Donnerstag, 18. Januar 2007

Harte Jungs - weiche Seele

Harte Jungs - weiche Seele
"Wer auf unsere Schule geht, muss sich prügeln können" (1)
Von WERNER HINZPETER und ACHIM LIPPOTH (Fotos)

An seinem Geburtstag geht Kevin Edriss, 12, lieber nicht zur Schule -denn er will sich nicht verprügeln lassen. Inder Gesamtschule in Hannover gibt es nämlich ein schmerzhaftes Ritual: Geburtstagsschläge. "Man wird zusammengeschlagen, einfach so. Aus Lust und Laune. Von den älteren Hauptschülern". Kevin ist ein fröhlicher, sportlicher Junge.

Er spielt viel Fußball, wenn nicht gerade in der Abwehr der C-Jugend beim TSV Bemerode, dann bestimmt mit Freunden oder seinem Cousin auf dem Bolzplatz. Seinen Tag organisiert er ganz cool per Handy, mit der Schule nimmt er es nicht so genau, wohl aber mit seinem Äußeren: Kevin hat einen Hemdentick - mehr als 60 Exemplare, sagt er stolz, hängen in seinem Schrank.

Wenn es sein muss, langt der adrette Kevin auch mal hin. "Ich bin kein Schlägertyp", sagt der Fünftklässler von sich selbst. "Aber wer auf unsere Schule geht, muss sich prügeln können". Macht ihn ein anderer Junge wegen seiner etwas dunkleren Hautfarbe an, ist Kevin nicht zimperlich. ‚Wer mich Negerschwein nennt, muss damit rechnen, einen in die Schnauze zu kriegen". Kevin hat gelernt, sich selbst zu helfen, denn auf den Schutz seiner Lehrer vertraut er nicht mehr. "Die tun nichts, weil sie vor den Jugendlichen Angst haben. Jeder zweite Schüler bei uns hat eine Waffe."

So sind Jungs. Sie rotten sich zusammen, erpressen oder berauben Mitschüler. Sie terrorisieren, quälen, prügeln Schwächere, und wenn das Opfer am Boden liegt, treten sie nach. Sie rasieren sich Glatzen und hetzen Ausländer zu Tode. Sie gehen in die Schule und erstechen ihre Lehrerin. Und wenn sie nicht ganz so böse sind, dann beleidigen sie sie wenigstens. "Sämtliche Schweinereien, die der deutsche Wortschatz hergibt, müssen sich Lehrerinnen heute gefallen 1assen", berichtet die Zeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. In 82 Prozent der Fälle - pöbeln Jungs. Jungs sind Monster mit Milchgesichtern.

Ein Blick in die Kriminalstatistik: Deutlich mehr als zwei Drittel aller jugendlichen Tat-verdächtigen unter 14 Jahren sind Jungen, und wenn sie älter werden, wächst dieser Anteil weiter. Nur einer von 28 Jugendlichen im Knast ist ein Mädchen. 16 000 Jugendliche ließ Christian Pfeiffer, Chef des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, in neun deutschen Städten befragen. Jeder dritte Junge gab an, in den zwölf Monaten zuvor Gewalt gegen andere Menschen angewandt zu haben - und nur jedes zehnte Mädchen.

Von Lewis Carroll, dem Verfasser von "Alice im Wunderland", stammt das Bonmot: "Ich liebe alle Kinder, bis auf Jungen." Die Medien lügen nicht, wenn sie immer wieder kleine Kerle als Täter zeigen. Und doch blenden sie die andere Hälfte der Wahrheit aus.

Denn Jungen sind nicht einfach nur Schweine, sie sind arme Schweine.Wer die Böse-Buben-Brille absetzt, stellt fest, dass eigentlich sie das schwache Geschlecht sind.

