Mittwoch, 12. November 2008

Das große Würfelspiel

10. November 2008, Neue Zürcher Zeitung

Das grosse Würfelspiel

Wie sexuelle Fortpflanzung uns Individualität schenkt


Von Gottfried Schatz

Welche Eltern freuen sich nicht, wenn ihr Kind ihnen ähnlich ist? Doch sie mögen sich auch fragen, welche geheimnisvolle Kraft ihm Begabungen verlieh, die ihnen selbst fehlen. Es war das Würfelspiel der sexuellen Fortpflanzung, das die Gene beider Eltern vermischte und so dem Kind ein völlig neues – und somit einmaliges – Erbgut schenkte. Dieses Würfelspiel sichert unserer Spezies biologische Vielfalt und erneuernde Kraft. Es gibt zwar auch Lebewesen ohne Sexualität, doch sie sind wenig wandlungsfähig und sterben meist schnell aus.

Die Chromosomen

Sexuelle Fortpflanzung fordert zwei Geschlechter. Bei vielen Fischen und Reptilien bestimmt die Bruttemperatur das Geschlecht des im Ei reifenden Lebewesens. Je nach Tierart kann dabei eine tiefe Temperatur die Entwicklung von Männchen oder Weibchen fördern. Andere Lebewesen steuern das Geschlecht ihrer Nachkommen über bestimmte Gene – und wieder andere über eine Kombination dieser Mechanismen..

Säugetiere, Fliegen und einige Pflanzen bestimmen das Geschlecht über besondere Chromosomen. Jede unserer Körperzellen besitzt 46 wurmartige Chromosomen, in denen die fadenförmigen Gene hochverdrillt und mit Proteinen verpackt sind. In Frauen sind je zwei dieser Chromosomen nahezu identisch; eines stammt jeweils von der Mutter und das andere vom Vater. Mit einer Ausnahme gilt dies auch für Männer. Die Ausnahme ist das sogenannte X-Chromosom, das in Frauen mit einem zweiten X-Chromosom, in Männern jedoch mit einem ihm unähnlichen Partner – dem Y-Chromosom – gepaart ist. Dieses findet sich nur in Männern. Es trägt lediglich 45 Gene, etwa ein Zwanzigstel der Zahl der Gene, die das X-Chromosom und die meisten anderen Chromosomen tragen. Viele der Gene auf dem X- und dem Y-Chromosom steuern die Ausbildung des Geschlechts und die sexuelle Fortpflanzung.

Ei- und Spermazellen besitzen keine Chromosomenpaare, sondern von jedem Chromosom nur ein einziges Exemplar. Die (weibliche) Eizelle trägt stets ein X-Chromosom und die (männliche) Spermazelle entweder ein X- oder ein Y-Chromosom. Die Befruchtung des Eies durch eine X-haltige Spermazelle führt zu einem XX-Embryo – also zu einer Frau. Die Befruchtung durch eine Y-haltige Spermazelle bringt einen XY-Embryo hervor – also einen Mann. Bevor sich aber die beiden Partner eines Chromosomenpaares voneinander trennen, um in eine Ei- oder Spermazelle sortiert zu werden, tauschen sie Teile untereinander aus und verändern sich oft auch noch auf andere Weise. Dabei mischen sie die Gene der beiden Eltern nach dem Zufallsprinzip in schier unendlichen Kombinationen. Gibt es ein grossartigeres Würfelspiel?

Genschrott

Y- und X-Chromosomen entstanden vor etwa 300 Millionen Jahren, als sich die Säugetiere von den Reptilien trennten. Das X-Chromosom bewahrte die meisten seiner ursprünglichen Gene, doch das Y-Chromosom verlor sie fast alle, weil es beschädigte Gene nicht ausbessern kann. Gene sind nämlich chemisch instabil und müssen laufend repariert werden. Ein Gen auf einem der 22 «normalen» Chromosomenpaare hat dafür ein gleichartiges Gen am Partnerchromosom als Sicherheitskopie zur Verfügung. Bei Frauen gilt dies natürlich auch für die Gene ihres XX-Chromosomenpaares. Bei Männern haben jedoch weder das X- noch das Y-Chromosom einen gleichartigen Partner – und somit ihre Gene keine Sicherheitskopie. Gene des X-Chromosoms können etwaige Schäden immerhin ausbügeln, wenn sie über sexuelle Fortpflanzung wieder in eine weibliche Körperzelle gelangen, die ihnen ein zweites X-Chromosom bietet. Genen des Y-Chromosoms ist jedoch dieser Weg verwehrt, weil in Männern auch die Körperzellen nur ein einziges Y-Chromosom tragen. Überdies muss ein Y-Chromosom lange Zeit in einer Spermazelle ausharren, die wegen ihres hohen Energiebedarfs intensiv atmet und deshalb ihre Gene verstärkt durch Oxidation schädigt. Gene am Y-Chromosom leben also gefährlich und mutieren etwa fünfmal schneller als die meisten anderen Gene, so dass das menschliche Y-Chromosom heute mit Genschrott übersät ist.

