Mittwoch, 3. Februar 2010

Männer als Opfer

Quelle: Dr.med. Mabuse -Zeitschrift für Gesundheitsberufe, Frankfurt, Mai/Juni 2000,
Heft 125, S. 46-49.

Männer als Opfer

Hans-Joachim-Lenz

Vorbemerkung
Das Gebiet dieses Artikels abzudecken, ist wie Schlittschuhlaufen über gefährliches dünnes Eis”
Dieser Satz des australischen Männerforschers Robert Connell1 als Vorspann zu einem Text über “ der Männlichkeit in der Weltgeschichte” trifft sicherlich auch auf das in seiner Weite und Tiefendimension noch kaum sichtbare Feld der männlichen Gewalterfahrungen zu. Deshalb bedeutet der Fokus auf männliche Opfer - um ein anderes Bild zu wählen - eine riskante Gratwanderung, die rasch in eine Schieflage führen kann.

Dies ist m.E. dann der Fall, wenn durch das Argument der Opfererfahrung von Männern männliche Täterschaft unverantwortet bleibt, verleugnet oder heruntergespielt wird.
Oder aber wenn vordergründige klischeehafte Schuldzuschreibungen an das andere Geschlecht vorgenommen und damit falsche Argumente im Geschlechterkampf mobilisiert werden2.

Legitim ist es hingegen, die Opfererfahrungen von Männern als originäres Thema aufzugreifen, ohne es abzuwerten oder zu relativieren. 3 Trotz berechtigter Vorbehalte gegenüber dem Opferbegriff4 ermöglicht dieser die Situationen von Gewalt, Ausbeutung und Misshandlung, die Männern zugemutet werden, überhaupt einmal aufzudecken und damit besprechbar zu machen.

Öffentlich fallen Männer als Täter auf und nicht als Opfer. Männliche Opfer werden so gut wie nicht als solche wahrgenommen. Es gibt für sie (noch) keine angemessene soziale, beratende oder therapeutische Unterstützung. Sie interessieren erst dann, wenn sie zu Tätern geworden sind.

Die zeitgleiche, die Inhalte vermengende Betrachtung von männlicher Opfererfahrung und
männlicher Täterschaft ist m. E. jedoch problematisch, da sie den klaren Blick auf Grenzverletzungen, denen auch Männer ausgesetzt sind, verschleiert. Ein vorurteilsfreier Blick auf die männlichen Opfererfahrungen ist unabdingbar für eine unverstellte Sicht auf die Wirklichkeit von Männern.5

Opfer wurden schon immer geächtet
Wir hassen das Opfer in uns. Deswegen dürfen wir nicht nur kein Mitgefühl für das Opfer aufbringen, wir müssen es auch weiter peinigen oder peinigen lassen, um so unser eigenes Opfer-Sein zu bestrafen.“6 Opfer wurden schon immer privat und sozial geächtet, wie die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Entschädigung für die Opfer der Zwangsarbeit in der NS-Zeit zeigen. Es wurde nicht darüber gesprochen, es fand eine “ Verdrängung” statt. Ursula Wirtz zieht einen Vergleich zum Umgang mit Inzestopfern. “ lange wurde das Inzestgeschehen heruntergespielt, als psychopathologisches Phänomen ausgegrenzt und in die Abnormität verwiesen.

Auch der ganze Komplex der NS-Verbrechen wurde in ähnlicher 2 Weise verhüllt, verleugnet und aus dem Bewusstsein ausgeklammert [...]. Weder die KZ-Opfer noch die Kinder vor Gericht durften erleben, dass sie als Menschen ernst genommen und respektiert wurden.“7
Mit diesem letzten Gedanken ist insbesondere die Gutachterpraxis in Wiedergutmachungsverfahrenangesprochen.8

Noch heute kämpfen Opfer um ihre Anerkennung. Inzwischen - nach 55 Jahren - wird auch deutlicher, dass es neben Juden noch andere diskriminierte Opferethnien gab, die lange Zeit verborgen geblieben waren.

Die gegenwärtige Situation männlicher Opfer ähnelt der von vergewaltigten und misshandelten Frauen vor dreißig Jahren: Verleugnung der Problematik und Ignoranz den Betroffenen gegenüber. 9

Erst durch die neuere Frauenbewegung und deren Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen wurde das Leid der Frauen überhaupt sichtbar und die alltäglichen Grenzverletzungen angeprangert. Das vermeintlich Private wurde nach außen gewendet und die persönlich erlebten Grenzverletzungen politisiert. “ an Frauen” wurde zur grundständigen politischen Metapher für Benachteiligung und Diskriminierung von Frauen in diesen patriarchalkapitalistischen Verhältnissen.