Dass sie, die so oft Menschen niederstrecken, zunehmend selbst auf der Strecke bleiben. Ein paar Brutalos verzerren das Bild: "Einige so genannte Intensivtäter", so der Stuttgarter Polizeipräsident Martin Schairer, "nämlich fünf Prozent der Tatverdächtigen unter 21 Jahren, versammeln zwei Drittel aller Gewalttaten auf sich" Von der Gewalt, die Jungs austeilen, stecken männliche Kinder und Jugendliche auch am meisten wieder ein: Jungen erleiden mehr als doppelt so oft wie gleichaltrige Mädchen eine Körperverletzung und werden sogar achtmal häufiger beraubt. Auch an Kevins Schule sind Jungs übler dran: "Die Mädchen werden geschubst und gehänselt. Aber Dresche kriegen nur die Jungs. Und wer dann weint, kriegt noch mehr Schläge"

Jungen sind Bettnässer - doppelt so oft wie Mädchen. Die Wahrscheinlichkeit, dass . sie Selbstmord begehen, ist dreimal so hoch. Viermal mehr Jungen als Mädchen stottern, siebenmal mehr leiden am Hyperaktiven Syndrom. Und immer mehr Jungen sind Lernversager. Sie bleiben häufiger sitzen, stellen unter den Schulabgängern ohne Abschluss die große Mehrheit und schaffen seltener das Abitur. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Junge bis zum Alter von 25 Jahren schon mindestens sechsmal im Vollrausch war, ist mehr als doppelt so groß wie bei Mädchen.

Es ist nicht mehr leicht, ein Mann zu werden - Jungen spüren das, behalten aber die Details für sich. An der Oberfläche sehen sie cool aus, sie geben sich überlegen, plustern sich mit dicken Jacken auf und stecken ihre Storchenbeine in übergroße Hosen, die ihnen bis in die Kniekehlen hängen. Doch hinter der Fassade ist die Not groß. Nicht zufällig wurde Benjamin Leberts Buch "Crazy" im vergangenen Jahr zum Bestseller. Mit seiner autobiografischen Erzählung, die nun auch als Kinofilm zu sehen ist, liefert der Teenager einen ungewöhnlich offenen Blick in die Seelenqualen eines pubertierenden Internatsschülers. Er beschreibt, was in seinem Alter normalerweise nicht zur Sprache kommt.

Warum sind Jungen - zumindest im statistischen Durchschnitt - brutaler, blöder, psychisch labiler als Mädchen? Verzieht die Republik ihre Buben zu Bösewichtern? Ist ihr Hang zum Schlagen und Stören angeboren? Verhindern Hormone, dass die Vernunft sich durchsetzt?

Ein Teil der Antwort liegt tatsächlich in den Genen: Die Körper von Jungen sind besser zum Prügeln geeignet als die von Mädchen. Sie sind kräftiger, Muskeln und Fett sind anders verteilt, und sie haben einen anderen Hormonstoffwechsel. Besonders wichtig ist die Rolle des Sex- und Aggressionshormons Testosteron, das den Jungen in einen Mann verwandelt. Heranwachsende Jungen haben fünf bis sieben Testosteronschübe am Tag, in der späten Pubertät kann der Testosteronspiegel bei ihnen zwanzigmal so hoch sein wie bei gleichaltrigen Mädchen.

DER GROSSE UNTERSCHIED lässt sich damit allein nicht erklären. "Gewalt und Destruktivität gibt es bei Jungs schon vor der Pubertät, und in diesem Alter unterscheidet sich der Hormonstoffwechsel noch nicht wesentlich von dem der Mädchen", sagt Michael Schulte-Markwort, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hamburg (siehe Interview auf Seite 62). Wer es allein den Genen zuschreibt, wenn mal wieder so ein Rotzbengel austickt und zuschlägt, bis die Knochen brechen, macht es sich zu einfach. Zum Jungen wird man nicht nur geboren, zum Jungen wird man auch gemacht. Im Kopf mögen sich die Eltern unserer Zeit einen vernünftigen Sohn wünschen - doch mit dem Herzen sehnen sich viele ja offenbar doch nach einem echten Kerl. Zumindest drillen sie ihn so: Der amerikanische Psychologe William Pollack beschreibt, dass männliche Babys ihre Gefühle in den ersten Monaten nach der Geburt stärker ausdrücken als weibliche - und sie dann aberzogen bekommen. Studien zeigen, dass Eltern zu ihren Töchtern viel zärtlicher sind und auch mehr mit ihnen reden. Mütter schlagen ihre Söhne häufiger und heftiger als ihre Töchter.

