Freitag, 30. März 2007

Geschlechtertrennung in der Kindheit - Studie

Tim Rohrmann

Geschlechtertrennung in der Kindheit
Empirische Forschung und pädagogische Praxis im Dialog


Abschlussbericht einer Studie

Sexualerziehung, die ankommt

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Ninon de Leclos und ihre Philosophie


Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart Jg. 4 (2003), Heft 3


Ninon de Lenclos: Lebedame und Philosophin � Das Verhältnis von Wille und Moral in ihren Briefen an den Marquis de Sevigné

von Claudia Altmeyer

Pascal und Descartes, Molière und Racine sind nur vier grosse Autoren, die das siebzehnte Jahrhundert, diese so bewegte und für vieles grundlegende Epoche, prägten. Neben grossen Männern hat sie auch Frauen hervorgebracht, die, mit allen Erkenntnissen ihrer Zeit vertraut, eine philosophische Lebensweise lehrten und lebten. Eine davon ist Ninon de Lenclos, Adelige von Geburt, Epikuräerin von Geblüt und streitbare Literatin aus Neigung. Ganz auf der Höhe ihrer Zeit und mit vielen Berühmtheiten per Du, widerspricht sie gängigen Vorurteilen mit bestechender Logik. Ihre Moral ist ausgesprochen antimetaphysisch und rein auf den Effekt bedacht: ist nicht die Liebe ein natürlicher Ausdruck des Willens, und ist nicht der Wille durch die Vernunft lenkbar? � Obwohl �nicht fleissig genug�, um ein regelrechtes System zu hinterlassen, spiegelt ihr Nachlass viele wichtige Ideen über Motivation, Wille und Moral, die ihre Ausprägung eigentlich erst im neunzehnten Jahrhundert erfahren haben, im Ansatz wider. Diesem philosophischen Spurenlesen will ich ein Beispiel geben: die Korrespondenz mit dem Marquis de Sevigné, die uns in 55 Briefen überliefert ist. Hierin berät sie den jungen Mann auf seinem Weg ins gesellschaftliche Leben, dessen Oberflächlichkeit sie entlarvt, wie auch in die Liebe.

I. Philosophinnen � eine unterbrochene Chronologie

Die schulmässige Beschäftigung mit Philosophinnen erfordert heute zweierlei: die Bereitschaft zum Historismus und den Mut zur Lücke. Zwischen Diotima und Hypatia, Hildegard von Bingen und Hadewijch von Brabant, Edith Stein und Hannah Arendt klaffen Jahrhunderte in der Zeit und noch grössere Zwischenräume in Bezug auf Persönlichkeit, Absicht, Werk und Wirkungsgrad. Unvergleichbares zu vergleichen wäre die Aufgabe, die wir erfüllen müssten, wenn wir die so kontroversen Lebenswerke und Selbstverständnisse von antiken Naturphilosophinnen, mittelalterlichen Mystikerinnen und modernen Praktikerinnen unter dem künstlichen Begriff weiblicher Philosophie vereinen würden.

Zudem bliebe das eigentliche Forschungsinteresse dabei unbefriedigt; geht es doch, abgesehen von einer konservatorischen Absicht, darum, die Werke von Philosophinnen kritisch, also vorerst systematisch, zu untersuchen. Wollen wir aber Schlüsse über einen weiblichen Zugang zu philosophischen Fragen gewinnen - von der immer noch offenen Frage, ob es ihn in dieser Eindeutigkeit überhaupt gibt, abgesehen - und epochentypische Meinungsmonopole durch Philosophinnen gegenlesen, bemerken wir schnell, dass uns Namen und Werke fehlen, ja dass ganze Epochen hier nur sehr schwach und einseitig vertreten sind. Wir gewinnen dabei fast den Eindruck, dass es unbedingt günstiger politischer Bedingungen oder sozial gut saturierter Ausnahmepositionen bedarf, um Frauen zum Philosophieren und ihre Werke an die Öffentlichkeit zu bringen.

Platons Schülerinnen waren keine Metöken, Theresa von Avila keine arme Nonne, Simone de Beauvoir aus durchaus gutem, wenn auch zerrüttetem Hause. Mehr noch, es scheinen überhaupt nur ganz bestimmte Epochen die strukturellen Bedingungen herausgebildet zu haben, die weiblichen Philosophen das Lernen und Lehren ermöglicht haben. Diese waren offensichtlich in den Demokratisierungsbemühungen der Polis Athen seit solonischer Zeit vorhanden, wie auch im vorreformatorischen Reichtum und der Weltläufigkeit der Klöster und ihrer Angehörigen und wiederum im aufgeklärten Grossbürgertum des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts.

Was aber wissen wir von den vielen Jahrhunderten dazwischen? Es kann nicht sein, dass aus möglicherweise rein strukturellen Gründen die Hälfte des menschlichen Potentials brach lag. Auch verengt es die Perspektive, wenn wir das Phänomen geistiger Arbeit von Frauen auf rein äusserliche Bedingungen reduzieren und daraus erklären wollen, obwohl es sicherlich einen starken Zusammenhang gibt. Ein Zusammenhang ist jedoch immer nur ein Hinweis auf eine Ursache, nicht die Ursache selbst und niemals die einzige.

Was wir festhalten können, ist, dass der Ort des Philosophierens als ein geschützter Raum sich durch die Epochen wandelt; auch, dass die Tätigkeit des Philosophierens als ein gewisses, längst nicht nur monitär bedingtes, Privileg immer nur bestimmten Gruppen oder Einzelpersonen zukommt, die sich ebenfalls wandeln. Was aber zweifelhaft bleibt, ist, ob wir im historischen Rückblick sowohl den philosophischen Raum als auch die Gruppen der Philosophierenden richtig bestimmen können. Mein Verdacht ist, dass es viele philosophierende Frauen gab, die wenig bekannt bleiben, weil sie (vielleicht mit gutem Grund) jenseits der Akademien, Klöster und Seminare hochwertige geistige Arbeit geleistet haben, die in der Gesellschaft aber mit unscheinbaren Etiketten versehen wurde.

II. Das siebzehnte Jahrhundert: Moral ohne Metaphysik

Gerade die so ereignisreiche Zeitspanne zwischen Mittelalter und Moderne, zwischen den religiösen Enklaven geistiger Arbeit und der allgemeinen Öffnung der Hochschulen, ist auch eine Zeit origineller weiblicher Autoren. Eine Epoche, die sich selbst schon säkular und aufgeklärt nannte, obwohl sie es in unserem Geschichtsverständnis noch nicht zur Gänze war � das siebzehnte Jahrhundert � brachte eine spannende Neuerung. Plötzlich wurde philosophisches Schreiben nicht nur weltlich, es wurde mondän. Und immer mehr Frauen der gebildeten Gesellschaftsschicht machten aus ihrem Salon das, was Epikur aus seinem berühmten Garten machte: einen Rückzugsort von Freunden, die das rechte Mass zwischen Zeitgeistigkeit und Abgeschiedenheit erfassen wollen. Viele schriftliche Zeugnisse, Traktate und Briefe sind über solche Salons und ihre mitteilsamen und sprachlich wie gesellschaftlich sehr gewandten Gäste erhalten geblieben.

Es ist aber methodisch und auch inhaltlich verfehlt, nun alle möglichen schreibenden Frauen oder gebildeten Salonières mit dem Titel Philosophin zu ehren, um eine historische Vollständigkeit weiblichen Philosophierens zu konstruieren. Nicht jede Literatin, die die Feder zu führen verstand, hat dabei auch gleich Philosophie betrieben; genausowenig, als jede gewöhnliche Mätresse Politik betrieb. Bei den meisten ist es wohl, um bei der Wahrheit zu bleiben, bei geistreichen bonmots oder charmanten Manipulationen geblieben, die weder die Bezeichnung Philosophie noch Politik verdienen.

Zwischen diesen oberflächlichen Versuchen einerseits und einem ausgefeilten philosophischen System oder gar Lebenswerk andererseits gab es aber einige wenige schreibende Frauen, die ihren männlichen Kollegen an Esprit, Stringenz und Mut in der Rechtfertigung gleichkamen. Eine davon möchte ich vorstellen: die französische Gesellschaftsdame und Schriftstellerin Ninon de Lenclos. Lassen wir uns aber nicht davon abschrecken, dass ihre Zeitgenossen (von der Nachwelt ganz zu schweigen) sehr unterschiedliche und nicht immer schmeichelhafte Meinungen von ihr hatten.

Einen schlechten Ruf zu haben, scheint das Los vieler Philosophen zu sein, ebenso wie Kollegenschelte und Intrigen von Neidern. Aristoteles galt als der stumme Leser, Thomas von Aquin als der dicke Ochse; Diogenes Laertius erzählt von bösen Intrigen der philosophischen Schulen und ihrer Anhänger gegeneinander. Hierbei gibt es grundsätzlich auch keine Unterschiede in Bezug auf das Geschlecht: Meister Eckhart wurde trotz seiner Verdienste nicht weniger als Ketzer kriminalisiert als Marguerite de Porète, Simone de Beauvoir hat über die �Vogelscheuche� Simone Weil kaum zurückhaltender gesprochen als Schopenhauer über den "Afterphilosophen" Hegel. Doch auch ein schlechter Ruf verpflichtet, und oft sind es ja nicht die schlechtesten Köpfe, die Schelte als das erfahren, was sie im Grunde veranlasst: verdeckter, nicht zugegebener Neid.

Auch Ninon de Lenclos liess kein mässiges Urteil zu. Für die einen war sie eine intellektuelle Ausnahmebegabung, eine grande dame mit allen Facetten, eine Philosophin von Weltrang und eine Schönheit erster Güte. Für die anderen war sie eine durchtriebene Kokotte, eine listige Intrigantin und raffinierte Lebedame ohne jeden moralischen Halt und ohne Grundsätze, die ihre Eitelkeit mit der Manipulation unerfahrener junger Liebhaber und mit nachgesprochenen Sophismen nährt. Für gewöhnlich sagt man bei solchen extremen Gegensätzen im Urteil, dass die Wahrheit in der Mitte liegt. Ich denke indessen, dass hier weder eine Extremposition noch ein Kompromiss die Wahrheit trifft, sondern dass vielmehr eine enge Gesellschaft an der Beschreibung einer Ausnahmepersönlichkeit scheiterte, die in vielfacher Hinsicht über sie hinausgewachsen war.

III. Wer war Ninon de Lenclos wirklich?

Lenclos war den meisten Frauen ihrer Zeit � und auch vielen Männern � intellektuell deutlich überlegen. Von vornehmer Geburt und mit bester Erziehung aufgewachsen, begann sie schnell, sich im Leben der gebildeten Gesellschaft zu etablieren und einen Salon zu gründen, der viele hochkarätige Besucher aufweisen konnte: ein Who is who des späten siebzehnten Jahrhunderts. Unter ihren Freunden waren der Menschenkenner de la Rochefoucault, die Frau von Sevigné und ihr Sohn, die kluge Scarron, bevor und nachdem sie Marquise de Maintenon geworden war, Molière, den sie zu seinem Werk �Der eingebildete Kranke� inspirierte, der Gesellschaftskritiker la Bruyère, der Fabeldichter Lafontaine und viele andere. Die Lenclos war auch Mäzenin und förderte bereitwillig den jungen Arouet (Voltaire), dessen grosses Talent sie als eine der ersten erkannte.

Ihr Ruf eilte ihr voraus und veranlasste auch gekrönte Häupter, ihre Gesellschaft zu suchen. Ludwig XV. wollte die Frau sehen, die ihm als ein Wunder an Gelehrtheit und Esprit geschildert wurde, und die philosophisch so interessierte Königin Christine von Schweden, an deren Hof der arme Descartes jämmerlich erfror, besuchte sie bei einem Frankreichaufenthalt. Von der Anmut und Klugheit der Lenclos ganz fasziniert, fand die Regentin sie noch viel geistreicher, als man sie ihr geschildert hatte. Leider ist die lange Unterhaltung dieser beiden ungewöhnlichen Frauen nicht überliefert worden.

Andererseits hatten auch ihre Feinde nicht ganz Unrecht, wenn sie Ninon als egoistisch, zügellos und durchtrieben bezeichneten. Nur wenigen Philosophen ist das besondere Glück beschieden, neben ihrer Begabung auch über ausreichende Mittel zum Leben, einflussreiche Freunde und grosse Schönheit zu verfügen. Eine Frau, die sich nun durch alles auszeichnet, was das Leben in gehobener Gesellschaft angenehm macht und zudem intellektuell brillant ist, musste Neid erregen � und war sicher auch nicht frei von Eitelkeit. Wir wissen, dass sie das damals ebenfalls sehr prominente Fräulein von Scudéry wegen ihrer Hässlichkeit verspottete. Wir wissen auch, dass sie Männer bewusst manipulierte, um ihre Macht auszuspielen oder um ihre Berechnungen zu testen � sie sagt es selbst. Nur eines war sie offenbar nie: wirklich gemein oder niedrig denkend. Sie war nur untreu gegenüber ihren Liebhabern, doch treu gegenüber ihren berühmten Freunden, die sie über Jahrzehnte als Ratgeber, Muse und Helfer in der Not begleitete.

Ihre gemeinsame Lebensauffassung, die oft Gegenstand ihrer philosophischen Dispute war, war sehr von der Lehre Epikurs geprägt. Epikurs erklärtes Ziel ist die Eudaimonia, die Glückseligkeit, zu der nur der Weg über die vernunftgebundene Befriedigung der Lust führt. Hierbei sollen natürliche sinnliche Genüsse nicht gemieden, aber auch nicht suchtartig verfolgt werden; das rechte Mass ist bei allem Tun und Lassen entscheidend. Gibt es eine vernünftige Lebensauffassung, die einer gebildeten Frau der galanten Zeit sympathischer gewesen sein könnte, zumal zwischen der Skylla christlich-sittenstrenger Heuchelei und der Charybdis von oberflächlichem Getändel? Man ist in puncto Moral bereits kein Metaphysiker mehr, doch noch kein Materialist. Ein feines Gespinst von Konvention und Selbstachtung hält das brüchige Gesellschaftsleben zusammen und bietet Raum für erste freie Versuche, das Leben zu hinterfragen, ohne es ganz in Frage zu stellen, und die Liebe zu entmystifizieren, ohne ihr völlig den Charme zu rauben.