Noch dazu können selbst verhältnismässig intakte Y-Chromosomen für immer verloren gehen, wenn ihr männlicher Träger keinen Sohn zeugt. Unser Y-Chromosom dürfte deshalb früher oder später ganz verschwinden. Wahrscheinlich versuchen seine geschlechtsbestimmenden Gene schon jetzt, sich auf andere Chromosomen zu retten. Weil einzelne Teile des Y-Chromosoms verschieden schnell mutieren, ist es allerdings noch ungewiss, wie lange sich dieses Chromosom noch halten kann. Schätzungen schwanken zwischen etwa 100 000 und über 10 Millionen Jahren.

Selbst Mutationen am X-Chromosom betreffen vor allem Männer, weil sie ja auch von diesem Chromosom nur ein Exemplar besitzen und deshalb seine Mutationen nicht mit einer intakten Sicherheitskopie abpuffern oder übertünchen können. Für die Evolution ist deshalb das X-Chromosom ein Experimentierfeld für neue Gene, die vorwiegend Männern zugutekommen. Auffallend viele dieser Gene steuern Fortpflanzung und geistige Entwicklung. Ist das X-Chromosom also «smart und sexy» – wie dies eine meiner Kolleginnen behauptet hat? Könnte es sein, dass Intelligenz auf Frauen als Merkmal «guter» Gene – und damit als sexuelles Lockmittel – wirkt und intelligenten Männern besonders reichen Kindersegen beschert?

Wenn aber unser Y-Chromosom ganz verschwinden sollte, würde dies auch für uns Männer das Aus bedeuten? Glücklicherweise nicht, denn unsere Spezies könnte ohne sie nicht überleben. Die «Männlichkeitsgene» würden dann wohl von einem anderen Chromosom aus – gewissermassen aus dem Exil – wirken. Das grosse Würfelspiel würde dann dieses Exil langsam, aber sicher zu einem neuen Männlichkeitschromosom umformen und so eine weitere Runde des Werdens und Vergehens einläuten.

Zwang und Freiheit

Dass Männer und Frauen nicht aus demselben Holz geschnitzt sind, bestätigt also auch die molekulare Biologie. Leider verführt fast jede neue Entdeckung geschlechtsspezifischer Denk- und Verhaltensmuster zu vorschnellen und oberflächlichen Schlüssen über «Stärken» und «Schwächen» – oder aber zur «politisch korrekten» Leugnung jeglicher Unterschiede. Solche Reaktionen verletzen mein Menschenbild, weil sie nicht wahrhaben wollen, wie entscheidend biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau unser Leben und unsere Kultur bereichern.

Eiferer beider Seiten haben dieses Thema nicht nur in unserer Gesellschaft, sondern sogar in der Wissenschaftsgemeinde tabuisiert und diese damit ins Mark getroffen. Denn wenn wir Wissenschafter kontroverse Fragen nicht mehr frei und emotionslos diskutieren können, verlieren wir den Boden unter den Füssen. Natürlich widersprechen viele der in unserer Urzeit entwickelten geschlechtsspezifischen Verhaltensmuster den heutigen Bedürfnissen; anders als Tiere können wir jedoch biologische Zwänge kraft unseres Verstandes und unserer Kultur überwinden und veredeln. Dazu mussten wir in einem jahrmillionenlangen Kampf urtümliche Gene zerstören und andere neu entwickeln. Erst dieser Kampf hat uns zu Menschen geformt.

Lebensfragen

zz. Gottfried Schatz, als Biochemiker eine internationale Kapazität insbesondere auf dem Gebiet der Erforschung der Mitochondrien, ist emeritierter Professor der Universität Basel. Er leitete dortselbst einige Jahre das Biozentrum und war von 2000 bis 2004 Präsident des Schweizerischen Wissenschafts- und Technologierates. Gastprofessuren führten ihn an die Harvard und an die Stanford University. Der 1936 in Österreich Geborene ist in jüngeren Jahren auch als Violinist an österreichischen Opernhäusern tätig gewesen.

«What is Life?», fragte Erwin Schrödinger in einem 1944 erstmals gedruckten und noch immer lesenswerten Büchlein. Nicht zuletzt von dem eminenten Physiker ist unser Autor inspiriert worden, sich Fragen zuzuwenden, die manche Grenze überschreiten, auch die zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen. Solche Fragen greift Gottfried Schatz in Essays auf, die in lockerer Folge an dieser Stelle erscheinen. Die erste Staffel der Artikel ist inzwischen in Buchform unter dem Titel «Jenseits der Gene» (Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2008) erhältlich.