Die Zukunfts-Familie
Matthias Horx
Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert hat die Familie vor allem ein Problem: Ihre ständige Idealisierung
Dieser Text erschien am 26. August 2004 in der Berliner Tageszeitung DIE WELT
Im Jahre 1855 schrieb Wilhelm Heinrich Riehl, ein Pionier der empirischen Sozialforschung in seiner Studie „Die Familie“ vom „gänzlich falsch verstanden Emanzipationsanspruch“. Und fuhr fort: „Dieses führt zu unerhörter Individualisierung und falscher Selbständigkeit der weiblichen Natur. Es hat letztens die Zerstörung der Familie zur Folge und mündet in einen Abgrund seelischer Fäulnis.“
Seit es die Familie gibt, wird ihr Zerfall, ihr Niedergang, ihre Perversion beschrieben, werden Eltern des Egoismus und genetischer Fahnenflucht bezichtigt, lautet die Parole alle Jahre wieder: Die Familie in der Krise! Das muss so sein, denn seit Menschen dem seltsamen Sport der Reproduktion nachgehen, ist diese Disziplin schwierig. Zu einem nahezu unlösbaren Rätsel wurde sie allerdings erst seit dem viktorianischen (oder wilhelminischen) Zeitalter. „Die viktorianische Gesellschaft verehrte die heterosexuelle Liebe geradezu, sie machte sie zu einer Art Gottheit, der sie bereitwillig ihre Existenz weihte“, heißt es in Eva Illouz Buch „der Konsum der Romantik“, einem Essay über die Liebe in der modernen Welt. Über die Zeit um 1920 heißt es: „Man glaubte die „gegenwärtige Krise der Ehe“ durch Romantik und Hollywoodphantasien erklären zu können, die zu unrealistischen Erwartungen an die Ehe als einer Arena hedonistischer Befriedigung führten....“
Aber sagen unsere heutigen Scheidungsraten wirklich etwas über den Zustand „der Familie“ aus? Umfragen und Studien zeigen ein Paradox: Immer mehr Kinder bezeichnen ihre Familien als Vorbilder, immer mehr Kinder fühlen sich bei ihren Eltern wohl (selbst wenn diese in Scheidung leben). Immer weniger wird die Familie von Gewaltverhältnissen geprägt – das Familienministerium registrierte einen kräftigen Rückgang von Prügelstrafe und Gewalt zwischen Ehepartnern. Die familiäre Lebensqualität steigt, während die institutionellen Formen brüchiger werden (wenn auch nicht in allen Ländern: in Dänemark sinken die Scheidungsraten, in vielen europäischen Ländern stagnieren sie; in manchen europäischen Regionen steigt gar die Geburtenrate).
Wie das? Ganz einfach: Die Familie passt sich längst an die moderne Gesellschaft an. Sie morpht in die Zukunft, in folgenden Varianten:
- die neue Über-Familie.
Wir alle kennen jene liebevoll bemühten Elternpaare, die ein fast unerhörtes Maß an Gemeinsamkeit ausstrahlen. Die Väter beugen sich ständig über die Kinderwägen und murmeln mit sonoren Stimmen. Die Frauen leuchten und lachen auf eine ganz bestimmte Weise, die nach Apfelkuchen und Nachhilfestunden klingt. Die mindestens zwei, gerne auch drei Kinder hören aufs Wort, sprechen rücksichtsvoll und haben immer ordentliche Kleider an. Dieses Familienmodell ist von einem egalitären Verhältnis zwischen den Partnern bestimmt, das die familiäre Existenz ins Zentrum setzt und erfolgreich gegen Zumutungen der Berufswelt verteidigt. Sie ist Mission und „großes Commitment“ zugleich: „Neue Männer“, die beruflich zurückstecken können, verbünden sich mit „Neuen Frauen“, die oftmals eine Karriere schon hinter sich haben und Familie als Management-Aufgabe mit Emotionszugewinn betrachten. Dieser Typus ist in Skandinavien dominant und prägt einen wunderbar solidarisch-zivilbürgerlichen Charakter.
-die re-aristokratisierte Familie.
In entgegen gesetzte soziokulturelle Richtung driftet jener Familientypus, der seine Integrität mit Distanzen wahrt. Mann, Frau und Kinder leben in jeweils getrennten Sphären, die Freiräume ermöglichen. Beide Elternteile arbeiten in erfüllten Berufen, ihre Autonomie hält Liebe als respektvolle Spannung wach und vermeidet Unterlegenheitsgefühle. Zeit- und Aufmerksamkeitsknappheit wird durch Service-Dienstleistungen im Haushalt bekämpft – nicht mehr die Frauen leisten die Hausarbeit, sondern Dienstkräfte. Der Erziehungsstil ist streng, aber liebevoll, er wird durch Institutionen (Nannys, Kindermädchen, gute Bildungsinstitutionen) professionalisiert. In diesem Modell, das in Großbritannien und Frankreich die Mehrheit bildet, huldigt man der Individualität, die man als Gemeinsinn organisiert.