Auf einen Aussenstehenden mag Lenclos Unbefangenheit im Urteil frappierend, ihre Liebeskarriere leichtfertig gewirkt haben und auch zu der schlechten Meinung geführt haben, die viele von ihr hegten. Tatsächlich war sie wie nur sehr wenige in der Lage, den Epikuräismus ohne Übertreibungen nach beiden Seiten � sinnleere Ausschweifung oder asketische Selbstbegrenzung � zu praktizieren und darüberhinaus philosophische Rechenschaft abzulegen. Sie erfüllte Kierkegaards berühmte Forderung an den Philosophen, selbst im Haus seiner bevorzugten Weltanschauung zu leben (statt nebenan in der �baufälligen Hütte� seiner Zweifel und Inkonsequenz), folgerichtig bis zu ihrem Tod.

III. Die epikuräische Kunst der Liebe

Lenclos würde den "Werther" lachend zerrissen haben. Ein Kult der Sentimentalität und feinsinnigen Liebe, wie ihn die vom Pietismus geprägten deutschen Klassiker hundert Jahre später verfolgt haben, hätte in ihrem bodenständigen Urteil keine Gnade erfahren.

Die Liebe ist für sie ein elementarer Trieb, der seine Befriedigung allein in der Sexualität sucht und nur durch gesellschaftliche Konventionen umgedeutet und kaschiert wird. Diese Verkleidung und Verstellung als das Wesen der Liebe zu verstehen, bedeutet für sie also, einen kapitalen Fehler zu machen und sich selbst zu belügen. Eine banale Aussage für uns, aber ein Schlag ins Gesicht der galanten Zeit. Vergessen wir nicht: hier spricht eine vorurteilslose Frau des siebzehnten Jahrhunderts, kein Materialist des achtzehnten, kein Obsessiver des neunzehnten und kein Psychologe des zwanzigsten. Und tatsächlich ist man noch nicht so weit, die Liebe auf eine �Berührung der Schleimhäute� zu reduzieren, den ekstatischen Rausch zu mystifizieren oder die Triebgebundenheit zu analysieren; wir zerreissen nur den ersten Schleier der Vorurteile.

Die Folgerungen der Lenclos sind methodisch gesehen rein effektorientiert: sie versteht die Liebe als eine körperliche Anziehungskraft, die ihren einfachen Ausdruck sucht, und die so im Gesamtgefüge des Lebens einen natürlichen Platz einnehmen soll � ohne Übertreibung oder sentimentale Schwärmerei. Sie dekonstruiert folgerichtig auch die Begriffe von Feingeistigkeit und Tugendhaftigkeit, die im gesellschaftlichen Urteil ihrer Zeit über die Liebe so überaus wichtig waren, folgerichtig als das, was die nüchterne Betrachtung in ihnen sieht: Konventionalismus und Lüge, wenn nicht Selbsttäuschung.

Unbeirrt verfolgt sie diesen Weg noch weiter und schliesst, dass die Liebe in ihrer gesellschaftlich kodifizierten Form � als Flirt, Werbung, Liaison oder Ehe � nichts als ein Spiegel der Eitelkeiten ist. Als ein solcher verdient sie des Aufhebens, das man darum macht, ganz gewiss nicht; ein vernünftiger Mensch sollte deshalb �weltmännisch�, das heisst mit einer gewissen willentlichen Selbstbeherrschung und dem Wissen, dass es sich hierbei nur um ein Spiel handelt, mit ihr umgehen. Ganz besonders gilt das für kluge Frauen, die sich nicht naiverweise einbilden sollten, um ihrer selbst geliebt zu werden. Die Männer lieben sie nur, weil ihre �guten Eigenschaften ihrer Eitelkeit schmeicheln�, sprich um über den Umweg der Frau ein Weiteres zu erreichen, um das es ihnen eigentlich geht: ein Ende der Langeweile, Lustgewinn, finanziellen Vorteil, gesellschaftliches Ansehen oder, immer wieder, narzisstische Bestätigung ihrer Person. Da derselbe Mechanismus natürlich auch die Frauen zur Liebe motiviert, sollen sich die Männer ebenfalls hüten, die Trugbilder der Eitelkeit als persönliche Wertschätzung misszuverstehen.

Besonders die Rolle des Herzens als Symbol romantischer Liebe, aber auch als Alibi für unvernünftige Entscheidungen, kritisiert sie dabei aufs Härteste. Sie räumt zwar ein, dass das Herz, ähnlich wie es Pascal sieht, nicht gänzlich durch Vernunftgründe erschlossen werden kann, weigert sich aber, ihm Vorrang gegenüber der Vernunft einzuräumen.

Auf die Aussage des jungen Sevigné, man könne dem Herzen nicht gebieten, schmäht sie ihn: ob sein Hirn vielleicht vom vielen Romanlesen vernebelt sei? Das Herz ist für sie Befehlsempfänger, nicht Befehlsgeber, und sie hält es für eines vernünftigen Menschen höchst unwürdig, sich nicht unter Kontrolle zu haben. Für diese Art �Komödiantenmoral� hat Lenclos gar keinen Sinn. In ihren Augen hängt alle Lebensgestaltung vom Willen ab, da er das vernünftige Mass bestimmen hilft, wo das reine Gefühl blind und masslos ist. Geschulte Willenskraft als Kanalisationsmittel der Vernunft hilft also, den Epikuräismus des rechten Masses in allen Lebensangelegenheiten zu verwirklichen. Das Motiv hierfür ist nicht Mässigung an sich, sondern Selbstbestimmung: keine äussere Instanz oder soziale Konvention soll massgeblich für das eigene Engagement sein.

IV. Weibliche Moral: zwischen Gefallsucht und Angst

Das �Kamasutram� klassifiziert Frauen nach Aussehen und Temperament: von der optisch vollendeten, charmant-ausgeglichenen Lotusfrau bis zur ungestalten, übelgelaunten Elefantenfrau, "deren Liebhaber sich ihrer schämen", reicht die Skala, die voll von Zwischentönen und feinen Bemerkungen über die menschliche Natur ist. Der orientierungssuchende Mann, der anhand dieser Ratschläge eine Ehepartnerin aussucht, soll auf viele sichtbare und verdeckte Anzeichen achten, die den Charakter der Frau verraten. Werke, die dagegen vielmehr auf ein kurzfristiges Spiel als auf ein dauerhaftes Sich-Etablieren im Leben angelegt sind, sind eher strategisch als psychologisch aufgebaut. Ovid gibt in seiner �Ars amatoria� den jungen Römern taktische Waffen in die Hand, um im Theater, in der Arena, auf dem Markt und hinter geschlossenen Türen schnelle Vorteile im Liebeshandel zu gewinnen und Nachteile zu vermeiden.

Lenclos gibt ihrem Schützling natürlich hauptsächlich strategische Ratschläge, wie er sich in Gesellschaft und Liebe am besten einführt; diese kommen aber auch nicht ohne einen Hauch Psychologie, hier in der Gegenüberstellung von verschiedenen Frauentypen, aus. Sehr voluntaristisch und dabei pragmatisch vorgehend behauptet sie, es sei am Wichtigsten, herauszufinden, was man wolle, und folglich, wie und mit wem man es am erfolgreichsten verwirkliche. Will man eine spielerische, aber dennoch erfahrungsreiche Einführung ins Gesellschaftsleben, muss man konsequent eine bestimmte Sorte Frauen suchen: einfache und sprunghafte, und eine andere meiden: ernste und prinzipientreue.

Ihr Urteil über die Frauenwelt ist dabei grundsätzlich negativ. Die gewöhnliche Frau ist leichtfertig, oberflächlich und charakterlich ungefestigt, hinterfragt ihre Entscheidungen nicht und handelt ohne Besonnenheit. Da die meisten Frauen nach ihrer Einschätzung so sind, seien sie dementsprechend zu behandeln: freundlich wie zu einem Kind, spielerisch zu gewinnen, als Geliebte wertzuschätzen, doch nicht als gleichwertiger Partner.

Das gibt dem Mann seinerseits die Möglichkeit, sein Leben von dem der Geliebten zu separieren und den Kummer durch ihre Unbeständigkeit oder ihren Verlust gering zu halten. So gesehen, behält Epikurs massvolle Einsicht und vernunftorientierte Begrenzung durchaus wieder die Oberhand gegenüber dem, was ein Augustinus als das Mass der Liebe ansah: masslos zu lieben. Sie rät dem jungen Mann also, sich und seine Geliebte zu prüfen und seine Gefühle, die ihrer Auffassung nach immer Folgen von Denkmustern sind, auf ein für alle angenehmes, nicht übergrosses Mass willentlich zu reduzieren. Ein Mittel dazu ist, das Denken über die Liebe von gängigen Vorurteilen zu entkleiden und sie als natürliches Bedürfnis zu verstehen, das, wie jedes Bedürfnis, ohne Übertreibung und ohne Verweigerung, �wie der Durst� gelebt werden will.

Die Durchschnittsfrau eignet sich dabei trotz aller Widersprüche in ihrem unausgereiften Wesen gut als Geliebte, aber nicht als Seelenfreundin oder Vertraute. �Das grösste Unglück der Frauen ist, dass sie sich nicht genug mit ernsten Dingen zu beschäftigen wissen�, so geisselt sie ihr eigenes Geschlecht. Dieses ist jedoch, wie sie meint, eine Frage der Gesellschaft, die den Frauen nur in ihrer Eigenschaft als Geliebte oder Ehefrauen eine Stellung einräumt und sie daher dazu anregt, sich mit ernsteren Dingen wie auch der persönlichen Weiterentwicklung nicht zu befassen oder sie zu �vergessen�.

Zweierlei bestimmt dementsprechend das Handeln der Frauen, obwohl es ihnen selbst meist nicht bewusst ist: der Wunsch, zu gefallen, und die Angst vor gesellschaftlicher Verachtung. Um sie zu gewinnen, muss der Mann also ihrer Eitelkeit schmeicheln, ohne eine Konvention zu verletzen, und somit ihre beiden Wünsche erfüllen. Nur sehr wenige Frauen seien weiter an Ernsthaftigkeit und persönlicher Reife gross genug, um das zu sein, was die Philosophin als die schmeichelhafteste Rolle ihres Geschlechtes ansieht: eine wahre Freundin von Mann und Frau, dauerhafte Gefährtin und geistiger Komplize. Sie gibt allerdings auch zu, dass die Frauen untereinander oft ihre schärfsten Kritiker sind und sie ihre Geschlechtsgenossinnen möglicherweise zu kritisch betrachtet.

Lenclos begeht übrigens eine für viele Philosophinnen typische Handlung, indem sie ihr eigenes Geschlecht herabsetzt und sich selbst als �männlich denkend� oder als Mann in der äusseren Gestalt einer Frau bezeichnet. Es müssen von ihr aus noch viele Jahrhunderte vergehen, bis Frauen den Mut haben, zu ihrem eigenen Geschlecht zu stehen, ohne mit den vermeintlichen Exklusiveigenschaften des anderen zu kokettieren. Diese Souveränität, der ihr eigenes klares und selbstbestimmtes Denken zweifellos Ehre machen würde, fehlt ihr noch; für sie steht es fest, dass der Mann grosse natürliche Vorteile gegenüber der Frau besitzt und es ihr Ansporn sein muss, ihn nachzuahmen.

V. Überleben in einer demaskierten Gesellschaft

Fassen wir also die Ratschläge der Lenclos zusammen, so erhalten wir eine Strategie, die das epikuräische Ideal vom massvollen Genuss ohne Reue, oder mit möglichst wenig Reue, verwirklicht. Das gesellschaftliche Leben wird dabei schonungslos als eine oberflächliche Farce entdeckt. Nichtsdestoweniger ist hier tatsächlich Zerstreuung, Anregung, Liebenswürdigkeit und Schönheit zu finden, die man nicht weltflüchtig verleugnen soll. Um im Leben der Gesellschaft zu bestehen, ist es also notwendig, ihre Mechanismen von Erfolg und Ansehen vom Schein zu entkleiden und zu verstehen, dass es sich hierbei vor allem um Konventionen handelt, die der allgemeinen Eitelkeit schmeicheln. Da sie schwer veränderbar sind und auch die eigene Eitelkeit nicht unberührt lassen, soll man sich klug mit ihnen einverstanden erklären und sie zum eigenen Vorteil nutzen. Dazu gehört, dass man die Liebe, ein Zentrum gesellschaftlichen Interesses, als Lebensschule begreift, in die man wie ein besonnener Investor eingibt, ohne sich zu verschulden, oder, in den Worten der Lenclos, �Ökonomie walten lässt�.

Zunächst einmal soll der junge Mann, ganz im antiken Verständnis von der Liebe als Kriegsdienst, sich seine Sporen durch harmlose Manöverübungen verdienen, indem er durch unverfängliche Abenteuer die Frauenwelt kennenlernt, durch Flirt seine Hemmung überwindet und verschiedene Wege der Werbung ausprobiert. Dabei soll er zwar die Käuflichen und die Künstlerinnen als eine besonders kaltblütige und ausbeuterische Gruppe meiden, aber ansonsten alle Vorurteile fallen lassen, die ihm die Gesellschaft diesbezüglich suggeriert. Überhaupt wird ihm geraten, seine Sinne auf ein hübsches und leichtfertiges Mädchen zu richten, das kapriziös genug ist, um ihn dauerhaft zu fesseln, aber nicht tiefsinnig genug, um der Liebe einen Beigeschmack von Bitterkeit zu geben.

Die Liebe soll für den jungen Mann ein Spiel sein und erst, wenn er sich hierin bewiesen hat, soll er sie als Ernst kennenlernen. Die Freundschaft zu einer kulgen Frau mit einem stabilen Charakter, die freilich auch sexuelle Züge haben kann, doch sich nicht in ihnen erschöpft, wird als Optimum dargestellt, zu dem dem Unerfahrenen aber noch die Reife, wie auch das eigentliche Verlangen danach, fehlt. Nimmt die Freundschaft bei dieser Anti-Idealistin also doch den Wert eines Ideals ein, fast wie bei Schiller oder anderen Klassikern, deren Vorannahmen ihr sonst doch so fremd gewesen sein müssten?
Man könnte es fast meinen, wenn sie etwa offen beschreibt, wie gering sie das andere Geschlecht als Liebhaber und wie hoch als Freund schätzt und dass die Freundschaft generell so weit über Liebschaften erhaben ist. Gleichwohl rät sie dem jungen Mann dringend davon ab, sein Debüt in der Gesellschaft durch andere als nur oberflächliche Verbindungen zu verkomplizieren. Lenclos warnt ausdrücklich davor, die Geliebte anzuhimmeln oder sich allzusehr mit ihrem Wesen zu beschäftigen, da das den unbefangenen Spass an der Liebe und die spielerische Leichtigkeit trüben kann.