Jungen werden weniger getröstet als Mädchen, sie erleben weniger Körperkontakt. Schon bei der Einschulung, so Pollacks Beobachtung, falle es den kleinen Kerlen schwerer als den Mädchen, anderen Menschen ihren Kummer mitzuteilen - weil sie "in einem Abhärtungsprozess lernen, sich für ihre Empfindungen zu schämen und sich insbesondere für Schwäche, Verletzlichkeit, Angst und Verzweiflung schuldig zu fühlen:" Wo die subtile Abhärtung nicht reicht, folgt die zweite Stufe des Heldentrainings: spöttische Bemerkungen, Hänseleien oder gar die Ächtung durch Verwandte, Freunde und Gleichaltrige. Statt sich gegenseitig zu unterstützen, machen sich die Jungen untereinander das Leben schwer. Wer von der coolen Norm abweicht, wird getrietzt, verhöhnt oder ausgegrenzt. In Mutproben muss sich der kleine Held beweisen, wie in "Crazy", wo sich die Schüler beim Saufen, im Striplokal und beim Ziel-Onanieren auf einen Keks erproben.

Dominik Steingrube aus dem niedersächsischen Langenhagen ist ein eher stiller Junge - und braucht dafür Leidensfähigkeit und Selbstbewusstsein. Er weint schon mal, wenn ihm etwas auf der Seele liegt, und bei Streichen macht er im Zweifel lieber nicht mit. Dafür muss er Spott ertragen: "In der Klasse nennen die mich Heulsuse" Ist er nun ein Verlierer oder ein mutiger Junge, der sich traut, auf die Machorolle zu verzichten?

"Von Jungen wird erwartet, dass sie sich durchsetzen", sagt Olaf Jantz, der im Kinderschutzzentrum Hannover seit Jahren für Jungenarbeit verantwortlich ist. "Wenn der Sohn seine Ellenbogen einsetzt, auch beim Prügeln, finden das die meisten Väter ganz klasse. Selbst wenn sie dann schimpfen, lautet die Doppelbotschaft: Es ist kernig, was du da gemacht hast. Erst wenn die Jungen jemanden halb totschlagen, ist die Aufregung plötzlich groß:" Außen hart - so erzieht sich unsere Gesellschaft ihre Jungs. "Und innen sind sie weich", sagt Jantz.

Johannes Kuzenko, 12, aus Hannover ist auch so einer. "Wenn es mir schlecht geht, dann unterdrücke ich das. Das soll man mir möglichst gar nicht ansehen. Irgendwann geht es schon wieder weg:" Wenn Johannes zu Hause traurig ist, spielt er am Computer, bis es vorbeigeht. Wenn er richtig wütend ist, kann es auch schon mal sein, dass er irgendwas kaputtmacht - aber Schwäche zeigen? Nie!

Johannes ist weder Einzelgänger noch Stubenhocker. Seine Nachmittage verbringt er mit seinen Freunden. Sie reden über Computerspiele, Technikbausteine oder was sie sonst noch interessiert. Über schlechte Gefühle reden sie nicht. Bei einer Befragung von mehr als 1700 Jungen in Dortmund sagten 56 Prozent, sie würden mit niemandem reden, wenn sie traurig sind - weil sie dann lieber allein sein wollen oder weil sie "keinen Trost brauchen".