Der Preis, den Männer für ihren Machterhalt zahlen, kommt in der Frauenperspektive nicht in den Blick, insbesondere auch nicht das Stigmatisieren und Diskriminieren der von gängigen Vorstellungen “” Männlichkeiten.

Eine analoge gesellschaftliche Kraft, die den Skandal männlicher Opfererfahrungen als soziales Problem aufdecken und daraus gesellschaftspolitische Folgerungen ableiten könnte, ist weit und breit nicht in Sicht. Die Verstrickung der männlichen Geschlechtsgenossen in die herrschenden patriarchal-kapitalistischen Verhältnissen wirkt einer Solidarisierung von Männern entgegen.

Männer als Opfer - ein kulturelles Paradox
Die gesellschaftliche Normalität der hegemonial organisierten Männergesellschaft bildet den strukturellen Hintergrund dafür, warum und wie männliche Opfer produziert werden, wie mit ihnen umgegangen wird und wie diese sich selbst sehen. Die männliche Form der Weltaneignung beruht auf Herrschaft und Kontrolle und vermittelt sich in einem verhängnisvollen patriarchalen Kulturbegriff.

In immer neuen Variationen dreht sich dieser um Unterwerfung, Aneignung, Sich-Erheben über ein Gegebenes, oder um gewaltsame Veränderung eines Gegebenen10. Unter den bestehenden Herrschaftsverhältnissen, auf der Basis der kapitalistischen Marktwirtschaft, funktioniert die ”” die in das System der “ Männlichkeit” (Connell) eingebunden ist. Ideologisch abgesichert durch die Formel von “ Leistung und individuellem Erfolg” herrscht das “ des ökonomisch Erfolgreichen”

Als Ergebnis bleiben wenige Sieger und viele Verlierer übrig. Die Verlierer werden stigmatisiert.

Auch Männer (nicht nur Frauen) sind unter diesen gesellschaftlichen Verhältnissen der Verfügbarkeit strukturell ausgesetzt. In dieser Logik stellt der Begriff des “ Opfers” ein kulturelles Paradox dar. Entweder ist jemand ein Opfer oder er ist ein Mann. Beide Begriffe werden als unvereinbar gedacht.

Markant formulierte eine der ersten Aktivistinnen gegen sexuellen Missbrauch an Kindern, Ursula Enders, bereits Ende der 80er Jahre: “ sind keine Opfer! Opfer sind weiblich!”11

Beispiele männlicher Opfererfahrungen
Männer sind zumindest so viel Gewalt ausgesetzt wie Frauen. Die Erfahrung des Opferwerdens gehört zu jedem Männerleben. Niederlage, Erniedrigung oder Demütigung sind „ Unterwerfungserfahrungen unter die Übermacht vor allem anderer Männer12“ Die verschiedenen Lebensbereiche, in welchen Männer vorwiegend Opfererfahrungen machen bzw. gemacht haben, verlaufen entlang der für ihre Entwicklung relevanten Sozialisationsinstanzen wie Herkunftsfamilie, Schule, Gleichaltrigengruppe, Bundeswehr, Partnerschaft, Beruf. Deren offener Lehrplan lautet: Männer werden systematisch dazu konditioniert, Schmerzen zu ertragen...” 13 Sie lernen damit, ihre Empfindungen von Leiden zu verbergen. „ als Kinder werden wir zu Opfern, irgendwann einmal, ganz früh. Zugleich dürfen wir das nicht zugeben, denn Opfer sein gilt als Beweis, dass w ir es als Kind nicht richtig gemacht haben.“14

Im folgenden werden die bislang bekannten Problemlagen männlicher Opfererfahrungen knapp charakterisiert.

Opfererfahrungen von Jungen15
Die darin einbezogenen Problemlagen umfassen als innerfamiliäre Form von Gewalt die Kindesmisshandlung. Diese findet auf einer psychischen und physischen Ebene statt, häufig gibt es fließende Übergänge und Mischformen zwischen beiden. Hierunter fallen Vernachlässigung, Verwahrlosung, körperliche Züchtigung, emotionale Ausbeutung, seelische Misshandlung, aber auch Totschlag und Mord. Vermutlich werden Jungen häufiger und schwerer als Mädchen von ihren Eltern geschlagen16. Misshandlung ist häufig mit sexueller Ausbeutung und sexuellen Gewaltübergriffen verbunden.