Sie betont auch den sinnlichen Charakter der Frau, der keinesfalls vom Mann abhängt, sondern ihr unabhängig von ihm zu eigen ist und der die aufgesetzte Ziererei der epochentypischen �Feinsinnigen� und �Preziösen�, die sie als �Jansenistinnen der Liebe� verspottet, als Scheinheiligkeit und Trug entlarvt. Dementsprechend rät sie dem jungen Mann zwar grundsätzlich zu feinem Respekt und taktvollem Umgang mit Frauen, aber nicht zu ängstlicher Befangenheit oder übergrosser Rücksicht, die aufgrund einer elementaren Ähnlichkeit beider Geschlechter nicht gerechtfertigt wäre.

Allerdings ist das zögerliche, hinhaltende Gebaren vieler Frauen ihrer Meinung nach oft auch kein regelrechter Betrug, sondern eine notwendige Phase innerhalb eines abgeklärten Spiels, in dem jeder Schritt genau berechnet ist. Die anfängliche Zurückhaltung der Frau hat nicht nur die Funktion, eine Naive im Glauben an ihre Tugend und eine Lebenserfahrenere im Spiel mit gesellschaftlichen Konventionen zu bestärken, sondern noch eine dritte, darüber hinausreichende. Durch dieses Verhalten macht die Frau, der ein unabhängiger Subjektstatus noch kaum zugestanden wurde, sich in Wirklichkeit in ganz besonderer Weise zum Objekt und zum Beutestück, das natürlich umso verlockender wirkt, je weniger entgegenkommend es ist. LenclosŽ Zeitalter, das in kriegerischen Metaphern von Angriff und Belagerung, Unterwerfung und sogar Niederlage spricht, kennt keinen Waffenstillstand in der Liebe. Das Ziel der Frau ist es, sich zur begehrten Trophäe hochzustilisieren, das Ziel des Mannes, solche zu sammeln; bringen wir hier einen aristotelischen Ausspruch kontextfern an, heisst es, es gibt kein Drittes.

Da diese starre Rollenverteilung alternativlos ist und wenig Raum für eigene Gestaltung lässt, folgert die Philosophin, ist es am zweckmässigsten, äussere Anpassung und innere Distanz, die wiederum nur eine illusionslose Einsicht bringen kann, zu leben. Dieser Schluss zeigt aber auch ganz deutlich, wie problematisch die Verbindung von Wille und Moral in der galanten Zeit wirklich und inwiefern Lenclos ein Kind ihrer Epoche war. Der Zweideutigkeit der Kultur zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird ebenso zweideutig begegnet, die konventionelle Lüge wird zwar kritisiert, aber mitgetragen, und die sexuelle Liebe als schlichtes körperliches Bedürfnis entwertet, aber eigentlich aufgrund einer zeittypischen Tugendhysterie, die zwar in offener Form belächelt wird, verdeckt jedoch wiederum im überschätzten Freundschaftsideal ihren Ausdruck findet.

VI: Ein Zeitmesser: unterwegs zu revolutionären Ideen

Es ist offensichtlich, dass die nüchterne Philosophie der Lenclos in vieler Hinsicht aussergewöhnlich und bemerkenswert ist. Dazu trägt ihr Anspruch, epikuräisch zu sein, eigentlich weniger bei. Obwohl wir Epikurs Grundgedanken vom rechten Mass in allen Dingen und der vernunftmässigen Begrenzung der Lust oft vorfinden, meist sogar sehr treffend für die jeweilige Gelegenheit adaptiert, machen sie nicht den Hauptreiz ihrer Schriften aus. Dieser besteht vielmehr darin, dass diese unerschrockene Frau Ideen aufgreift oder im Ansatz darstellt, die für uns Nachfolgende mehrheitlich erst Jahrhunderte später durch die Vermittlung klassischer Autoren bekannt geworden sind.

Haben wir denn richtig verstanden, was sich da so unscheinbar, im plaudernden Gesellschaftston und mit einem denkbar trivialen Gegenstand: der konventionellen Liebe, der Liebe à la mode, vorbereitet? Es sind drei Ideen, die, voll ausgereift, das siebzehnte Jahrhundert aus seinen Grenzen gesprengt hätten, und die doch schon hier entstanden.

Sehen wir zunächst einmal, was bereits da ist. Die humanistische Ausbildung, das Studium der griechischen Philosophen, die betonte Stellung des Subjektes und der Selbstentfaltung in der Renaissance, erste antikirchliche und antitheistische Vorstösse, all das sind Voraussetzungen für die forsche Demaskierung gesellschaftlicher Vorurteile. Die Rolle des Subjektes und seiner Möglichkeiten, wirksam zu werden, ist dabei bereits von Theologie abgelöst; die einzige Instanz, die wahrhaft schöpferisch ist, ist der eigene Wille, auch und gerade im Konflikt mit gesellschaftlicher Fremdbestimmung. Diese nur an der Oberfläche zu respektieren, aber dennoch seinen Willen zu realisieren, ist für Lenclos der Schlüssel zu einem vernünftigen, glückbaren und im Grunde moralisch autonomen Leben. Der Wille wird also, noch über Epikur hinausgehend, aufgefasst als das grosse gestalterische Moment, das das Leben zur steten Weiterentwicklung bringt und den man daher meistern muss, um Herr zu sein über das, was schon nicht mehr Schicksal heisst.

Was kommt aber neu hinzu oder entwickelt sich hieraus? Wir sehen zunächst eine Psychologie im Keimstadium, die sich erst viel später über Nietzsches �physiologische� Versuche tastend weiter zu den Psychoanalytikern und Tiefenpsychologen entwickeln soll und die heute noch lange nicht zu Ende gedacht ist. Die Liebe als ein natürlicher Trieb, der von der Gesellschaft unterdrückt wird und folglich zwischen Angst und Sehnsucht ausgelebt wird, die Motivation, durch die Liebe narzisstische Bestätigung zu finden, sogar das Vergessen als aktive Leistung und �vis inertia�, wie der Nihilist meint und was später Verdrängen heissen soll, alles ist schon da, provokant und entwicklungsfähig.

Allerdings mit einem grossen Unterschied: während sich in Freuds berühmtem Ausspruch �das Moralische von selbst versteht�, befasst sich Lenclos überaus kritisch mit dem ethischen comme il faut, das für sie schon alles andere als selbstverständlich ist. Sie ist bereits so weit, die metaphysische Vorstellung vom fundamental verschiedenen Charakter der Geschlechter soziologisch zu kontrapunktieren: man wird zum Mann oder zur Frau erzogen, wie man zum Landwirt oder zur Schneiderin ausgebildet wird. Das gesellschaftliche Spiel um Liebe und Ansehen ist eine Folge aus der anerzogenen Fähigkeit, diese Rollen zu beherrschen, und nur wer sie beherrscht und den Spielcharakter versteht, kann gewinnen. Wer Rolle und Identität verwechselt, hat verloren.

Mit brillanter Einsicht schliesst sie, dass man diesen fatalen Irrtum den Frauen bei ihrer Erziehung genauso systematisch beibringt, wie man ihn den Männern ausredet. Die Frau ist ihre Rolle, der Mann spielt sie. Wer jedoch seine Rolle nur spielt, ohne seine Persönlichkeit unterschiedslos darin zu erschöpfen, ist souveräner, unabhängiger von Fremdmeinungen und näher am eigenen Willen. Durch die anerzogene Distanz zum gesellschaftlichen Spiel und die Fähigkeit, seine Identität selbstbestimmt zu begründen, hat der Mann der Frau gegenüber dementsprechend einen unschätzbaren Vorteil; generell gründen die meisten Vor- und Nachteile der Geschlechterrollen hierin. Diese Art, Psychologie soziopolitisch zu verstehen, greift vielem voraus, was etwa die Brüder Goncourt und in anderer Form auch Fromm und Reich viel später darstellen werden.

Wir sehen zuletzt, wie sich über die psychologische Untersuchung der Moral, der eine soziologische anschliesst, ein feministischer Zug entwickelt. Nicht die Frauen an sich sind verachtenswert, sondern das Ergebnis der Erziehung zur Frau, das einem willentlich bestimmten Leben derart entgegensteht. Dennoch Vorsicht vor einer vorschnellen Politisierung, denn diese Dame in Reifröcken war trotz aller Kritik in der Gesellschaft ihrer Zeit zuhause, sie war keine Barrikadenstürmerin! Aber sie war eine Pionierin einer Denkweise, die erst im neunzehnten Jahrhundert populärer und erst im zwanzigsten unangefeindet lebbar wurde: die der Entmystifizierung des Körpers und der Autonomie des Willens, zwei Faktoren, die einer weiblichen Selbstbestimmung immer vorangehen.

Donnerstag, 29. März 2007

Vaterschaft im Wandel

Stephan Barth

Vaterschaft im Wandel

1. Einleitung

Dass entscheidende Weichenstellungen für das gesamte spätere Leben bereits in der Kindheit erfolgen, wusste man früher aus unmittelbarer Erfahrung, mittlerweile konnte es auch wissenschaftlich nach­gewiesen werden. Die prägenden Personen in diesem Lebensabschnitt sind die Eltern. Während das wissenschaftliche Interesse sich lange Zeit lediglich auf die Bedeutung der Mutter konzentrierte, blieb der Vater weitgehend unberücksichtigt. Erst in letzter Zeit setzte sich ein Bewusstsein für die pädago­gisch-psychologische Bedeutung des Vaters durch, das sich in einer steigenden Zahl entsprechender Studien ausdrückt.

Einher geht dies mit einem gewandelten Verständnis von Vaterschaft auf der Basis allgemeinen sozia­len Wandels.

Im Rahmen meiner Arbeit möchte ich zunächst die Geschichte der Vaterschaft in groben Zügen refe­rieren. Ein Ergebnis wird sein, dass die Vaterschaft historisch immer stärker an Bedeutung eingebüßt hat. Interessant scheint mir daher, anhand einiger theoretischer Ansätze zur Vaterschaft und anhand konkreter Ergebnisse der Vaterforschung zu überprüfen, ob dieser historische Bedeutungsverlust hier eine Entsprechung findet. Im Anschluss werde ich heutige Vaterbilder beschreiben und insbesondere auf die Folgen "neuer" Vaterschaft eingehen, da dieses Vaterbild von seinen Verfechtern als Ausweg aus der Vaterkrise bezeichnet wird.

Abschließend sollen die Ergebnisse komprimiert und diskutiert werden.

2. Geschichte der Vaterschaft

Die Geschichte der Beziehung zwischen Eltern und Kindern zeigt, dass die Eltern-Kind-Beziehung, wie wir sie heute für "natürlich" und erstrebenswert halten, in früheren Zeiten ganz anders und unter­schiedlich gestaltet war. Spillmann gelangt zu der Einschätzung, das Verhältnis zwischen Eltern und Kinder sei offensichtlich durch keine Natur vorgegeben, sondern in einem erstaunlich weiten Maße offen, d.h. jeweils durch materielle Bedingungen und kulturelle Prägungen bestimmt und damit be­ständig historischem Wandel unterworfen.

Lenzen beschreibt Vaterschaft im alten Ägypten als suszipitiv und als patronistisch. Mit ersterem verbunden ist, dass die väterliche Versorgung der Kinder in Tauschgeschäften bestand, nämlich dem Austausch von Dienstleistungen gegen Versorgungsleistungen der Kinder. Diese Versorgungsleistun­gen bestanden wesentlich im Beschützen und Ernähren der Kinder.

Der Begriff der patronistischen Vaterschaft scheint Lenzen angebracht, weil die Vater-Kind-Bezie­hung die selben Inhalte umfasst wie die Vater-Untergebenen-Beziehung.

Obwohl es im alten Ägypten auch Schulen gab, war doch die Erziehung durch den Vater dominant, allerdings nur die des Sohnes. Der Vater vermittelte dem Sohn die kulturelle Tradition und lehrte ihn, was ein guter Vater sei, damit er diese Aufgabe später übernehmen könne.

Auch die frühe hebräische Kultur war patriarchalisch ge­prägt. Der Vater stand der Familie als Ober­haupt vor. Er kontrollierte die zu treffenden Entscheidun­gen ein­schließlich der Auswahl der Ehepart­ner für seine Kinder. Die Vater-Kind-Beziehung war durch Strenge und Härte charakterisiert.

Das israelitische Vaterbild ist als Synonym des Gottvaterbildes beschrieben worden. Der Vater ist für das Beschützen und Ernähren, aber auch für das Züchtigen verantwortlich, das als integraler Bestand­teil der Erziehung, im Grunde als seine Verkörperung selbst angesehen wurde.

Im antiken Griechenland existierte kein einheitliches Vaterbild. Lenzen unterscheidet drei Epochen, nämlich die epische Zeit, Sparta und die attische Polis. In der epischen Phase, vor allem aber während der spartanischen Herrschaft wird der leibliche Vater im erzieherisch-sozialisatorischen Sektor zu­rückgedrängt. Pädagogische Aufgaben übernehmen päderastische Liebhaber im Rahmen einer Ge­meinschaftserziehung, die vor allem militärisch ausgerichtet ist. Dennoch ist der Begriff der Väter­lichkeit anzutreffen: Der Knabe wird als Produkt zweier Väter gedacht, nämlich eines leiblichen, der seinen Körper zeugt und eines "sozialen", der in der päderastischen Simulation der Zeugung seinen Charakter formt, denn die Tüchtigkeit steckt im Samen des Liebhabers. Für Lenzen ist hier ein Ur­sprung des Erziehers, der später kein zweiter, sondern der alleinige "öffentliche" Vater werden solle. Wäh­rend der Hochphase der attischen Polis wird der Vater dann nämlich gänzlich auf seine geneti­sche und legitimatorische Funktion begrenzt (letzteres, als zur Polis-Bürgerschaft lediglich das Kind zählen konnte, das väter- wie mütterlicherseits von Polis-Bürgern abstammte).