Giacomo Reschke traktiert seine Freunde Mark und Sören, wenn er schlecht drauf ist. "Ich meckere sie dann an, obwohl sie nichts falsch gemacht haben. Aber die kennen das und sind dann nett zu mir." Der 13-Jährige lebt im Städtchen Barsinghausen am Deister. Jeden Morgen scheitelt er sich die Haare säuberlich, aber seine Frisur bekommt man nur in der Schule zu sehen, denn normalerweise trägt er seine Kappe wie festgeklebt auf dem Kopf. Im Gespräch behält er vorsorglich auch noch die dicke Jacke an und verschränkt die Arme. Was ihm die Laune verdirbt, verrät Giacomo seinen Freunden nicht. Die anderen Jungen reden schließlich auch nicht über sich. Manchmal spricht er mit seiner Mutter, ansonsten macht er alles mit sich selber aus. Giacomo zieht sich dann in sein Zimmer zurück, greift zum Gameboy oder legt die CD von den Backstreet Boys ein. Die fünf Sängerknaben aus Florida sind zwar eigentlich Mädchensache, aber den einen Tick erlaubt er sich.

DIE STARKEN MÄDCHEN erhöhen den Druck, sich als ganzer Kerl zu beweisen. Welcher selbstbewusste Bengel möchte schon von einem Mädchen überrundet werden? Mädchen, das sind Wesen von einem anderen Planeten, unheimlich und fremd. Mit Mädchen spielen "echte" Jungs nicht. "Die machen diese komischen Handklatschspiele", sagt Arne Weidtke, 10, aus Hannover. "Jungen finden Computer besser und spielen mit Waffen. Das finden die Mädchen in meiner Klasse blöde:"

Jungen haben ihre eigene Sprache entwickelt. Zwei pubertierende Typen, die sich mit "Hey, du Arsch!" begrüßen und dabei gegenseitig auf den Oberkörper boxen, sagen sich damit vermutlich, dass sie sich ziemlich gern haben. Wo Zärtlichkeit verpönt ist, drückt man Nähe eben anders aus. Jungenforscher raten deshalb, die Sprache der Rabauken zu lernen. In seinem Buch "Jungen! Wie sie glücklich heranwachsen" schreibt der australische Familientherapeut Steve Biddulph: "Wenn Mädchen innerhalb einer Gruppensituation Angst haben, machen sie sich im Allgemeinen eher klein und verhalten sich still. Jungs laufen umher und machen möglichst viel Lärm:" Wenn in einer Gruppe niemand das Sagen hat, fangen Jungs an herumzurangeln, um eine Rangordnung zu erstellen. Sie brauchen eine Struktur und einen Chef. Erst dann können sie sich entspannen. Mädchen macht das weniger zu schaffen.

Auch deshalb fallen Jungen viel häufiger aus der Rolle als Mädchen: Sie müssen sich gegenseitig beweisen, wie toll sie sind. "Alleine baue ich keine Scheiße", sagt Murat, 14, aus Kassel. "Aber wenn die anderen dabei sind, darfst du nicht dein Gesicht verlieren. Wenn du denen zeigst, dass du schwach bist, dann hast du schon verloren. Du bist dann feige, und du hast keine Ehre. Und ohne Ehre hast du keine Freunde."

Mädchen bitten um Hilfe, wenn sie sie brauchen. Jungen wissen nicht, wie sie das tun sollen, lehrt Biddulph. "Sie tun vielfach durch ihr Verhalten ihre Hilfebedürftigkeit kund:" Wenn sie in der Schule den Obercoolen mimen, so tun, als ob ihnen alles am Hintern vorbeigeht, sei das ihre Art, auf Überforderung zu reagieren. "In Wahrheit wären sie gern erfolgreich und Teil der Gemeinschaft:" Jungen brauchen länger, um ihre Gefühle mitzuteilen. Viel häufiger als Mädchen blocken sie Gesprächsangebote ab, wenn sie dabei Schwäche oder Unsicherheit zeigen müssen. Einfach nur reden ist ohnehin nicht ihre Sache - Eltern kommen ihren Söhnen beim Fahrradflicken oder Stochern im Lagerfeuer viel eher nahe.