Bei Jungen, so wird vermutet, ist die Dunkelziffer noch größer als bei Mädchen. Erschwerend kommt hinzu, dass sie qua Geschlechtsrolle nicht als Opfer in Erscheinung treten wollen bzw. dürfen. Bange vergleicht verschiedene vorliegende Untersuchungen und konstatiert, dass der Jungenanteil bei sexuellen Gewalterlebnissen 4-14 % beträgt17.

Im Kontext von innerfamiliärer sexueller Ausbeutung ist der Inzest bedeutend. Unterscheiden lassen sich18 Mutter-Sohn-Inzest, Vater-Sohn-Inzest und Geschwister-Inzest. Der Inzest ist eingebettet in die Dynamik der Familie, an der alle Familienmitglieder beteiligt sind, er genießt den Schutz der Privatheit der Familie. Die Dunkelziffer ist hier besonders hoch. Sexuelle Ausbeutung findet häufig außerhäuslich statt.19

Zu den außerfamiliären Formen von Gewalt an Jungen gehören auch die erheblichen alltäglichen Gewaltübergriffe, denen Jungen ausgesetzt sind. Eine neuere Studie20 belegt: Durchweg haben Jungen bei Tätern und Opfern ein spürbares Übergewicht in der Gewalthäufigkeit, wobei nicht spektakuläre Schlägereien, sondern psychische Angriffe, besonders verbale Aggressionen im Vordergrund stehen.4

Pädosexualität ist eine Form der sexuellen Ausbeutung von Kindern und stellt eine besonders subtile Art häufig gleichgeschlechtlicher und generationenübergreifender Grenzübergriffe dar. Oftmals wird die vorrangige sexuelle Befriedigung der überwiegend männlichen Täter mit der Begrifflichkeit Pädophilie als “” versehen. In Wirklichkeit handelt es sich um Pädosexualität21. Die “ der Zärtlichkeit” w ird mit der “ der Leidenschaft” verw echselt. Folglich findet eine “ zw ischen dem Erw achsenen und dem Kind” (Ferenczi) Statt.

Sexuelle Gewalterfahrungen spielen eine wichtige Rolle auf dem Weg zur Prostitution von Jungen. Die Schädigungen bestehen darin, Sexualität instrumentalisiert und unter entwürdigenden Rahmenbedingungen zu erleben. Bei Gewaltübergriffen wird oftmals von deren Mitschuld ausgegangen.

Eine zunächst religiös und im 19. und 20. Jahrhundert teilweise auch versuchsweise medizinisch legitimierte Form von gewalttätigen Verletzungen ist die sogenannte Beschneidung. Die Genitalverstümmelung von Mädchen und Jungen unterscheidet sich hinsichtlich der Arten und insbesondere hinsichtlich der Folgen. Festzuhalten bleibt, daß beides brutale Eingriffe in die körperliche Integrität von Menschen und beides Verstümmelungen sind.22

Männliche Opfer: Beispiele geschlechtsspezifischer Zumutungen

Männer als Opfer von Körperverletzungen
Männer sind mehrheitlich die in der Kriminalstatistik ausgewiesenen Täter und mehrheitlich auch die Opfer von Gewalttaten (ca. 70 %). Bei Körperverletzungen überwiegt der Männeranteil in allen Altersklassen. Eine repräsentative Opferbefragung aus dem Jahre 1992 hat ergeben: “ Gewaltdelikte weisen danach 16-bis 24jährige Männer die höchsten Opferraten auf.”23

Männer als Opfer sexueller Gewalt“
Männer sind auch sexuellen Angriffen ausgesetzt, denen selten eine spezifisch homosexuelle Orientierung zugrunde liegt24. Bereits in den 70er Jahren waren bei 4-8 % aller aktenkundigen sexuellen Vergewaltigungen Männer die Opfer. Häufig handelt es sich dabei um eine gewalttätige patriarchale Machtdemonstration, die sich insbesondere um die Frage dreht, wer wen (anal) penetriert. Einem gedemütigten männliche Opfer wird zumeist eine Mitschuld unterstellt: Es hätte sich ja wehren können und vielleicht ist er ja ein (verkappter) Schwuler, der sich nur ziert. Machtmissbrauchende sexuelle Gewaltübergriffe durch medizinisches Personal an Männern sind dokumentiert (z.B. die sexuelle Vergewaltigung eines männlichen Patienten durch einen Urologen25). Inwieweit HIV-Infektionen durch sexuelle Vergewaltigungen hervorgerufen werden, wird bislang so gut wie nicht thematisiert.