Das antike Rom wird im allgemeinen als Inbegriff des Patriarchats beschrieben: Das Vater-Kind-Ver­hältnis wurde in erster Linie als Sachbesitz und nicht durch Liebe und Fürsorge interpretiert. Väter hatten ein weitgehendes Desinteresse an der Kinderaufzucht. Verweigerte der Vater die Annahme des Kindes, hatte dies fast ausnahmslos dessen Tod zur Folge. Er hatte als Inhaber der absoluten väterli­chen Gewalt ("patrias potestas") das Recht auf körperliche Züchtigung und konnte bis in das fortge­schrittene Alter seiner Kinder über deren Leben und Tod entscheiden. Die Söhne durften keinen eige­nen Haushalt gründen, bis der Vater starb. Lenzen vertritt demgegenüber die Auffassung, der Herr­schaftsaspekt sei bei der heutigen Betrachtung des antiken römischen Vaters entschieden übergewich­tet. Er begründet dies damit, dass lange Zeit lediglich juristische Quellentexte herangezogen worden seien. Ein neuerer Ansatz habe nun auch literarische Texte analysiert, wodurch sich ein relativiertes Bild ergeben habe: Väter haben danach im antiken Rom durchaus auch fürsorgerische Aufgaben wahrge­nommen, außerdem sei es von einer kritischen Öffentlichkeit überwachter Usus gewesen, die Macht­fülle unter dem Gesichtspunkt der Barmherzigkeit und nicht der Grausamkeit auszuüben.

Im frühen Christentum entwickelt sich dann eine Tendenz zur Vergeistlichung der Vater-Kind-Bezie­hung. Es setzt überdies ein Prozess der Entdifferenzierung zwischen Vater- und Mutterschaft ein, da die in dieser Epoche erklärte Utopie der Vaterschaft, nämlich die emphatische Väterlichkeit, feminine Züge trägt.

Im Mittelalter verliert die Vaterschaft an Bedeutung. Lenzen führt dies u.a. auf Veränderungen in der christlichen Kirche zurück. Um das Jahr 1000 n.Chr. wurde das Verbot der Priesterehe erlassen. Priester werden damit aus dem Lebensalltag der Menschen, innerhalb dessen die Familie und natür­lich die Vaterschaft eine besondere Rolle spielt, entlassen. Priester können keine Väter mehr werden. Es kommt zu einer Höherbewertung der geistlich motivierten Askese und damit implizit zu einer Ab­wer­tung der Vaterschaft als männlicher Existenzweise.

Im 12. und 13. Jahrhundert kam es insbesondere von philosophischer Seite zu einer Neubewertung, zu einer Höherbewertung des Weiblichen. Erstmalig werden Gedanken der Partnerschaftlichkeit formu­liert.

Im 14. Jahrhundert kommt es zu einer Krise des Papsttums, in deren Verlauf väterliche Konzep­te an Bedeutung einbüßen und die Marienverehrung und damit die Verehrung der Mütterlichkeit einen er­sten Höhepunkt erreicht.

Hinzu kommt, dass bereits nach der Lehre von Thomas von Aquin der Vater in geistlicher Hinsicht durch Gott ersetzt ist und in Fragen der Ausbildung durch Lehrer ersetzbar ist. Eine Seelenverbindung zwischen Vater und Sohn wird geleugnet und damit auch die Notwendigkeit eines geistlich-pädagogi­schen Verhältnisses zwischen Vater und Kind. Der Vater wird letztlich bereits im Mittelalter auf seine Funktion als Ernährer und Beschützer reduziert.

Während der Renaissance und zu Beginn der Neuzeit begann ein tiefgreifender Wandel in den Fami­lienbeziehungen, der zu dem privaten Familiengefühl führte, das auch noch für die Gegenwart kenn­zeichnend ist. Len­zen führt diesen Wandlungsprozess u.a. auf die Erfahrung der großen Epidemien hin, die zu einem veränderten Wert der Kinder für die Familien geführt haben. Damit wurde auch die Grundlage für eine engere Beziehung zwischen Eltern und Kinder gelegt. Kon­krete Auswirkungen hatte dies für die Beziehung zwischen Mutter und Kind, bedeutend weniger für die zwischen Vater und Kind. Bedingt durch die einsetzende Landflucht verdingten sich viele Männer weit ab ihrer Hei­mat und Familien als Arbeiter und Handwerker, was dazu führte, dass viele Kinder weitgehend vater­los aufwuchsen Auch langandauernde Kriege bedingten Vaterabwesenheit.

Mit der Entdeckung anderer Kulturen, aber auch neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, beginnt das alte Weltbild zu wanken und mit ihm seine Traditionen.

Mit der Reformation rückte auch theologisch die Elternschaft an die Stelle der Vaterschaft. Der Einfluss der Mutter war nun göttlich gewollt, sie wurde ausdrücklich auch mit der Erziehung und Ausbil­dung der Kinder betraut. Dies wiederum tradierte durch die so Erzogenen ein verändertes Vater­schaftsbild. Weiterhin von entscheidendem Einfluss ist aber auch Luthers Auffassung, die Ehe sei keine Angele­genheit der Kirche, sondern des Staates. Damit ist auch die Basis dafür gelegt, dass zu einem späteren Zeitpunkt ehemals väterliche Aufgabe an den Staat delegiert werden.

Mit dieser späteren Phase ist die Epoche der Aufklärung gemeint, in deren Zuge mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht das Ausbildungsmonopol des Vaters endgültig gebrochen wurde. Es kam - wie Lenzen es formuliert - zu einer Vervielfältigung des Vaters, nämlich durch den nun boo­menden Lehrerstand.

Gerade in der französischen Revolution sieht Lenzen den Ausdruck der Zerstörung des Vaterprinzips: Die Freiheit entbindet von der Bevormundung durch den Vater, die Gleichheit zerstört den Respekt vor der Leistung der Vorfahren und die Brüderlichkeit lässt nurmehr eine Verwandtschaftsbeziehung zu, nämlich diejenige innerhalb derselben Generation.

Seit dem 18.Jahrhundert übernahmen die Mütter viele der ehemals väterlichen Aufgaben, sie wurden Hausvorsteherinnen und zuständig für die Kindererziehung. Dies korrespondierte mit der zunehmen­den Trennung von Haus und Arbeitsstelle der Väter. Die Frauen ihrerseits wurden von der Pflicht freigestellt, durch eigene Arbeit zum materiellen Unterhalt der Familie beizutragen. Faktische Wirk­samkeit entwickelte dies jedoch zunächst lediglich in der Schicht der Beamten, der Akademiker, der bürgerlichen Intelligenz und des Adels. Dort begegnet man der intimisierten Privatfamilie, die ihren Kindern große Aufmerksamkeit widmet und ihnen bestmögliche Bildungschancen eröffnet.

Demgegenüber spielt das Familienleben bei den kleinen Bauern, Handwerkern und dem späteren In­dustrieproletariat keine tragende Rolle. Mütter und Väter müssen durch Arbeit den Lebensunterhalt verdienen, wodurch Kinder eher als Last empfunden und sich selbst überlassen werden. So früh wie möglich werden die Kinder selber in den Arbeitsprozess integriert.

In beiden Modellen war der Vater der Alimentationspflichtige. Die Männer der unteren Schichten erlebten allerdings die Notwendigkeit der Berufstätigkeit ihrer Frauen als demütigend. Es wurde zum erstrebenswerten Ziel, die Frauen nicht auf Arbeit schicken zu müssen, eine Vorstellung, die noch bis in die Gegenwart vorhanden ist und die zur Übernahme der häuslichen und Erziehungsaufgaben durch die Mütter beitrug. In dem Maße, indem Väter ihre Funktionen an den Staat abzugeben hatten, über­nahm dieser quasi das väterliche Erbe, allerdings in Form totalitärer Erziehung. Gleichzeitig erfanden Pädagogen das Konzept der Mutterliebe. In besonderer Weise ist hier Pestalozzi zu nennen,

Interessant lässt sich der Wandel in den Beziehungen des Kindes zur Mutter einerseits und zum Vater andererseits anhand der Entwicklungen in bezug auf die Ausgestaltung des Sorgerechts nachvollzie­hen. Noch bis in das 19. Jahrhundert wurden Kinder als väterliches Eigentum betrachtet, was zur Folge hatte, dass im Falle der elterlichen Scheidung das Sorgerecht beim Vater verblieb. Erst im 19. Jahrhundert begann man in England nun auch juristisch vom Konzept der absoluten väterlichen Er­ziehungsgewalt abzu­weichen, interessanterweise dadurch, dass nun auch geschiedenen Frauen ein Recht auf Eigentum - unter anderem im Hinblick auf Kinder - zugestanden wurde. Erst die Prozesse der Industrialisierung und Urbanisierung führten jedoch zu einer deutlichen Rollenteilung zwischen Vätern und Müttern. Aus heutiger Sicht waren es in erster Linie ökonomische Gründe, die zur Postu­lierung eines "mütterlichen Instinkts" und zu einer Glorifizierung der Mutterschaft führten, wodurch der Beitrag des Vaters zur Kindererziehung als marginal charakterisiert wurde. Einher ging dies mit der Entwick­lung psychologischer Theorien, die eine größere Bedeutung der Mutter für die Entwick­lung des Kin­des behaupteten, was zur Verbreitung der festen Überzeugung führte, Kinder gehörten im Falle der Scheidung regelmäßig zur Mutter.

Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde erstmals die Frage des Kindeswohls bei der Entscheidung über das Sorgerecht aufgeworfen und damit den Interessen und Bedürfnissen der Kinder Rechnung getra­gen.

In diesem Zusammenhang spricht Lenzen unter Hinweis auf Ellen Key auch vom Jahrhundert des Kindes, von der Vergöttlichung des Kindes und der Mutterschaft.

Ausdruck geänderter Vaterkonzeption ist auch die bündische Jugendbewegung, die den Grundstein für das Führerprinzip legte, wobei die Führer im Grunde die Vaterfunktionen wahrnahmen. Ihre ex­treme Ausprägung fand dies Führervaterschaft im Nationalsozialismus, wodurch wiederum der Ge­danke der Vaterschaft unautorisiert in Misskredit geriet.

In der Gegenwart beschränkt sich die väterliche Funktion vielfach in der Tat lediglich noch auf die Alimentation. Der Staat hat die Funktionen des Ausbildens und des Beschützens geradezu exklusiv an sich gezogen.

Dass sich seit den 80er Jahren eine selbsternannte Gegenbewegung, nämlich die "neuen Männer" in Szene setzt, hat für Lenzen andere Gründe als die Betonung des Werts der Vaterschaft. Zwar werde offensiv davon ausgegangen, das Kind brauche den Vater, doch sei in Wirklichkeit eher gemeint, die Mutter brauche den Hausmann. Die "neuen" Väter werden von ihm eher als Resultat der vernichten­den Väterkritik der Frauenbewegung gesehen.

3. Theoretische Ansätze zur Vaterschaft


Zur Fundierung der Vaterschaft, der Vaterrolle lassen sich eine ganze Reihe von Theorien heranzie­hen, die allerdings zum Teil sehr unterschiedliche Perspektiven der Vaterforschung repräsentieren. An dieser Stelle sollen einige dieser Theorien ansatzweise vorgestellt werden.


3.1. Psychoanalyse


Der Psychoanalyse wird in zahlreichen neuen Arbeiten zur Vaterrolle vorgeworfen, ein entscheiden­der Hemmfaktor der Erforschung der Vater-Kind-Beziehung gewesen zu sein. Das psychoanalytische Interesse am Vater reduzierte sich in der Tat in erster Linie auf die Betrachtung der phallischen Ent­wicklungsstufe in der psychosexuellen Entwicklung. Die Bedeutung des Vaters blieb für die Zeit vor dem vierten Lebensjahr des Kindes unbehandelt.

Wenn Lenzen von der Liquidation des Vaters im 20. Jahrhundert spricht, so hat die Psychoanalyse dafür den theoreti­schen Rahmen geliefert, indem sie die These von der Exklusivität der Mutter-Kind-Beziehung auf­rechterhalten hat. Aus psychoanalytischer Sicht war die Mutter für das Kleinkind die primäre oder sogar die ausschließliche Bezugsperson. Demgegenüber wurde die Vater-Kind-Bezie­hung deutlich nachgeordnet, deren Untersuchung im frühesten Kindesalter zunächst gänzlich unter­blieb.

Freud behandelte in seinen Arbeiten im wesentlichen drei Aspekte der Vater-Kind-Beziehung:

- Gefühle der Liebe und Bewunderung für den Vater in der vorödipalen Phase (insbesondere beim Jungen) seien wesentliche Voraussetzungen für das spätere Gelingen einer positiven Identifikation mit ihm.

- eines der stärksten Bedürfnisse des Kindes, nämlich Schutz bei jemandem zu suchen, brachte er in Zusammenhang mit der Beziehung zum Vater und

- das Kleinkind erlebt den Vater als Autorität, von der Bestrafung ausgehen kann.

Die hierin zum Ausdruck kommende Qualität der Vater-Kind-Beziehung erreicht ihr volles Gewicht für den Jungen in der phallisch-ödipalen Entwicklungsstufe und äußert sich in Ängsten und Phanta­sien, in denen er den Vater als bedrohend, bestrafend und kastrierend erlebt.

Für das Mädchen wird der "ödipale" Vater zum Hauptliebesobjekt, auf das seine Sexualwünsche wäh­rend des "positiven" Ödipus-Konfliktes gerichtet sind.

Mitte der vierziger Jahre befasste sich Anna Freud mit der internalisierten Repräsentation des Vaters. Bei ihrer Untersuchung der Gefühle, Phantasien und Wünsche des Kleinkindes in bezug auf den Vater kam sie zum Ergebnis, die Vater-Kind-Beziehung bilde erst ab dem zweiten Lebensjahr einen integra­len Bestandteil des kindlichen emotionalen Lebens.

Nach Loewald (1956) besteht die Hauptaufgabe des Vaters darin, dem Ich des Kindes zu dessen grö­ßerer Organisation, Differentiation und Integration zu verhelfen, um es unabhängig von der Mutter zu machen. Melanie Klein (1955) unterstrich, dass bereits Kleinkinder im Säuglingsalter Kontakt zu ih­rem Vater haben und Bindung an ihn zeigen.