-die fraktale Puzzle-Familie.
Und schließlich gewinnen auch jene Familienkulturen an Lebensqualität, die sich seufzend und lustvoll dem Chaos der Wirklichkeit ergeben. Ob man mit oder ohne Ehevertrag, mit linearer oder verzweigter Genealogie zusammenlebt, tut nichts zu Sache. Man ist eingebettet in ein weit verzweigtes Geflecht von „Exes“, Dauer-Freunden, Omas, Lebens-Begleitern, die in Krisen (und wann wäre keine Krise?) helfen und bei der Kindererziehung entlasten. Hauptsache Spaß, auch im Stress. Die „Kids“ werden im Stil „wohlwollender Vernachlässigung“ (Miriam Lau) nein, nicht erzogen, sondern gelassen. Man dient dafür gerne als freundlicher Taxifahrer für die unendlichen Freundeskreise und sozialen Netzwerke. Dieser vitale Typus repräsentiert in Amerika, wo Scheidung keine Katastrophe, sondern Status-Symbol ist, die Normfamilie. In Italien und anderen Südländern war es nie anders. Bei uns kommt er langsam häufiger vor, wird aber von unserem mangelnden Talent für die Kreativität unordentlicher Verhältnisse begrenzt.
Diese drei Evolutionslinien sind es, mit denen familiäres Leben in der Individualkultur seine Entlastungen organisieren kann: Familie als Sekte und Bastion, Familie als Individualitäts-
Inszenierung, Familie als Re-Sozialisierung.
Da aber in unserem Kulturkreis mit seinen MutterIdealen, starren Arbeitskulturen und verhärteten Geschlechterfronten keines der drei Modelle so richtig „zieht“ , finden immer mehr Männer und Frauen den vierten Typus attraktiver:
die NichtFamilie.
In Zukunft wird deshalb die Kunst der Familiengründung in besonderer Weise von einer Sozialtechnik abhängen: kluge Partnerwahl, Mate-Matching. Im rauschenden Erfolg von Parship und anderen digitalen Partnerschafts-Agenturen zeigt sich, worum es in Zukunft geht: Aus dem Meer der unendlich möglichen Partner den Richtigeren herauszufinden, wenn die Komplexität des Lebens steigt.
Peter M. Todd, Mathematiker und Spieltheoretiker vom Max-Plank-Institut für Psychologische Forschung in München, hat in einer Studie über „Partnerschafts-Heuristik“ die so genannte „Zwölfeinhalb-Regel“ herausgefunden. Sie lautet: Wer nach zwölfeinhalb ernsthaften Partnerschaften eine feste Bindung eingeht, hat die besten Chancen auf eine stabile lebenslange Beziehung. Wie in einer Art Liebestheater versammeln wir also zunächst das Spektrum möglicher Partner auf einer Art Seelen-Bühne, um dann eine kompetentere Entscheidung treffen zu können. Diese Regel begründet die „serielle Monogamie“ unserer Tage, erklärt auch, weshalb das SingleDasein heute bis weit über die Dreißig-Jahres-Grenze ausgedehnt wird (erstaunlicherweise nähert sich die durchschnittliche Anzahl der Partnerschaften vor der Familiengründung in den Großstädten mehr und mehr dieser Zahl an).
Der Familie hingegen zu empfehlen – wie besonders Männer ab 50 das gern tun – selbstlos zu werden, ist heilloser Quatsch. Familie ist nicht heilig, sondern eine Stätte des Opfers. Dass wir etwas von Ihr erwarten, ist deshalb nur menschlich. Für die Liebes- und Ehekunst in einer Gesellschaft der 80-90jährigen Biographien brauchen wir bessere Sozialtechniken, besseres Selbst-Wissen, mehr emotionale Intelligenz. Die Äquivalente müssen dabei stimmen, und solange sie es nicht tun, gibt es fiebrige Symptome.
Die einzige Weise, „Familie“ aus ihren modernen Turbulenzen zu entlassen und ihre Evolution zu stoppen, wäre, die Frauen wieder aus der höheren Bildung auszuschließen, den Wohlstand zu revidieren (mit einem ordentlichen Krieg oder einer ordentlichen Wirtschaftskrise). Und selbst dann, garantiert, käme wieder einer und redet von „falscher Individualisierung“ und „seelischer Fäulnis“...
Matthias Horx, Trend- und Zukunftsforscher, ist verheiratet und Vater von
zwei Söhnen, 7 und 11.
Familientypus: Eine raffinierte Kombination von 1,2 und 3...
© Matthias Horx, kommerzielle Verwertung dieses Textes nur nach Rücksprache mit dem Autor.
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