"JUNGEN BEFÜRCHTEN schnell, dass sie nicht normal sind", sagt Reinhard Winter, Leiter der Projektgruppe Jungenpädagogik am Tübinger Institut "Iris" "Es hilft ihnen, wenn man sie darin unterstützt, ihren eigenen, eventuell vom Klischee abweichenden Weg zu gehen." Ein jungenhaftes Mädchen ist erlaubt. Aber ein mädchenhafter Junge? Einer, der Ballett tanzen will, ein Kleid tragen oder der als Berufswunsch Kosmetiker angibt? Geht, wenn er Gluck hat, als Exot durch, eher aber als weibisch. Und nichts trifft einen Jungen härter, als wenn man seine Männlichkeit infrage stellt. Das schlimmste Schimpfwort, das man einem Jungen sagen kann? Der zehnjährige Arne muss nicht lange überlegen: "Homosexuelle Missgeburt:"

Mit planer Männlichkeit allein kommt in heutigen Zeiten jedoch keiner weit. In Wahrheit muss der moderne Junge einen Spagat meistern: Er soll nicht nur cool sein, sportlich und durchsetzungsstark, sondern auch teamfähig; er soll sich seinen Weg mit den Ellenbogen erkämpfen, aber dabei ganz, ganz rücksichtsvoll sein; er soll die Mädchen beschützen, sie aber auch als gleichberechtigt anerkennen. Seit die Werbung den Männerkörper entdeckt hat, braucht er auch noch eine makellose Haut, einen Waschbrettbauch, Markenklamotten und daneben all die anderen Statussymbole wie Gameboy oder Handy. Zudem muss er gute Noten schreiben, um in der Leistungsgesellschaft seinen Platz zu finden und - das gilt ja noch immer - später eine Familie ernähren zu können.

Wissen Erwachsene, wie schwierig und belastend diese Fülle von Erwartungen für ihre Söhne ist? Klar, Eltern wollen prima Leistungen, aber wissen sie, dass ihr Sohn als Streber gemobbt wird, wenn er die erwünschten Einsen schreibt? "Bei uns traut sich keiner, als guter Schüler dazustehen", erzählt Kevin. "Den Mädchen passiert nicht viel. Aber wer als Junge gut ist, kriegt von seinen Mitschülern deren Hausaufgaben aufgedrückt. Und wer die dann nicht macht, kriegt eine rein:"

UM DAS MANNSEIN ZU LERNEN, brauchen heranwachsende Jungen männliche Vorbilder zum Anfassen. Doch die sind Mangelware. Vom sechsten Lebensjahr an etwa, da sind sich die Experten einig, wird der Vater für Jungen zur zentralen Figur im Leben - bleibt aber oft genug ein flüchtiges Phantom. Immer häufiger verabschieden sich die Erzeuger aus der Verantwortung und überlassen die Erziehung der Mutter. Selbst wo die Eltern noch zusammenleben, glänzen berufstätige Väter durch körperliche oder geistige Abwesenheit. Es sei ein Paradoxon unserer Zeit, klagt der Münchner Familienforscher Wassilios Fthenakis, "dass einerseits vermehrtes männliches Engagement in der Familie gefordert wird und dass andererseits die Zeitspanne kontinuierlich abnimmt, die ein Mann tatsächlich in der Familie verbringt:" Jungenforscher Reinhard Winter stimmt zu: ‚Viele Jungs sagen, sie hätten eine gute Beziehung zu ihrem Vater. Aber sie können nichts Konkretes erzählen, weil sie nichts wirklich mit ihm erlebt haben:"

Markus Thümmler, Schüler aus Hannover, hat offenbar Glück mit seinem Zeuger. Er verstehe sich zwar besser mit seiner Mutter als mit dem Vater, betont er, aber die "tollsten Menschen" im Leben des Elfjährigen mit den gegelten Stachelhaaren "sind mein großer Bruder und mein Vater:"

Der Papa ist Ko-Trainer von Markus‘ Fußballmannschaft. Vater und Sohn machen auch sonst viel zusammen. Sie erledigen gemeinsam den Einkauf oder arbeiten im Garten. Mit seinem drei Jahre älteren Bruder streitet Markus sich manchmal, aber immer wieder bekommt er auch Hilfe von ihm.