In den sechziger Jahren begann eine zunehmende Zahl von Psychoanalytikern auf die Bedeutung des Vaters in der frühkindlichen Persönlichkeitsentwicklung hinzuweisen und die Bedeutung der frühen Vater-Sohn-Beziehung hervorzuheben. Seit dieser Zeit widmet die Psychoanalyse ihr Augenmerk auch verstärkt dem Prozess des Vaterwerdens.

In den siebziger Jahren differenziert sich dieser Blick noch. Nun wird die Bedeutung der Vater-Kind-Beziehung für den Prozess der Identifikation und Individuation des Kindes gesehen, zudem gewinnt der systemtheoretische Ansatz an Bedeutung, nach dem beide Elternteile und auch die übrigen Fami­lienmitglieder für die Entwicklung des Kindes von Bedeutung sind. Außerdem habe der Vater in der vorödipalen Phase insofern große Bedeutung, als er dem Kind eine Beziehung biete, die weniger am­bivalent sei als die der Mutter. Betont wird weiterhin die väterliche Bedeutung bei der Entwicklung der Geschlechtsrol­lenidentität bei Jungen, es wird aber auch darauf hingewiesen, dass auch die Ge­schlechtsrollenidentität des Mädchens nicht nur von einer erfolgreichen Identifikation mit der Mutter abhängig sei.

Zusammenfassend lässt sich bei den neueren Ansätzen eine zunehmende Tendenz einer systemtheore­tischen Perspektive erkennen mit der Konsequenz einer angemesseneren Beurteilung der Bedeutung aller Familienmitglieder und damit auch des Vaters.

3.2. Lerntheoretische Ansätze

Unter diesem Oberbegriff lässt sich eine Vielzahl durchaus heterogener theoretischer Vorstellungen zusammenfassen, deren Gemeinsamkeit sich noch am ehesten an ihrer Abkehr von biologistisch-evolutionistischen und psychoanalytischen Modellen festmachen lässt.

Die klassischen Lerntheoretiker wie Pawlow, Skinner oder Watson machten keine Aussagen zur Vaterrolle, sie interessierten sich zunächst lediglich für Reize und Reaktionen allgemein. Das bedeu­tet jedoch nicht, dass nicht auch die klassischen Lerntheorien von Einfluss auf die Interpretation des Vater-Kind-Verhältnisses gewesen sind. Gerade in der Entwicklung diverser verhaltenstherapeuti­scher und -modifikatorischer Programme für die Familientherapie und -beratung haben sich lerntheo­retische Erkenntnisse fruchtbar niedergeschlagen. Vom theoretischen Standpunkt gesehen ist hier der Vater "Auslöser" oder auch "Verstärker" bestimmten Verhaltens des Kindes. Gemäß der lerntheoreti­schen Überzeugung, das menschliche Verhalten sei weitgehend durch Variation der Umweltbedin­gungen veränder- und steuerbar, wurde der Vater als eine "Umweltvariable" des Kindes begriffen, die durch ihre je spezifische Qualität die Verhaltensweise des Kindes mitbestimmt und durch eine ent­sprechend zielgerichtete Einflussnahme (z.B. Erziehung) auch zielgerichtet verändern kann.

Wesentliche Impulse für die Vaterforschung brachte die Theorie des sozialen Lernens (Bandura/Walters 1963). Die weitgehende Ablösung von Trieb- und Stimulus-Response-Modellen zugunsten des Imitationslernens am sozialen Modell intensivierte vor allem auch Forschungen zum Geschlechtsrollenerwerb, was zwangsläufig zu einer stärkeren Beachtung des Vaters bzw. der Vater­rolle führte.

Ein Grundgedanke der sozialen Lerntheorie ist, dass Verhalten nicht der unmittelbaren Verstärkung bedarf, damit es von einem Kind übernommen wird. Es genügt bis zu einem gewissen Grad, dass das Kind beobachtet, ob ein Modell für das entsprechende Verhalten positive oder negative Konsequen­zen erfährt, damit es selbst dieses Verhalten in sein Repertoire aufnimmt oder entfernt. In dem Maße, in dem das Vaterverhalten positive Aufmerksamkeit und Gratifikation in der Familie erfährt, wird der Vater zum attraktiven Modell für die Kinder und bewirkt bei ihnen eine Übernahme seines Verhal­tens. Sofern es nicht von herkömmlichen Mustern abweicht, hat dies auch eine Tradierung der Ge­schlechtsrollen zur Folge.

Kennzeichnend für Lerntheorien ist ihr Verständnis vom Menschen, das ihn weitgehend als passives Individuum darstellt, dessen Verhalten ausschließlich aus Reaktionen auf jeweils bestimmten Bedin­gungen (Reize, Modelle etc.) besteht. Die kognitive Wende der Lerntheorie in den siebziger Jahren trug diesem Umstand insoweit Rechnung, als sie ein erweitertes Verständnis von Sozialisation er­laubt. Es werden nun nicht mehr nur die wechselseitige Sozialisation, etwa von Vater und Kind, son­dern auch die im klassischen Modell nicht vorstellbare Selbstsozialisation. Damit wurde der Weg frei für ein umfassenderes Verständnis des Sozialisationsvorgangs, wie es heute vor allem in systemtheo­retischen und ökologischen Theorien seinen Niederschlag findet.

3.3. Systemtheoretische Ansätze

Die allgemeine Systemtheorie hat die theoretische Entwicklung auf sozialwissenschaftlichem Gebiet in vielfältiger Weise beeinflusst und befruchtet. Dies gilt auch für die Vater-Kind-Beziehung.

Auf einer sehr allgemeinen Ebene wird ein System als eine Menge miteinander in Zusammenhang stehender Elemente betrachtet, in denen jedes Element andere Elemente beeinflussen kann und auch von diesen beeinflussbar ist. Die Elemente sind also gleichzeitig Objekte und Subjekte der Beeinflus­sung.

Eine Grundannahme der Systemtheorie ist, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Das bedeutet, dass selbst bei vollständiger Kenntnis der Eigenschaften jedes Elements die Eigenschaften des Systems nicht ohne weiteres vorhergesagt werden können.

Betrachtet man z.B. das System "Familie", so sind dessen Elemente nicht lediglich die einzelnen Familienangehörigen. Das System beinhaltet vielmehr eine ganze Reihe von Subsystemen als Elemente, die ebenfalls Elemente der Beeinflussung darstellen. Dazu zählen z.B. das Subsystem der Eltern, der Ehepartner, das Mutter-Kind-Subsystem, das Vater-Kind-Subsystem, Das Subsystem der Geschwister usw. Aus dem Verhalten der einzelnen Familienmitglieder kann aufgrund der vielfältigen wechselseitigen Beeinflussungsprozesse nicht auf das Verhalten der Familie insgesamt geschlossen werden.

Unterschieden wird von Systemtheoretikern zwischen Interaktionen und Beziehungen in einem Sy­stem. Aus beobachtbaren Interaktionen kann demnach nur bedingt auf Vorhandensein und Qualität einer Beziehung zwischen den Mitgliedern geschlossen werden. Aus einer unterschiedlichen Interak­tion zwischen Mutter und Kind bzw. Vater und Kind ergibt sich deshalb nicht zwangsläufig eine Un­terschiedlichkeit der jeweiligen Beziehung. Umgekehrt können ähnliche Interaktionsmuster durchaus das Ergebnis unterschiedlicher Beziehungen sein.

Es bestehen häufig konsistente Unterschiede in der Menge der Zeit, die Mütter und Väter mit ihren Kindern verbringen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass damit notwendig ein geringerer Einfluss der Vä­ter auf ihre Kinder verbunden ist. Die Bedeutung, die Väter für die Entwicklung ihrer Kinder haben, lässt sich wahrscheinlich fruchtbringender über die spezifische Qualität ihres Beitrags im sozialen Netzwerk des Kindes bestimmen als über die Häufigkeit und Dauer ihrer Interaktionen mit dem Kind.

Kennzeichen eines entwickelten Systems ist seine funktionelle Differenzierung im Vergleich zu einer bloß segmentären Differenzierung. Dies bedeutet, dass unterschiedliche Funktionen, die die Fami­lienmitglieder jeweils innehaben, in bezug auf das Familiensystem als Ganzes zu sehen sind. Solche Unterschiede bestehen beispielsweise hinsichtlich der Art des Spiels und der kognitiven Anregung, die die Eltern den Kindern geben, des Beitrags zur Geschlechtsrollenentwicklung, der Beteiligung an der körperlichen Fürsorge für die Kinder oder in der je spezifischen Form der Arbeitsteilung zwischen Vater und Mutter. Damit wird dem Kind ein differenzierter Erfahrungshintergrund gegeben, von dem anzunehmen ist, dass er von großer Bedeutung ist für die Art und Weise, wie ein Kind lernt, sich an­gemessen in der sozialen Welt zu verhalten.

Im Licht der Systemtheorie greifen die übrigen Ansätze zur Klärung der Bedeutung des Vaters inso­weit zu kurz, als sie ihn isoliert und nicht als Element eines differenzierten funktionalen Systems be­trachtet haben. Systemtheoretiker werfen der traditionellen Vater-Forschung vor, insoweit Artefakte geschaffen zu haben, als sie auf einer unangemessenen Theoriegrundlage und Untersuchungsmethodik basiere.

3.4. Ökologische Ansätze

Bronfenbrenner (1981) hat ein Konzept erstellt, das in vielerlei Hinsicht als paradigmatisch für die ökopsychologische Familienforschung gelten kann. Ich werde deshalb hauptsächlich darauf Bezug nehmen.

Bronfenbrenners Modell besteht aus vier Modellen, die sich jeweils konzentrisch umfassen. Im Mit­telpunkt steht das Mikrosystem, das durch ein Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen gekennzeichnet ist, die die in Entwicklung begriffene Person in einem gegebenen Lebensbereich mit den ihm eigentümlichen physischen und materiellen Merkmalen erlebt.

Das Mikrosystem ist umgeben vom Mesosystem, das die Wechselbeziehungen zwischen den ver­schiedenen wichtigeren Lebensbereichen (Settings) bezeichnet, an denen die sich entwickelnde Per­son aktiv beteiligt ist. Ein Setting ist dabei definiert als ein Ort mit besonderen physikalischen Eigen­schaften, in dem sich die Teilnehmer in spezifischer Weise in spezifischen Rollen und in spezifischen Zeitabschnitten betätigen.

Beide Systeme sind wiederum umgeben vom Exosystem. Darunter werden ein oder mehrere Lebens­bereiche verstanden, an denen die sich entwickelnde Person nicht selbst beteiligt ist, in denen aber Ereignisse stattfinden, die beeinflussen, was in einem Lebensbereich geschieht, oder die davon beeinflusst werden.

Alle drei Systeme sind eingebettet zu sehen in das Makrosystem, das Normen, Wertvorstellungen und Einstellungen bzw. ihnen zugrundeliegende Weltanschauungen und Ideologien beinhaltet.

Der wohl deutlichste Gewinn einer ökopsychologisch orientierten Vorgehensweise in der Vaterfor­schung besteht darin, dass sich der Beitrag des Vaters an der familialen Sozialisation kontextuell ange­messen thematisieren lässt und weiterhin die Abhängigkeit dieser Sozialisationsleistung von verschie­denen Rahmenbedingungen genauso wie ihre Rückwirkungen auf die Umwelt explizit und systema­tisch zum Gegenstand der Forschung werden.

Der entscheidende Gedanke ist dabei, dass nicht einfach zusätzliche Variablen in den Untersuchungs­zusammenhang mit aufgenommen werden, sondern dass Wechselwirkungen zwischen Systemen und Teilsystemen in den Mittelpunkt des Interesses rücken. So werden z.B. neben den dyadischen Bezie­hungen in der Familie auch triadische oder allgemein multiple Beziehungen betrachtet. Der system­theoretische Bezug liegt hier auf der Hand. Schmidt-Denter baut z.B. seine ökopsychologische Analy­se der sozialen Umwelt des Kindes, die eine Untersuchung der Vater-Kind-Beziehung mit einschließt, auf dem Modell des sozialen Netzwerks auf.

Gegenüber dem systemtheoretischen Ansatz lässt sich jedoch eine Aufmerksamkeitsverschiebung hinsichtlich solcher Faktoren feststellen, die primär umweltbedingt sind und das Gelingen von Vater­schaft beeinflussen können. Als Beispiele lassen sich nennen: Gängige Entscheidungsmuster bei der Sorgerechtsregelung nach einer Scheidung, die Berufssituation von Vätern, die Auswirkungen der Arbeitsmarktlage, die wohnlichen Rahmenbedingungen der Familie, die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen oder auch die in einer Gesellschaft vorherrschenden und an die nachfolgende Genera­tion vermittelten Bilder von Vaterschaft.

4. Die Bedeutung des Vaters in der Familie

4.1. Einleitung

Gerade aus feministischer Sicht wird argumentiert, der Vater sei im Grunde genommen innerhalb der Familie und insbesondere für die Ent­wicklung des Kindes ohne Bedeutung. Er habe lediglich histo­risch gese­hen Bedeutung gehabt im Hinblick auf Funktionen bzw. Rollen wie Ernährer, Beschützer und Erzieher. Diese Funktionen seien aber determiniert gewesen durch die Ungleichbehandlung der Frauen. Im Zuge der Emanzipation seien diese Aufgaben obsolet geworden, der Vater also lediglich noch als Erzeuger eines Kindes von Relevanz für die kindliche Entwicklung und das familiale System.

Zu Beginn möchte ich einige dieser feministischen Thesen vorstellen und anschließend auf Ergeb­nisse der Vaterforschung zur Frage der Bedeutung des Vaters in der Familie und für ausgewählte Bereiche kindlicher Entwicklung eingehen.

4.2. Feministische Thesen zur aktuellen Bedeutung des Vaters

- Der Vater als Ernährer

Die Rolle des Vaters als Ernährer der Kinder ist zunehmend umstritten. Zwar ist es nach wie vor so, dass in den meisten Familien der Vater der Hauptverdiener ist, er ist aber nicht einmal in der Mehrzahl der Familien der Alleinverdiener, sondern in der Bundesrepublik in noch lediglich einem Drittel der Familien.

Das Rollenbild des Vaters als Ernährer ist aber weiterhin wirksam. In dieser Rolle gab der Vater in der Vergangenheit der Familie die notwendige Sicherheit zur Schaffung einer Atmosphäre, in der Kinder gut aufwachsen können. Von Männern wird daher nach wie vor erwartet, erst dann zu heiraten und eine Familie zu gründen, wenn diese auch versorgt werden kann.