Männer als Opfer in der Arbeitswelt”
In Zeiten der rasanten Veränderungen der männlichkeitsdominierten Arbeitsgesellschaft und der Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses werden Männer an ihrer Achillesferse getroffen: die zentrale Definition eines männlichen Lebens über Erwerbsarbeit verliert ihre Grundlage, wenn Erwerbsarbeit gesellschaftlich zuneh mend entwertet wird bzw. ganz wegfällt26. Die soziale Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern dieser Entwicklungen verschärft sich.
Marginalisierte Männlichkeit unterliegt der Tendenz zur Verelendung. Inzwischen tritt Armut wieder deutlicher als strukturelles Problem hervor. “ trotz Wohlstand” läßt immer mehr Menschen, Männer und Frauen, zum Opfer dieser Verhältnisse werden. “ Folge dieser Entwicklung ist, daß die Armutsquoten von Frauen und Männern sich allmählich annähern”27, wie sich dies auch in der zunehmenden Obdachlosigkeit ausdrückt. Der Anteil der Männer daran beträgt ca. 70 % (= ca. 700 000 Männer) 28.

Ein spezielles Problemfeld sind die im Rahmen der Arbeitswelt praktizierten hegemonialen Demütigungsrituale, die dazu führen, daß nicht nur Frauen, sondern auch Männer Mobbingattakken, körperlichen und sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind29. Ein Drittel aller sexuellen Belästigungen am Arbeitsplatz trifft Männer30.

Ein weiteres Problemfeld stellen die gesundheitlichen Belastungen dar, die Männer in typischen Männerberufen (z. B. Straßenteerarbeiter, Hüttenarbeiter, Dachdecker, Feuerwehrmann) ausgesetzt sind. Eine Tätigkeit wird umso eher an einen Mann vergeben, je gefährlicher, anstrengender, riskanter und körperlich schwerer sie ist31

Männer als Opfer in heterosexuellen Intimbeziehungen
In einer Auswertung verschiedener zumeist nordamerikanischer empirischer Studien über Gewalt in Partnerschaften kommt Gemünden zu folgendem Schluss: Es kann es als einigermaßen gesichert angesehen werden, daß etwa so viele Frauen wie Männer gegen den Partner Gewalt anwenden. 32 Die eingesetzten Mittel und deren Auswirkungen differieren des öfteren. Tendenziell sind Männer mehr psychologisch-verbalem Druck, während Frauen mehr der realisierten oder angedrohten Gewalt ausgesetzt sind. Im Einzelfall kann dies allerdings auch umgekehrt sein. Bei erzwungener sexueller Gewalt in Partnerschaften nannten in einer nordamerikanischen Studie 13,5 % der Frauen und 6,8 % der Männer entsprechende Vorfälle33

Männer als Opfer in Trennungssituationen”
Im Zusammenhang mit der juristischen Ebene von Scheidungsverfahren monieren betroffene Männer vorhandene Mängel in den gesetzlichen Regelungen und Vorurteile bei, die Männer auf traditionelle Geschlechterklischees festlegen (z. B. “ Mann als finanzieller Versorger der Familie” “ Frau ist für die Erziehung von Kindern besser geeignet” Manche Männer sind zudem durch Sorgerechtsverpflichtungen oftmals gezwungen, ihre materielle Existenz auf dem Niveau von Sozialhilfe einzupendeln, wodurch die Möglichkeiten zur Gründung einer neuen Familie erheblich eingeschränkt sind34.

Männer als Opfer von häuslicher Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen
Dies wird bislang so gut wie nicht thematisiert und häufig durch vielerlei Mythen und Vorurteile verdeckt. In einem Anti-Gewalt-Projekt in San Francisco wird vermutet, daß in 50 % aller schwulen Beziehungen Männer zu Opfern häuslicher Gewalt werden35.

