmigen Galaxie verschwindet, scheint der Darwinismus dennoch auf prometheische Weise an die alte Psychologie und Philosophie heranzureichen, um unser Verhalten, unseren Geist und unsere sozialen Formen in einer Sprache zu erklären, die einst auf Diskussionen über feuchte Körner oder Pilze beschränkt war, wie sie bei Ameisen wachsen. Was ist eigentlich geschehen?
Man kann dafür die kognitive Revolution verantwortlich machen. In den wilden Tagen des populären Behaviorismus war die Evolutionstheorie in den Spuren Darwins größtenteils mit Spekulationen über die Ursprünge der Instinkte und Triebe beschäftigt. Das war die Spitze des Keils, den die Evolutionsbiologen in das Bewußtsein getrieben hatten, als der Behaviorismus wieder die Kognitionswissenschaft und die Geheimnisse des Bewußtseins, der Intention, der Selbstwahrnehmung und der menschlichen Erfindungsgabe aus den Grenzgebieten der wissenschaftlichen Respektabilität ins Zentrum der Wissenschaft vom Menschen geholt hat. Im Kern stand dabei natürlich die Entspannung zwischen den Hirnforschern und der Wissenschaft des Geistes.
Abb. 1 Die kognitive Revolution - Können wir uns in der Hardware wiederfinden? Zeichnung von Nick Woolridge
Die Mauer ist gefallen. Zunehmend wird die eigentliche Erforschung der Menschheit als das gemeinsame Merkmal beider Parteien gesehen, sofern dies überhaupt noch umstritten ist. Churchlands Buch "The Engine of Reason" (1995) ist als eine der vielen epistemologischen Entspannungsbemühungen ein gutes Beispiel. Wie wir sehen werden, verkümmert die biologische Evolution ohne organische Materie, die von vererbbarer Variationen erfüllt ist, aufgrund derer ihre scheinbare Magie funktioniert. Aber sobald die Verbindung zwischen Gehirn und Geist einmal einen Anhaltspunkt gefunden hat, folgte die evolutionäre Exegese schnell und hat durch eine erstaunliche Menge an anthropologischer, ethologischer, paläontologischer und genetischer Feldarbeit bei Populationen von Menschen und Tieren einen Auftrieb erfahren.
Was ist Kreativität? Merkmale der Kreativität ähneln evolutionär entstandenen Organismen auf unheimliche Weise und zeigen, zusammen mit einer schwachen Familienähnlichkeit, den einzigartigen Abdruck ihrer Vorgänger: Kreativität ist eine Fähigkeit, sich etwas Neues auszudenken, das andere Menschen als bedeutsam erachten. Natürlich kann man genauer sein, und um mit meiner früheren Verwendung des Begriffs (beginnend mit Findlay & Lumsden, 1988) konsistent zu bleiben, verstehe ich unter Kreativität jene mentalen Ereignisse, mit denen ein Organismus intentional (Dennett, 1996) über seine früheren Erfahrungen hinausgeht und zu einem neuartigen und angemessenen Ergebnis kommt. Kreativität soll sich auf diese verführerische Konstellation von persönlichen und intellektuellen Eigenschaften beziehen, die sich bei Menschen erkennen lassen, wenn sie sich unter der Voraussetzung eines bestimmtes Grades an Freiheit eine signifikante Zeit über mit kreativen kreative Prozessen beschäftigen. Die von kreativen Organismen im Prinzip erreichbaren Ergebnisse können hinsichtlich ihrer Neuheit und Bedeutung gewaltig variieren. Die Gebrüder Wright hätten beispielsweise Zuhause bleiben und bessere Fahrräder bauen können, anstatt ihre wichtigen Reisen mit all den damit zusammenhängenden Schwierigkeiten und Entbehrungen zu Kitty Hawk zu unternehmen (Bradshaw, 1996; Freedman, 1991).
Ein Ergebnis ist das Produkt des kreativen Prozesses. Bachfugen, Gödelzahlen und die Web-Seiten unserer Kinder sind in diesem Sinn Ergebnisse des kreativen Prozesses. Er muß kein Ergebnis besitzen, das mit den ursprünglichen Intentionen des Organismus übereinstimmt, aber das ist durchaus möglich, wenn man sich die erfundene Welt ansieht, in der unsere Gattung Zuhause ist. Bei der Wissenschaft lehren uns Ergebnisse oft etwas über die Welt, das vor unseren Intentionen steht und Entdeckung genannt wird. "Entdeckung" scheint für Ergebnisse wie Gemälde oder Rockkonzerte keine geläufige Bezeichnung zu sein. Man sagt dazu eher "Werke".
Eine Innovation ist schließlich ein Ergebnis, das von der Gesellschaft, die man betrachtet, zu einem gewissen Grad übernommen wird. Ergebnisse müssen nicht zu Innovationen werden, sie können zu träge für den Übergang sein, weil ihnen ein zugesprochener Wert fehlt (erst spät erwarben die Bilder van Goghs einen astronomisch hohen Geldwert im Markt), weil der Entdecker auf dem Durchbruch "sitzenbleibt" oder wegen eines reinen Zufalls ("Marktanteil" wie bei VHS gegen Beta). Kann die Evolutionswissenschaft Erkenntnisse anbieten, was in solchen unterschiedlichen Umständen geschieht, die über das hinausgehen, was sich mit der Psychologie oder den Neurowissenschaften erklärt läßt?
Ich glaube, die Antwort ist ein vorsichtiges Ja, da die Evolutionswissenschaft Fragen behandelt, die für die Kreativitätsforschung von besonderem Interesse sind. Das sind die "Warum"-Fragen. Die Biologie beschäftigt sich die Verhaltenswissenschaft großenteils mit den "Wie"-Fragen: wie sich Zellen teilen, wie Langzeiterinnerungen im Gehirn gespeichert werden, wie Eltern ihre Kinder sozialisieren. Das sind vertraute Fragen über Prozesse und Mechanismen. Die Evolutionswissenschaftler aber wollen eher Antworten auf die "Warums" als auf die "Wies" der Anatomie, der Physiologie und des Verhaltens erhalten: warum sich Zellen auf bestimmte Weise teilen oder warum sich Eltern manchmal altruistisch gegenüber ihren Nachkommen verhalten.
Abb. 2 Kreative Wetware. Im menschlichen Gehirn, den man hier von unten sieht, vermischt ein kompliziert verschlungener Neo-Kortex Wahrnehmungen, Erinnerungen und Ideen zu den Wünschen und Zielen eines Selbst. Wie? Warum? Zeichnung von Nick Woolridge
Die Frage nach dem "Warum" erfordert eine Untersuchung der Geschichte: der Geschichte des Individuums (Entwicklung, Sozialisation, Lernen, Entscheidung), seiner Kultur und Gesellschaft und schließlich seiner Population. Die Geschichte des biologischen Prozesses (sein Beginn, die Biologie des Gehirns, die von Evolutionswissenschaftlern zum Geist weitergeführt wird) ist definitionsgemäß eine Evolution. Wir wollen diesen Punkt sorgfältiger betrachten, weil vor allem wichtig ist, warum die menschliche Kreativität so ist, wie sie ist, und nicht, wie sie auch hätte anders sein können (Warum sind wir nicht alle wie Blake oder Bach?), wenn die Vergangenheit anders gewesen wäre.

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