Die Bedeutung der Ernährerfunktion hat aus mehreren Gründen deutlich nachgelassen. Zum einen liegt dies an der bereits angesprochenen zunehmenden Müttererwerbstätigkeit, die zum einen Aus­druck des weiblichen Wunsches nach gleichberechtigter Stellung im beruflichen Leben ist, wird aber andererseits auch durch staatliche Versorgungs- und Betreuungsangebote und durch die finanzielle Schlechterstellung von Familien nahegelegt, in denen lediglich ein Elternteil über eigene Einkünfte verfügt.

Von Canitz weist auf Befragungen von Kindern im Hinblick auf die Ernährerfunktion der Väter hin. Diese Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass Kinder den Vater als Ernährer für austauschbar hal­ten, und zwar in erster Linie durch die Mutter und durch staatliche Sicherungssysteme. Die große Zahl alleinerziehender Mütter ist letztlich der überzeugende Beweis, dass es des Vaters als Ernährer nicht zwingend bedarf.

- Der Vater als Beschützer

Auch die Bedeutung des Vaters als Beschützer hat in gravierendem Maße abgenommen. Wir leben einfach nicht mehr in einer Zeit, in der der Vater seine Familie mit körperlicher Kraft und Geschick­lichkeit verteidigen muss. Die Vorstellung vom Beschützer hat sich jedoch bis in die Gegenwart erhal­ten.

Verständlich ist dies beim Kleinkind, das den Vater wegen seiner überragenden Größe und Kraft als "allmächtig" erlebt. Je älter das Kind allerdings wird, desto mehr erlebt es, dass dies keineswegs so ist.

Die Beschützerrolle reduziert sich heute auf den Einfluss der sozialen Plazierung. Speziell die berufli­che Stellung des Vaters hat großen Einfluss auf die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder. Trotz der Intentionen der Bildungsreform blieb es bei sozialer Ungleichheit, bei einer Abhängigkeit des berufli­chen Status' von dem des Vaters, wenngleich auf einem allgemein höheren Niveau.

Vor diesem Hintergrund bietet sich Vätern die Möglichkeit, die Beschützerrolle für sich neu zu defi­nieren, sie mit anderen Inhalten zu füllen. Väter müssen begreifen, durch eigene Persönlichkeitsent­wicklung, durch Aneignung von Wissen und durch Erweiterung des Informationshorizontes Potentiale erschließbar zu machen, die die soziale Plazierung der Kinder fördern und ihnen helfen, in der Lei­stungsgesellschaft ihre Chance zu nutzen.

Auch in dieser Funktion kann der Vater allerdings durchaus von der Mutter abgelöst werden, sie ist also keineswegs sein Privileg.

- Der Vater als Erzieher

Auch in seiner Rolle als Erzieher hat der Vater an Bedeutung eingebüßt, insbesondere im Hinblick auf die Teilfunktion der Vermittlung von Wissen und Berufsfähigkeiten. Diese Aufgaben haben längst Institutionen übernommen.

Bei der Erziehung kommt dem Vater traditionell die Aufgabe zu, dem Kind beim Übergang aus der Intimität der kindlichen Welt des Heimes in die Welt des öffentlichen Lebens der Erwachsenen zu helfen. Früher hielt man nur den Vater für in der Lage, diese Aufgabe zu übernehmen, dies hat sich allerdings grundlegend geändert mit der Mütterberufstätigkeit, der zunehmenden Außenorientierung von Frauen und letztlich auch durch die pädagogischen Institutionen und die Massenmedien.

Männer selber haben in einer Untersuchung von Pross ihre Aufgaben als Erzieher dahingehend defi­niert, den Kindern Liebe und Geborgenheit zu geben, ihnen Kamerad, Freund und Partner, aber auch Respektperson zu sein. Diese Erziehungsziele sind als eher unklar zu bezeichnen, was Pross auf vä­terliche Verunsicherung zurückführt.

War es lange Zeit so, dass gerade für die frühkindliche Betreuung und Erziehung ausschließlich die Mutter für bedeutsam erachtet wurde, konnte zwischenzeitlich durch eine Reihe von Studien nach­gewiesen werden, dass die Einbeziehung des Vaters bereits in die Geburt und die Versorgung des Säuglings von Einfluss auf die Intensität der Beziehung zum Kind allgemein und auch auf seine erzie­herische Funktion ist.

Im wesentlichen sind es aber die Väter selbst, die ihre Erzieherfunktion schmälern, indem sie sie eher als Nebenrolle definieren und in den Verantwortungsbereich der Mütter stellen.

4.3. Ergebnisse der Vaterforschung

4.3.1. Bedeutung des Vaters bei Schwangerschaft und Geburt

Die Ergebnisse der Vaterforschung - dies sei bereits an dieser Stelle angemerkt - widerlegen die fe­ministischen Thesen von der Bedeutungslosigkeit des Vaters für die Familie und die kindliche Ent­wicklung.

Dargestellt werden soll dies anhand von Studien zum erzieherischen Einfluss des Vaters auf die kogni­tive Entwick­lung, auf die moralische Entwicklung und auf die Entwicklung der Geschlechtsidentität.

Einleitend ist aber zunächst darauf hinzuweisen, dass Väter bereits während der Schwangerschaft wichtige Aufgaben übernehmen. Zu nennen ist hier an erster Stelle die Bereitstellung emotionaler Unterstüt­zung für die schwangere Frau, deren positiver Effekt für das Erleben der Schwangerschaft ebenso nachgewiesen wurde wie die komplikationsreduzierende Wirkung. Emotionale Unterstützung hilft der Mutter bei der Anpassung an die Schwangerschaft und die Mutterrolle und wirkt sich -ver­mittelt durch die Mutter - auch positiv auf das Kind aus. Es wurden auch Zusammenhänge festgestellt zwischen positiver emotionaler Unterstützung durch den Vater und Stillverhalten der Mutter.

Umgekehrt schilderten Frauen mit depressiven Verstimmungen nach der Geburt ihre Männer als emotional kalt.

Erwähnt werden soll noch, dass die Anpassung an die und die Akzeptanz der Mutterrolle nicht unwe­sentlich davon abhängt, in welcher Weise werdende Mütter sich von den Vätern sexuell begehrt füh­len

Unterschiedliche Studien fanden heraus, dass das Vater-Werden durch komplexe psychische Prozesse gekennzeichnet ist. Unterschieden werden 3 Typen von Vätern mit unterschiedlicher Bewältigung ihres Vater-Werdens:

a) Väter mit romantischer Haltung, bei denen die Schwangerschaft Schuldgefühle erzeugt, vor allem deshalb, weil sie die größere ökonomische Verantwortung als belastend empfinden.

b) Väter mit Karriere-Orientierung, die die Schwangerschaft als Last empfinden.

c) Väter mit familiärer Orientierung, die die neue Verantwortung schnell akzeptieren und die bei der Aussicht, Vater zu werden, ein Gefühl der "Erfüllung" erleben.

Beeinflusst wird diese Typisierung durch individuelle Erfahrungen des werdenden Vaters in seiner Herkunftsfamilie - insbesondere die Erfahrung des eigenen Vaters -, aber auch schichtspezifische Unterschiede wurden festgestellt: Je höher der soziale Status, desto eher entwickelten werdende Väter eine positive Grundeinstellung zur Schwangerschaft.

Innerhalb des familialen Systems fällt dem Vater oftmals die Aufgabe zu, während einer erneuten Schwangerschaft stärker Verantwortung zu übernehmen für die Betreuung und Versorgung bereits geborener Kinder, aber auch für die Vorbereitung der Kinder auf die neue familiäre Situation.

Als sehr wesentlich wird auch die Unterstützung des Vaters während der Geburt erachtet. Er hat im Laufe der letzten drei Jahrzehnte immer mehr die Aufgabe eines aktiven Geburtshelfers zugewiesen bekommen. Es sind im wesentlichen drei Aufgaben, die der Vater bei der Geburt erfüllt:

a) der Vater hält Kontakt zwischen der Mutter und dem klinischen Personal und dient gewissermaßen als Puffer. Er gibt der werdenden Mutter kontinuierlich Zuwendung und Ermutigung, indem er Angst und Aufregung mit ihr teilt.

b) der Vater hilft der Mutter, sich zu entspannen und erleichtert ihr auf diese Weise die Wehen.

c) der Vater kann durch seinen Beistand das emotionale Geburtserleben der Mutter steigern.

Nur am Rande sei noch erwähnt, dass sich die Anwesenheit des Vaters bei der Geburt positiv auf die spätere Vater-Kind-Beziehung auswirkt, ein Umstand, der aber möglicherweise nicht hinlänglich durch das Erleben der Geburt erklärbar ist, sondern wohl in erster Linie ausdrückt, dass es auch be­sonders an Familie und Kindern interessierte Väter sind, die bei der Geburt anwesend sind.

4.3.2. Die Vater-Kind-Bindung

Zu klären ist zunächst der Begriff der Bindung. Mit dem Bindungskonzept ist impliziert, dass be­stimm­te angeborene Verhaltensweisen des Kindes dazu führen, dass es von einer erwachsenen Per­son mit Nahrung, Pflege und Stimulation versorgt wird und dass das Kind nach Erreichen einer kogni­tiven Entwicklungsstufe, in der das Kind diese Person von anderen zu unterscheiden gelernt hat, ein Gefühl der Sicherheit in Gegenwart dieser erwachsenen Person entwickelt.

Insbesondere seit den 80er Jahren geht die Vaterforschung intensiv der Untersuchung der Vater-Kind-Bindung nach. Die Grundfrage lautet: Stellt der Vater für das Kind eine der Mutter äquivalente Bin­dungsperson dar?

Die Eltern-Kind-Bindung lässt sich theoretisch unterschiedlich fundieren. An dieser Stelle sollen diese Ansätze allerdings lediglich sehr kurz angesprochen werden.

Eine Besonderheit der lerntheoretischen Perspektive besteht darin, dass sie die Verminderung von Unlust beim Kind infolge von Pflege- und Versorgungshandlungen in den Vordergrund ihrer Erklä­rung von Bindung stellt: Bindungsverhaltensweisen erhalten dadurch eine primäre Verstärkung. Der Erwachsene werde so zum sekundären Verstärker und das Verhalten des Kindes richte sich daher in erster Linie auf ihn als Bindungsperson. Damit wird deutlich, dass für die Lerntheoretiker keine bio­logische Determiniertheit der Mutter als einzige enge Bindungsperson vorhanden ist, sondern die Frage der persönlichen Bindung im Prinzip unabhängig vom Geschlecht zu beantworten ist.

In der psychoanalytischen Lehre wurde der Vater lange Zeit als hinsichtlich seiner Bedeutung als Bindungsperson zu vernachlässigen betrachtet. Daran hat sich allerdings in den letzten 3 Jahrzehnten einiges grundlegend geändert. Einige Charakteristika dieser veränderten Betrachtung sind:

a) die Bedeutung der Vater-Kind-Beziehung für den Prozess der Identifikation und Individuation des Kindes wird betont,

b) ebenso eine stärkere Hinwendung zu systemischer Betrachtung, nach der beide Elternteile für das Kind von Bedeutung sind,

c) die vorödipale Phase erfährt hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Beziehung des Kindes zu seinem Vater eine neue Bewertung und

d) insbesondere betont wird die Bedeutung des Vaters für die Entwicklung der Geschlechtsrollen­identität des Sohnes.

Im Zuge der Vaterforschung stellte sich heraus, dass kurz nach der Geburt bereits differenzierte In­teraktionen nicht nur zwischen Mutter und Kind, sondern auch zwischen Vater und Kind stattfinden. Daraus wurde der Schluss gezogen, dass offensichtlich beide Eltern gleichermaßen in der Lage sind, ein Kind von Geburt an mit der notwendigen Sensitivität zu betreuen und zu versorgen, sein Bedürfnis nach Kommunikation zu stillen und seine Entwicklung entsprechend zu fördern.

Beide Eltern entwickeln unter entsprechenden Bedingungen enge emotionale Beziehungen zum Kind, und das Kind entwickelt seinerseits enge emotionale Bindungen zu beiden Elternteilen. Dabei spielt für das Entstehen dieser Bindung nicht das reine zeitliche Ausmaß an gemeinsamer Interaktion die ausschlaggebende Rolle, sondern allein die Qualität der Interaktion. Voraussetzung ist also die Fähig­keit und die Bereitschaft, mit dem Kind sensitiv umzugehen. Es kann dabei deutlich voneinander ab­gegrenzte Interaktionsbereiche geben, die allesamt zur Entwicklung einer engen Bindung führen kön­nen: Pflege- und Versorgungsleistungen ebenso wie z.B. spielerische Aktivitäten. Bezüglich der Wahrnehmung dieser Aufgaben gibt es anhand der vorliegenden Forschungen insoweit einen ge­schlechtsspezifischen Unterschied, als Mütter eher den pflegerisch-versorgenden Bereich abdecken, während Väter eher als Spielgefährten in Erscheinung treten.

4.3.3. Der Einfluss des Vaters auf die kognitive Entwicklung des Kindes

Eine Reihe unterschiedlicher Studien beschäftigte sich mit dem Einfluss des Vaters auf die kognitive Entwicklung des Kindes. Ergebnis war, dass Väter diesbezüglich durchaus von Bedeutung sind. Gene­rell ist zu sagen, dass das väterliche Engagement positiv mit den kognitiven Leistungen des Kindes korreliert ist. Dies konnte auch durch Daten über vaterlos aufgewachsene Kinder gestützt werden.

Als bedeutendstes Ergebnis dieser Forschungen bleibt festzuhalten, dass Väter zu ihren Söhnen eine engere Bindung aufbauen und deren intellektuelle Entwicklung stärker beeinflussen als die ihrer Töchter.

Die väterlichen Leistungen bestanden insbesondere in emotionaler Zuwendung, aber auch in pflegeri­schen Aktivitäten, Beschäftigung mit Problemen des Kindes und Hilfe bei der Problemlösung.

Als negativ für die kognitive Entwicklung vor allem der Söhne konnte häufiges strafendes Verhalten oder Feindseligkeit des Vaters ermittelt werden. Demgegenüber korrespondiert geringer väterlicher Druck gegenüber Frau und Kind mit guten intellektuellen Leistungen des Sohnes.