Schwule als Opfer”
Deren Grundlage ist eine homosexuellenfeindliche Einstellung in der patriarchalischen Gesellschaft36. Die kulturelle Tabuisierung von körperlicher Intimität und Nähe zwischen Männern führt zu Homophobie als “” Bestandteil traditioneller männlicher Identität. Gekoppelt mit kultureller und sozialer Verunsicherung führt diese zum Hass auf und zur Gewalt gegen die “” Minderheit. Körperverletzungen und Erpressung durch gewalt6 tätige Männer, die oft aus sehr patriarchalen Kulturen kommen, sind die häufigsten Gewaltformen.
Männliche Ausländer als Opfer”
Mit der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit auf hohem Niveau wuchs ebenfalls die Ausländerfeindlichkeit stark an. 1995 waren 63,7 % der Opfer von ausländerfeindlichen Übergriffen männlich.37

Männer als Opfer innerfamiliärer Gewalt:
Es besteht eine erhöhte Gefahr von Misshandlungen, wenn Männer alt und gebrechlich werden. Alte, uneingelöste Rechungen zwischen den Partnern können beglichen werden. Studien belegen, daß in Paarbeziehungen zwischen alten Menschen Männer etwa gleich oft wie Frauen Opfer interpersonaler Gewalt werden. Im Alter passen sich die Gewalttätigkeiten einander an38.

Männer als Opfer im Gefängnis
Im Gewaltsystem Gefängnis tritt die gewalttätige Schlagseite herrschender Männeridentität offen und krass zu Tage. Häufig finden in Gefängnissen, deren Insassen zu ca. 95 % männlichen Geschlechts sind, gewalttätige und sexuelle Übergriffe statt, ohne daß sie geahndet würden (vgl. Duerr 1993).

Männer als Opfer in Heimen und geschlossenen Anstalten
In sozialen und pädagogischen Institutionen, die eigentlich das Wohl und den Schutz von bedürftigen Kindern und (behinderten oder alten) Erw achsenen zur Aufgabe haben, geschehen zahlreiche Übergriffe. So scheinen manche Heime (vom Wohnheim über die Behinderteneinrichtung bis zur Psychiatrie) ein gefährdender Ort zu sein, w as die Wahrung der körperlich-seelischen Integrität ihrer Schützlinge angeht39.

Männer als Opfer in Kriegen”
Kriege im abendländischen Verständnis waren und sind Inszenierungen, in denen eine unmittelbare Konfrontation zwischen Gruppen von Männern stattfindet. Während der kriegerischen Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien gab es seit 1992 Massenvergewaltigungen an Frauen. Daneben wurden auch Männer massakriert, anal vergewaltigt und sexuell missbraucht, was keine öffentliche Aufmerksamkeit hervorrief40. Dahinter verbirgt sich die Regel :“ Kriege sprach und spricht man von ‘’ wenn von gefallenen Männern die Rede ist, die ‘’ sucht man bei Frauen, Kindern und Alten in der Zivilbevölkerung.”41Auch in “” ist männliche Mentalität in allererster Linie eine Kriegermentalität42. Die Folge ist, daß auch innerhalb der militärischen Zwangsgemeinschaften hegemoniale Übergriffe, Demütigungen und Vergewaltigungen stattfinden.43

Männer als Opfer ritueller Vergewaltigungen
Im Zusammenhang mit dem notwendigen Wandel traditioneller Männlichkeitsvorstellungen traten in den 80er Jahren - zunächst in den USA - mythopoetisch-orientierte Gruppierungen auf, die Männern archaisch begründete Initiationsrituale anboten und ihnen versprachen, im Kreis anderer Männer, sie zum „ Mann“ zu machen. Diese Welle schwappte im Dunstkreis Robert Blys Eisenhans Anfang der 90er Jahre auch nach Deutschland über. Seither werden - vor allem in der Schweiz - von dem nordamerikanischen Grafiker Bellicchi zu horrenden Preisen44 entsprechende Männer-Workshops angeboten. In sektenhaftem Arrangement setzt er seine charismatische Wirkung45 ein. Am Be7 ginn der Seminare werden die teilnehmenden Männer zum Schweigen verpflichtet. Bellicchi macht die teilnehmenden Männer subtil für seine weiblichkeitsverachtenden und kommerziellen Interessen gefügig. Dabei ist die gewalttätige Traumatisierung der Teilnehmenden eine zentrale Rekrutierungsstrategie46.

Tabuisierte Wahrnehmung von männlichen Opfern
Betroffene Männer und auch die wenigen für diese Problematik offenen Helfer (Ärzte, Psychologen, Pädagogen, Sozialarbeiter) berichten immer wieder von erheblichen Widerständen hinsichtlich der Wahrnehmung von männlichen Opfern.