Jungen, die ohne Vater aufwachsen, sind -laut Statistik - eher gefährdet, gewalttätig und süchtig nach Alkohol oder anderen Drogen zu werden, und sie laufen Gefahr, sich an falsche Leitfiguren zu hängen. Weil es der Gesellschaft an männlichen Mentoren fehlt, vermutet der Göttinger Jungenforscher Götz Haindorf, "suchen junge Männer Anerkennung bei Militärausbildern und rechtsradikalen ‚Führern."

Wären in der Jugendarbeit, beim Sport und in der Familie mehr Männer ansprechbar, könnte das die Faszination von Männerbünden begrenzen. Aber mit dem Leitbild haben die Väter so ihr Problem. Ständig erfinden die Medien den neuen Mann, mal Macho, mal Softie - es fällt schwer, ein Vorbild zu sein, wenn man selbst nicht recht weiß, wie Mann denn sein soll.

Der ideale Papa lebt vor, dass ein Mann nicht das Gesicht verliert, wenn er Schwäche zeigt. Er erzählt von Ängsten, peinlichen Momenten und Niederlagen und schämt sich nicht zu weinen. Er bedient Tatendrang und Abenteuerlust seiner Söhne, indem er mit ihnen tobt, Berge besteigt oder Baumhäuser baut. Er zeigt ihnen, wie ein Mann mit seinen Aggressionen umgeht, ohne andere zu schädigen. Und er lässt seinen Sohn selbst bestimmen, wie lange er noch mit ihm schmusen will, statt ihn mit der Bemerkung abzuschrecken, dafür sei er nun doch zu alt.

Auch in den Schulen besteht Handlungsbedarf für die Jungs. Gegen die Benachteiligung der Mädchen wurde viel getan. Inzwischen dämmert Fachleuten, dass sie dabei die Jungen vergessen haben.

Derzeit werde Jungen an den Schulen kaum geholfen, meint Olaf Jantz: "Jungen bekommen für ihre Auffälligkeit sehr viel Aufmerksamkeit, aber keine wirkliche Zuwendung:" In der Schule wird weitgehend ignoriert, dass viele Jungen nicht Stunde für Stunde still im Klassenraum sitzen und zuhören können. Statt ihnen Bewegung zu verschaffen, werden sie ausgeschimpft, wenn sie anfangen, herumzuzappeln. Jungen, weiß Jantz, malen sehr gern - aber nicht, wenn da eine Lehrerin sitzt, die Jungs den gefälligen Umgang mit Papier und Stiften nicht zutraut und an ihren Bildern herummäkelt. Lehrer übersehen die Opfer unter den Jungs — ein Problem, dass auch viele Mädchen haben: Wer leise ist, stört keinen und wird schnell übersehen. Und es fehlen Männer, bei denen sich Jungen Unterstützung holen können.

"Die Mädchen werden von den Lehrerinnen bevorzugt", erzählt zum Beispiel Giacomo. ‚Wenn die mal Scheiße bauen, ist das gar nicht so schlimm. Die Lehrer sind fairer und behandeln Mädchen und Jungen gleich:" Leider hat der Sechstklässler nur zwei. Auch Kevin beklagt die Weiberwirtschaft: "Bis auf den Sportlehrer haben wir nur Lehrerinnen. Da weiß man gar nicht, was man mit denen anfangen soll. Die Mädchen kommen einfach besser an, die grinsen wie Honigkuchenpferdc, und schon kriegen sie, was sie wollen:"

"Es gibt ganz viele Lehrerinnen, denen Jungen völlig fremd sind", sagt Jantz. ‚Wenn ich bei Fortbildungen frage, was Jungen eigentlich gut können, dann sitzen sie manchmal fünf Minuten stumm da, weil ihnen keine Antwort einfällt." Schwere Zeiten für das starke Geschlecht.

"Väter nehmen sich zu wenig Zeit"
Was tun, wenn die Wut kommt? Wie Eltern ihren Söhnen helfen können, mit GEFÜHLEN umzugehen
Interview

Professor Michael Schulte-Markwort ist Leitender Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf.

stern: Wie können Eltern ihren Jungs helfen?