Als Erklärungsversuch, wieso diese Wirkungen nur für Söhne nachzuweisen waren, bringt Fthenakis vor, darin drücke sich möglicherweise eine ambivalente Haltung der Väter gegenüber Mädchen im Leistungsbereich aus.

Bei Kindern beiderlei Geschlecht konnte beobachtet werden, dass ein zu starkes Eingreifen des Vaters in Problemlösungssituationen sich negativ auf die kognitive Entwicklung auswirkt, da es die Selb­ständigkeit einschränkt. Ein weiterer Befund in diesem Zusammenhang ist, dass die väterliche Ver­stärkung, nicht aber das väterliche Fordern von intellektuellen Leistungen positiv für den Schulerfolg ist.

4.3.4. Die Rolle des Vaters bei der Internalisierung moralischer Normen

Was den Einfluss des Vaters auf moralisches Verhalten des Kindes anbelangt, ist eine Untersuchung von Hoffman (1981) von besonderem Interesse, der vier Dimensionen väterlichen Verhaltens in Be­ziehung zu vier Faktoren setzt, die für die Internalisierung moralischer Normen von Bedeutung sind. Diese Dimensionen sind:

a) Die Eltern können durch ihre Worte und Handlungen als Modell dienen.

b) Die Eltern disziplinieren das Kind, indem sie bestimmtes Verhalten verstärken, anderes Verhalten ablehnen und Erklärungen geben.

c) Die Eltern sind die hauptsächlichen Erfüllungsinstanzen der affektiven Bedürfnisse des Kindes.

d) Die Eltern dienen als Bindeglied zwischen Kind und Gesellschaft. Dies geschieht zum einen, in­dem sie die Anforderungen und Erwartungen der Gesellschaft in die Familie tragen und sie für das Kind erfassbar machen und zum anderen durch ihre Position innerhalb der Gesellschaft. Dadurch erhält das Kind einen bestimmten Status, der wichtig wird, wenn das Kind beginnt, in Kontakt mit der Welt außerhalb der Familie zu treten.

Die angesprochen Faktoren sind:

1) Entstehen von Angst wegen Abweichung: Während der primären Sozialisation, in der das Kind für abweichendes Verhalten bestraft wurde, werden schmerzliche Angstzustände mit abweichendem Verhalten assoziiert. Die Angst vor Abweichung wird in der Folge vermieden, indem nicht-erwünsch­tes Verhalten unterdrückt wird.

2) Identifikation: Nach Freud identifiziert sich das Kind mit den Eltern, um erotische Impulse zu un­terdrücken, Bestrafungen zu vermeiden und weiterhin Zuwendung von den Eltern zu erfahren. Es übernimmt infolgedessen die Regeln und Verbote, die die Eltern aufstellen.

3) Entwicklung von Empathie und Schuldgefühl: Die kognitive Fähigkeit des Kindes, andere in ihrer Eigenart wahrzunehmen und das eigene Verhalten in seiner Wirkung auf andere zu erfassen, ist Vor­aussetzung für die Entwicklung von Empathie. Daraus entsteht die Motivation, sich um das Wohler­gehen anderer zu kümmern. Diese Motivation ist allerdings weniger abhängig von direkten Diszipli­nierungsmaßnahmen, sondern wird eher indirekt erworben, beispielsweise im Spiel mit Gleichaltri­gen.

4) Kognitiver Moralkonflikt und neues Gleichgewicht: Ein Konflikt zwischen Kognition und Moral kann mit Beginn der Adoleszenz entstehen. Seine Ursache hat er darin, dass dem Individuum größere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, Informationen zu verarbeiten.

Hoffman vertritt nun die Auffassung, lediglich einer dieser Faktoren, die innerhalb der moralischen Entwicklung bedeutsam seien, sei an das Geschlecht des Elternteils gebunden, nämlich der Faktor "Identifikation". Väter seien in diesem Bereich für ihre Söhne wichtiger als für ihre Töchter, da Väter sich normalerweise eher mit dem Vater identifizieren als mit der Mutter und daher auch eher deren moralische Vorstellungen übernehmen.

4.3.5. Die Rolle des Vaters bei der Entwicklung geschlechtsspezifischen Verhaltens

Väter wurden ermittelt als bedeutsam für die Entwicklung geschlechtsspezifischen Verhaltens ihrer Söhne, nicht aber ihrer Töchter.

Die empirischen Arbeiten zu diesem Themenbereich konzentrieren sich, was die Beziehung zwischen Vater und Sohn anbetrifft, auf folgende Variablen:

a) Väterliche Dominanz:

Maßgeblich für eine Beeinträchtigung der Entwicklung einer männlichen Identität bei den Söhnen scheint demnach Passivität des Vaters innerhalb des familiären Rahmens zu sein, insbesondere was seine Entscheidungsfreude anbelangt.

b) Väterliches Sorgeverhalten:

Generelle Merkmale der Vater-Sohn-Beziehung wie Warmherzigkeit und Aufgeschlossenheit schei­nen eine stärker prägende Kraft zu haben als die sogenannte "Männlichkeit" des Vaters.

c) Restriktives Verhalten des Vaters:

Es zeigte sich, dass die Art väterlichen Disziplinierungsverhaltens mit der Ausprägung aggressiven Verhaltens bei Jungen zusammenhängt. Restriktives Vaterverhalten begünstigt demnach nur innerhalb einer liebevollen Vater-Sohn-Beziehung die Zuneigung des Jungen zum Vater und seine Entwicklung zu adäquater maskuliner Identität.

Der väterliche Einfluss auf die Töchter konnte dahingehend nachgewiesen werden, dass einem Mäd­chen die Aufnahme und Aufrechterhaltung heterosexueller Kontakte umso leichter fällt, je enger die Vater-Tochter-Beziehung ist. Aber auch die Übernahme einer nicht-traditionellen Geschlechterrolle (Karriereorientierung etc.) kann durch einen engagierten Vater gefördert werden.

4.3.6. Empirische Studien zur Väterabwesenheit

Noch zu Beginn der siebziger Jahre stellten Studien zur Auswirkung der Abwesenheit des Vaters den Schwerpunkt der Vaterforschung dar.

Bei den Studien zur Bedeutung der Vaterabwesenheit bilden solche über deren Effekte auf die kogni­tive Entwicklung den wichtigsten Forschungsbereich. Generell hat der Verlust des Vaters dann die negativsten Folgen für die kindliche Entwicklung, wenn er durch Trennung oder Scheidung der Eltern bedingt ist, in frühem Kindesalter einsetzt, von langer Dauer ist und keine Ersatzperson zur Verfü­gung steht.

Die meisten Studien, die ein allgemeines Maß der intellektuellen Leistungsfähigkeit messen, kommen zu dem Ergebnis, dass Kinder aus vaterlosen Familien leistungsschwächer sind als Kinder aus voll­ständigen Familien. Zurückzuführen ist dies nach dem Konfluenzmodell von Zajonc & Markus (1975) darauf, dass der IQ aufgrund einer Punkteverteilung für das jeweilige "geistige Alter" jedes Fami­lienmitgliedes negativ mit der Familiengröße korreliert. Der Verlust des Vaters wird aus dieser Per­spektive als Ausfall eines Familienmitglieds mit hohem "geistigem Alter" als äußerst negativ für die kognitive Entwicklung bewertet.

Ferner haben Jungen, die vaterlos aufgewachsen sind, eine weniger ausgeprägte männliche Identität und die Geschlechtsrollen sind bei ihnen weniger ausdifferenziert.

Diese Untersuchungen sind allerdings insoweit fraglich, als in der Regel adäquate Kontrollgruppen fehlten und zumeist nur solche Probanden erfasst wurden, die in psychologischer/psychiatrischer Behandlung standen. So wurde beispielsweise die Auswirkung der Vaterabwesenheit auf die morali­sche Entwicklung nur bei delinquent gewordenen Jugendlichen untersucht.

4.4. Zusammenfassung

Abschließend ist festzustellen, dass Väter offensichtlich heute nicht - wie von feministischer Seite vorgetragen - bedeutungslos geworden sind. Sie können einen wichtigen Beitrag zum familiären Le­ben und zur Entwicklung ihrer Kinder beitragen und haben hinsichtlich einiger weniger Variablen sogar exklusive Funktionen. Die feministische Fehleinschätzung beruht zum einen darauf, dass Vater­sein lediglich an bestimmten Rollen festzumachen. Andererseits drückt sich allerdings darin auch die Alltagserfahrung aus, dass Väter - zumindest die traditionellen - allzu häufig gar keinen Wert darauf legen, ihre Potentiale in die Erziehung der Kinder einzubringen. Genau dies ist aber die zwingende Voraussetzung dafür, dass Väter sich in ihrem eigenen Erleben und in ihrer Bedeutung für die Kinder und die Familie aus ihrer Krise befreien können.

Festgestellt werden konnte überdies, dass die exklusive Mutter-Kind-Beziehung offensichtlich in wei­ten Bereichen eher ein Mythos als biologisch-determinierte Realität ist. Die eingangs aufgeworfene Frage kann also dahingehend beantwortet werden, dass der Bedeutungsverlust des Vaters nicht mit einer reellen Bedeutungslosigkeit hinsichtlich seiner potentiellen Funktionen für Kinder und Familie korrespondiert.

5. Heutige Vaterbilder

5.1. Einleitung

Vaterbild: ein sich auf gesellschaftlicher Ebene konstituierendes Leitbild im Sinne einer kollektiven Idealvorstellung

Wie bereits eingehend beschrieben, hat sich die Stellung des Vaters in der Geschichte bedeutend ge­wandelt. Einher gingen diese Wandlungsprozesse mit allgemeinen Prozessen sozialen Wandels. An dieser Stelle soll nun überprüft werden, welche Vaterbilder für die Gegenwart beschrieben werden können und inwieweit sie den Anforderungen gerecht werden, die auf der Basis der dargestellten Theorien und der empirischen Ergebnisse der Vaterforschung an eine bedeutsame Funktion des Va­ters gestellt werden können.

- Frauenbewegung: Auch innerfamiliär werden zunehmend traditionelle Rollen in Frage gestellt. Frauen erwarten von Männern, dass sie auch bislang als "weiblich" definierte Aufgaben übernehmen, etwa die der Kinderbetreuung und -erziehung.

- Männerbewegung: In Analogie und wohl auch als Reaktion auf die Frauenbewegung wurden einer steigenden Zahl von Männern die Beschränkungen bewusst, die ihnen die traditionelle Vaterrolle auf­erlegte. Der Widerstand gegen diese Rolle äußert sich nicht nur in der bewussten Übernahme von Verhaltensweisen, die in der traditionellen Lesart als "weiblich" gelten, sondern auch in einer sehr bewussten Einstellung zur Vaterschaft. Entstanden ist diese Bewegung aber insbesondere unter dem Druck der Frauen, die eine Beteiligung der Männer an der Hausarbeit und der Kindererziehung ein­klagten, um selber wieder vermehrt im Berufsleben zu stehen.

- Geburtenkontrolle und Familienplanung: Waren Kinder früher "Schicksal", besteht heute die Mög­lichkeit gewollter Elternschaft. Kinder haben damit wesentlich eher die Chance, gewollt zu sein und damit einer ganz anderen Grundeinstellung zu begegnen. Durch die geringer gewordene Kinderzahl verändern sich die Binnenbeziehungen innerhalb der Familie ebenso wie die Beziehungsqualität.

Allgemein und etwas vereinfacht lassen sich drei Vaterbilder unterscheiden, nämlich der traditionelle, der partnerschaftliche und der "neue" Vater.

5.2. Der traditionelle Vater

Der traditionelle Vater bedeutet symbolisch vor allem Macht, Autorität und öffentliche Kompetenz, während seine alltagspraktische Aufgabe hauptsächlich im Gelderwerb für die Familie besteht. Die dahinterstehenden Grundannahmen sind eine biologisch vorgegebene Mutter-Kind-Bindung, die ständige Anwesenheit der Mutter für eine adäquate Kinderversorgung, hierarchisch geordnete Bezie­hungen in der Familie nach Geschlecht und Alter, in denen der Vater als Ernährer und Beschützer der Mutter-Kind-Dyade in Erscheinung tritt.

Der traditionelle Vater wird von Hanne-Lore von Canitz auch als der patriarchalische Vater charakte­risiert, wobei sie sehr differenziert unterschiedliche Typen patriarchalischer Väter beschreibt. Als verbindend sieht sie bei diesen Typen, dass sie sich als Oberhaupt der Familie definieren, für sich also in Anspruch nehmen, höchste Autorität innerhalb der Familie zu besitzen.

Autorität stelle nun nicht grundsätzlich etwas negatives dar, es gebe schließlich auch natürliche Au­torität des Überlegenen, die durchaus positive Effekte in seiner Umwelt zeitigen könne. Da Väter ihrer Ansicht nach aber in der Moderne ihre Überlegenheit eingebüßt haben, könne ihr autoritäres Verhalten auch keine positiven Wirkungen entfalten. Es seien nurmehr die Auswirkungen des Autori­tären geblieben, nämlich Zwang oder Druck auszuüben. Der traditionelle Vater ist sogesehen der Proto­typ des entmachteten Vaters.

5.3. Der partnerschaftliche Vater

Der partnerschaftliche Vater ist in seiner symbolischen Bedeutung für das Kind mehr Vorbild, Förde­rer und Interaktionspartner, während er im Alltag neben seinem traditionellen Aufgabenbereich seinen Kindern auch als Freizeitkamerad, Spielgefährte und aktiver Erzieher gegenübertritt. Die impliziten Grundannahmen dieser Perspektive bestehen aus einer sozial überformten, nicht biologisch festge­schriebenen Mutter-Kind-Beziehung, dass beide Elternteile für eine gelungene kindliche Entwicklung gleichermaßen wichtig sind, einer flexiblen Geschlechtsrollenteilung im Sinne eines partnerschaftli­chen Interaktionsschemas und darin, dass der Vater neben der Sicherung des Lebensunterhaltes auch in alltäglichen Interaktionen für das Kind verfügbar sein soll.

Dieses Vaterbild trägt durchaus bereits den angesprochenen Erfordernissen Rechnung, die einen Va­ter zum bedeutenden Part in der kindlichen Entwicklung und der Familie werden lassen. In gewisser Weise finden sich egalitäre Grundzüge der Elternschaft. Gerade die wesentliche Funktion bei der Entwicklung der Geschlechtsrollenidentität dürfte von partnerschaftlichen Vätern gut wahrgenommen werden.

5.4. Der "neue" Vater

Der "neue" Vater thematisiert schließlich vor allem die Bedeutung der Vaterschaft für die Väter selbst, indem die Erfahrung und der Umgang mit Kindern aus der Sicht der Männer aufgearbeitet wird, wobei insbesondere ehemals weibliche Erfahrungsbereiche wie Schwangerschaft, Entbindung oder Säuglingspflege von den neuen Vätern bevorzugt aufgegriffen werden. Die symbolische Bedeu­tung dieser auch als androgyn bezeichneten Konzeption von Vaterschaft ist derzeit noch unklar, da von einigen Autoren ein genuin männlicher Beitrag zur kindlichen Sozialisation negiert wird. Demge­genüber versuchen andere, die Konturen einer neuen Väterlichkeit zu formen, die inhaltlich klar von Mütterlichkeit abgegrenzt werden kann. Die darin enthaltenen Grundannahmen differieren ganz er­heblich von den vorangegangenen Konzeptualisierungen, zumal in der alltagspraktischen Bedeutung zwischen Vater und Mutter, abgesehen von biologischen Vorgegebenheiten (z.B. dem Stillen) keiner­lei Unterschied gemacht wird. Zum einen werden die Bindungen zwischen Eltern und Kindern als ausschließlich sozial determiniert betrachtet und die Aufteilung und Wahrnehmung der familialen Rollen als Aushandlungssache der Individuen. Dabei ist eine traditionelle Rollenverteilung zwar durchaus möglich, aber nicht wünschenswert.

Zum anderen ist für eine gelungene kindliche Entwicklung ein stabiler emotionaler Bezugsrahmen wichtig, der aber von Mutter und Vater oder auch von anderen an der Kinderpflege beteiligten Perso­nen gewährleistet werden kann. Weiterhin muss davon ausgegangen werden, dass aufgrund des gegen­wärtigen Geschlechtsverhältnisses heterogene Interessenlagen von Mann, Frau und Kind gegeben sind und somit die Bedürfnisse von Mann, Frau und Kind konträr sein werden. "Neue" Väter sind sogese­hen elementare Bestandteile von "Verhandlungsfamilien", in denen viel Energie darauf aufzuwenden ist, die divergierenden Interessen ihrer Mitglieder in einem familialen Rahmen zu vereinen. Auf die Folgen neuer Vaterschaft werde ich anschließend noch gesondert eingehen.

6. Folgen "neuer" Vaterschaft für die Sozialisation des Kindes

6.1. Auswirkungen auf den Vater selbst

Auf eine Veränderung der Partizipation des Vaters an der Kinderbetreuung folgt auch eine Verände­rung seines Verständnisses für die Kinder und seiner Sensibilität für kindliche Bedürfnisse. Zu diesem Ergebnis gelangten eine Reihe von empirischen Studien. Wesentlich dabei ist nicht das Ausmaß der gemeinsam verbrachten Zeit, sondern die Art, wie diese Zeit gemeinsam verbracht wird. Nach Russell (1982) war der wichtigste Faktor die Tatsache, dass die Kinder allein mit dem Vater waren und er im Alltag die alleinige Verantwortung für sie hatte. Das vermehrte Verständnis für die Kinder hat auch ein Änderung der Auffassung von der eigenen Vaterrolle zur Folge: Sie fühlten sich als Väter selbst­sicherer und effektiver.

Die Auswirkungen verstärkter Beteiligung auf Väter werden gegenwärtig unter folgenden Aspekten diskutiert:

a) Geschlechtsrollenidentität

b) Zufriedenheit und Selbsteinschätzung

c) Einstellungen und Überzeugungen

a) Geschlechtsrollenidentität

Die Bereitschaft von Vätern, sich an der Kinderbetreuung zu beteiligen, geht einher mit weniger rigi­den Vorstellungen von Männlichkeit. Es zeigte sich, dass hochinvolvierte Väter ihr Verhalten als voll vereinbar mit männlicher Identität ansahen. Sie vertraten demgegenüber die Auffassung, dass traditio­nelle Väter eine zu "enge" Ansicht über Männlichkeit und rollenadäquates Verhalten zeigen.

b) Zufriedenheit

Etliche Arbeiten beschäftigten sich mit der Frage der Zufriedenheit hochinvolvierter Väter. Es wird darin von erhöhtem Selbstwertgefühl, größerer Zufriedenheit und größerem Selbstvertrauen der Väter berichtet. Ganz offensichtlich besteht ein Zusammenhang zwischen gestiegener Selbstachtung und Zufriedenheit und Übernahme von Sorge für die Kinder.

Allerdings wurde kritisch auch darauf hingewiesen, dass es eventuell gerade selbstsichere Männer sind, die hinsichtlich der Kinderbetreuung eine nichttraditionelle Rolle übernehmen.

c) Einstellungen

Eine australische Studie von Russell legt nahe, dass verstärkte Beteiligung des Vaters an der Kinderbe­treuung mit Veränderungen in seinen Einstellungen und Überzeugungen hinsichtlich der Kinder ein­herging. Die Väter äußerten größere Wertschätzung der Kinder allgemein und betonten, wie wichtig es sei, dass es den Kindern gut gehe. Außerdem traten sie verstärkt für eine Unterstützung der Fami­lien bezüglich der Betreuungs- und Versorgungsmöglichkeiten des Kindes ein.

Sie hatten auch eine veränderte Auffassung von der Rolle der Frau: sie vertraten verstärkt egalitäre Auffassungen von Geschlechtsrollen und zeigten mehr Akzeptanz und Einfühlung hinsichtlich desje­nigen, der sich ganztags um dir Kinder kümmert. Diese Veränderungen dauerten auch an, wenn die Familie wieder zu traditioneller Rollenteilung zurückgekehrt war.

6.2. Auswirkungen auf die Kinder

- als Identifikationsobjekt

Für die Kinder bietet der stark beteiligte Vater ein vergleichsweise umfassenderes Rollenmodell, das sowohl instrumentelle als auch expressive Aspekte umfasst. Einige Bereiche der Beteiligung des Va­ters an der Kinderbetreuung korrelierten mehr mit maskuliner (Treffen von kinderbezogenen Ent­scheidungen), andere mehr mit femininer Geschlechtsrollenorientierung (reine Pflegehandlungen). Kinder in nichttraditionellen Familien nahmen die Geschlechtsrollen ihrer Väter differenzierter wahr, teil als stereotyper wie beim Aspekt des Vaters als strafende Instanz, teils als weniger stereotyp wie beim Hantieren mit Haushaltgeräten. Dabei war aber die Geschlechtsrollenorientierung beim Kind selber grundsätzlich nicht verändert.

In den nichttraditionellen Familien waren verstärkt Bemühungen des Vaters um die kognitive Förde­rung der Kinder zu verzeichnen. Es zeigte sich, dass verbale Fähigkeiten bei Mädchen und Intelli­genzmaße bei Jungen im Verhältnis zu Vergleichsgruppen erhöht waren.

Hinsichtlich der Identitätsentwicklung ist der Einfluss der neuen Väter umstritten. Die einen sehen im neuen Vater einen Gegenpol zur symbiotischen Mutter, die oftmals ein pathologisierendes Treib­hausklima schaffe. Andere vertreten die Auffassung, das "eifersüchtige Eindringen" des neuen Vaters in die frühe Mutter-Kind-Beziehung könne die für die Identitätsentwicklung so wichtige ödipale Krise verhindern. Anstatt als Gegenpol zur Mutter dem Kind einen Weg aus dieser symbiotischen Bezie­hung zu zeigen, verstärke der neue Vater geradezu die Treibhausatmosphäre.

7. Zusammenfassung und Diskussion

Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass Väter im Laufe der Geschichte in zunehmendem Maße an Bedeutung eingebüßt haben. Viele ihrer angestammten exklusiven Funktionen, insbesondere die des Ausbilders, des Beschützers und des Ernährers, haben sie verloren, und zwar in erster Linie an die Mütter und den Staat. Dies führte nach Lenzen zu einer Liquidation des Vaters, zumindest aber zu einer grundlegenden Identitätskrise des Vaters.

Wissenschaftlich betrachtet hat der Vater aber nach wie vor wichtige Funktionen, wenngleich sie nicht mehr in früherer Exklusivität und nicht mehr an verschiedenen Rollen erkennbar sind. Ein we­sentlicher Aspekt dabei ist die Bedeutung des Vaters für die Geschlechtsrollenentwicklung, aber auch für die moralische und kognitive Entwicklung. Zwar sind letztere keine geschlechtsspezifischen Aspekte, die eine Exklusivität des Vaters rechtfertigen, sie sind aber wie viele andere auch nicht als biologisch determinierte Mütterfunktionen zu bezeichnen. Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, dass die beschriebenen "neuen" Väter offensichtlich in ihrer androgynen Rollenanlage den Kindern nicht schaden, scheint gerade dieses Vaterbild geeignet, den gewandelten familiären Anforderungen gerecht zu werden und Vätern aus ihrer Identitätskrise zu helfen.

Nun stellt sich aber auch die Frage, ob die "neuen" Väter in der Realität überhaupt existent sind und - wenn ja - in welcher Größenordnung. Diesbezüglich wird in der Literatur auf zwei Studien verwiesen.

Helge Pross führte von Oktober 1975 bis März 1976 eine repräsentative Untersuchung an 20- bis 50-jährigen Männern durch, die zu dem Ergebnis kam, dass sich im wesentlichen an der traditionellen Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern nichts geändert hat. In Bezug auf die Vaterrolle fand sie interessanterweise heraus, dass sich die Väter wesentlich differenzierter zur Rolle der Mutter als zu ihrer eigenen äußern konnten.

Die Entscheidungsstruktur in Erziehungsfragen wurde als egalitär beschrieben. Bei der Frage nach den Hauptaufgaben des Vaters wurde jedoch eine deutliche Diskrepanz zwischen Idealvorstellung und realem Verhalten ermittelt. Legten die Männer idealiter noch zusätzlich zu traditionellen Schutz- und Ernähreraufgaben Wert auf Erzieherfunktionen (wobei der Schwerpunkt auf freundschaftlichem, kameradschaftlichem Umgang lag), zeigte sich in der Realität eine äußerst distanzierte Wahrnehmung der Erzieherfunktion, die über Kontroll- und Disziplinierungsaspekte häufig nicht hinausreichte.

Interessant ist weiterhin, dass die Männer fast durchweg der Auffassung waren, dass zum einen ihre Vorstellungen von der Vaterrolle genau identisch seien mit dem, was von den Frauen an Erwartungen gestellt wird, zum anderen betrachteten sie die Anforderungen der Vaterrolle als nicht sehr hoch.

Die zweite häufig zitierte Untersuchung wurde von Metz-Göckel und Müller 1985 ebenfalls an 20- 50-jährigen Männern durchgeführt. Generell ergab sie das gleiche Bild. Geändert hatte sich, dass die Männer nicht mehr einheitlich ein hierarchisches Geschlechterverhältnis als natürliche, harmonische Ordnung vertreten, doch, wie die Autorinnen schreiben, "womit sie mit dem Kopf eintreten, setzen sie in die Tat nicht um." Diesbezüglich besteht allerdings eine Differenzierung nach Alter und Bildungs­grad: Je jünger und je gebildeter die Männer, desto eher äußern sie sich frauenfreundlich.

Nach wie vor wird aber der Ernährerfunktion der Vorrang gegeben gegenüber der Wahrnehmung von Erziehungsaufgaben.

Generell wird nunmehr allerdings von einem Trend zur egalitären Partnerbeziehung und zur Aufwei­chung autoritärer Strukturen in der Vater-Kind-Beziehung gesprochen. Kinderfragen werden von den Befragten aber weiterhin als Frauenfragen qualifiziert.

Abschließend kamen die Autorinnen zum Ergebnis, dass die Zahl der "neuen" Männer als ausgespro­chen gering anzusehen ist. Es stellt sich also die Frage, weshalb sie eine solche Medienpräsenz erfah­ren. Zurückzuführen sein könnte dies auf den Versuch der Männer, der erlebte Krise des Vaters nach außen mit einer geänderten Vaterrolle zu begegnen, ohne allerdings auch die daraus erwachsenden Verpflichtungen einzulösen. Es handelte sich dann um eine Maßnahme, gleichsam aus dem Kreuz­feuer der Kritik zu fliehen und sich selbst wieder in der Vaterrolle aufzuwerten. Allerdings wäre es auf der Basis der heutigen Erkenntnis für alle Beteiligten wünschenswert, wenn die Väter die im Ideal bereits geäußerten Vorstellungen auch in die Tat umsetzen würden. In diesem Zusammenhang ist aber auch eine systemische Sichtweise anzumahnen, konnte doch in einer Untersuchung von Fthenakis, dass Mütter trotz weitverbreiteter Unzufriedenheit mit der Beteiligung der Väter an familialen und hauswirtschaftlichen Aufgaben gravierende Eifersuchtserwartungen im Falle einer gleichberechtigten Mitverantwortung für die Kinder äußerten. Zwar sei die Mithilfe bei der Kinderbetreuung und -pflege erwünscht, die Exklusivität der Mutter-Kind-Beziehung solle aber erhalten bleiben. Mütter wollen die wichtigste Person im Leben des Kindes bleiben.

8. Literatur

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Schlüter, S. (1997): Geht das gut? Männliche Pädagogen im Frauenhaus.

In: Sozialmagazin, Heft 10, S. 14 - 26.

Schmidt-Denter, U. (1984): Die soziale Umwelt des Kindes. Berlin.

Schneider, W. (1989): Die neuen Väter - Chancen und Risiken. Zum Wandel der Vaterrolle in Familie und

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Stechhammer, B. (1981): Der Vater als Interaktionspartner des Kindes. Ein pädagogischer Beitrag zur Erfassung

sozialer Bedingtheiten des väterlichen Interaktionsverhaltens. Frankfurt/M.

Vogt, G.M.; Sirridge, S.T. (1993): Söhne ohne Väter. Vom Fehlen des männlichen Vorbilds. Frankfurt/M.

Verfasser:

Stephan Barth, Diplom-Pädagoge, Diplom-Sozialarbeiter