Schulte-Markwort: Die Väter nehmen sich viel zu wenig Zeit und liefern dann auch noch schlechte Beispiele ab. Während Mütter meist kein Problem damit haben, vor den Kindern zu weinen oder zu zeigen, wenn sie etwas nicht können, wollen Väter ihren Kindern beweisen, dass sie alles können. Aber auch die Mütter müssen sich ändern, denn sie erziehen Jungen anders als Mädchen. Ich finde es unerträglich, wie viele Mütter auf dem Spielplatz nicht eingreifen, wenn Jungs sich prügeln. Mich bringt diese Pseudopädagogik mit der Begründung, die Kinder müssten es doch lernen, in Rage. Gerade bei den ganz Kleinen sind wir in der Verantwortung, ihnen zu zeigen, wie man es macht.

stern: Kein Kind ist ohne Aggressionen. Müssen die nicht ausgelebt werden können?

Schulte-Markwort: Doch. Die beste Methode ist: Erst Raum geben, also die Wut eine Weile ertragen. Dann begrenzen, indem man das Kind zum Beispiel in sein Zimmer schickt. Aber dann auch helfen, wieder Kontakt aufzunehmen, um die Beziehung nicht zu gefährden. Außerdem kann man viele Möglichkeiten des gesellschaftlich erlaubten Auslebens zeigen: Ich mache Sport, fahre Fahrrad, höre laute Musik, jeder hat da seine Mechanismen.

stern: Sie raten, die stille Seite von Jungen stärken.

Schulte-Markwort: Ich habe einen fünfjahrigen Sohn, der keiner von diesen Draufgängern ist. Dem habe ich nie gesagt, "Hau zurück!", sondern ihm immer klargemacht, dass er so, wie er ist, genauso wertvoll ist. Ich bin erfolgreich genug, um ihm zeigen zu können, wie man sich durchsetzt, ohne über Leichen zu gehen. Trotzdem ist es für mich manchmal schwer auszuhalten, dass er sehr abwartend ist und sich immer hinten anstellt.

stern: Darf man einem jammenden Jungen nicht sagen, er soll nun mal aufhören zu heulen, oder einem Ängstlichen, er möge sich nicht so anstellen?

Schulte-Markwort: Väter sollten den weicheren Seiten ihres Sohnes mehr Raum geben, als sie es selbst erlebt haben. Aber natürlich muss man einem Jungen auch sagen: "Jetzt ist Schluss!" Grenzen zu setzen fällt vielen Eltern schwer - aber genau dieser Bereich macht Erziehung aus. Kuscheln auf dem Sofa und Schokolade essen kann jeder.

stern: Viele Jungs schotten sich in der Pubertät von ihren Eltern ab. Ist das ein schlechtes Zeichen?

Schulte-Markwort: Das ist oft verletzend für die Eltern, aber für dieses Alter normal. Vertrauen kann man nicht erzwingen. Deswegen sollten Eltern ihre Söhne bis zur Pubertät so weit gebracht haben, dass sie auch andere Erwachsene als Vertraute aufsuchen, mit denen sie alles besprechen können. Und es ist wichtig, dass man nicht eifersüchtig reagiert, wenn man feststellt, dass der Sohn einem anderen mehr anvertraut als einem selbst.

stern: Woran erkennen Eltern, ob ihr Sohn professionelle Hilfe braucht?

Schulte-Markwort: Zu allen anderen Arztgruppen geht man auf Verdacht, zu Kinderpsychiatern nicht, weil das so viel mit Beschämung zu tun hat. Besonders die Väter haben viel Angst, sagen schnell: Was soll das Reden bringen, nun reiß dich mal zusammen. Es ist eher die Ausnahme, dass der Vater beim Erstgespräch dabei ist. Ich ermuntere Eltern immer, Spezialisten für die eigene Familie zu sein. Ich habe in zwölf Jahren nur ein einziges Mal erlebt, dass Eltern zu früh zu mir gekommen sind.

(1) aus: STERN 24/2000, S. 54 ff - Formatierungen durch mich, Hv

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