Die überwiegende Zahl des sozialen, pädagogischen, therapeutischen, juristischen und medizinischen Fachpersonals verharmlost (noch) die an Jungen und Männern begangenen gewalttätigen Übergriffe oder weigert sich, diese überhaupt wahrzunehmen. Z.B. berichten die vereinzelten männlichen Opfer sexueller Vergewaltigungen, die das Schweigen brechen, von wiederholten negativen Erfahrungen bei Ärzten47, die verheerende sekundäre Traumatisierungen hinterlassen (“ bin so unheilbar krank, daß mir nicht einmal Ärzte helfen können” Männliche Opfer scheinen Beratern und Therapeuten Angst zu machen, weil sie eine dunkle Seite des Helfers berühren: die eigene Erfahrung des Sich-zur-Verfügung-Stellens. Die Helfer wollen die Opfer nicht sehen, weil sie selbst nicht mit ihrer eigenen schwachen - als weiblich denunzierten - Seite gesehen werden wollen48.

Auf der Wahrnehmungsebene fordert das Opfer nämlich vom Helfer, daß dieser sich mit den eigenen Erfahrungen des Opferseins und der vermeintlichen „“ auseinandergesetzt hat. Und dieser schmerzliche Prozess stellt mit großer Wahrscheinlichkeit das eigene Verständnis von Männlichkeit tiefgehend in Frage.

Speziell in der Schulmedizin hat die Wirkung der Geschlechterstereotype strukturell-historische Gründe, die sich aus der Entwicklung der Schulmedizin als Männerdomäne und der parallelen Entwicklung des neuzeitlichen Männlichkeitsverständnisses ergeben49.

Ausdruck der traditionellen Männerrolle ist das Streben nach Macht, Dominanz und Status. Diese drei Aspekte sind unter Männern von herausragender Bedeutung. Das männliche Verständnis von Wettbewerb und Leistung mißachtet den Verlierer und die Gemeinschaft und orientiert sich ausschließlich am individuellen Nutzen des Gewinners. Männer schrecken vor Ausbeutung, Gewalt und Aggression oft nicht zurück, wenn es gilt, Status und Position zu sichern. Sie schwören auf Vernunft, Logik und Intelligenz und versuchen die Welt in kopflastige Kategorien zu zwängen. Der Umgang unter Männern unterliegt an Hierarchien orientierten Regeln speziell im Berufsbereich und Arbeitsbereich ....“50

Sind Helfer und Opfer männlichen Geschlechts, wirkt verschärfend die kulturspezifische Homophobie, d.h. die nicht integrierten eigenen Anteile gleichgeschlechtlicher Zuwendung zwischen Männern51. Die geschlechtsspezifische Helferdynamik führt dazu, daß es männlichen Helfern leichter zu fallen scheint, mit missbrauchten Mädchen und männlichen Tätern als mit gleichgeschlechtlichen 8 Opfern zu arbeiten52. Und zudem werden die meisten Fälle männlicher Opfer überwiegend von Frauen, die in sozial-therapeutischen Einrichtungen arbeiten, aufgedeckt. Die Tabus gegenüber männlichen Opfern finden sich - was im ersten Augenblick staunen läßt - auch bei den “neuen” und “bewegten” Männern. In sozialarbeiterisch tätigen Männerprojekten liegt der Fokus eindeutig auf der Arbeit mit männlichen Tätern. In den noch spärlichen Ansätzen von Männerforschung53 und auch in der gerade aufkeimenden Männergesundheitsforschung54 interessieren männliche Gewaltopfer und männliche Opfer von sexuellem Missbrauch nicht.

Die Vermutung für diese nicht überwundene Geschlechtsblindheit lautet: auch die “” Männer sind traditionell sozialisierte Männer und identifizieren sich - in etwas anderem Outfit - mit dem hegemonialen Männlichkeitsmodell, das sich über Gewalttätigkeit definiert55, ohne daß dies so grundlegend in Frage gestellt würde, und dessen blinde Flecken überwunden werden.56

Die Bedeutung für die Gesundheitspolitik und die Gesundheitsberufe
Ein Perspektivenwechsel hinsichtlich einer Sensibilisierung für Gewaltübergriffe, die gegen
Jungen und Männer gerichtet sind, ist notwendig.

Im Zentrum einer solch veränderten Sichtweise steht, daß die noch verborgene Problemstellung männlicher Opfererfahrungen überhaupt als soziale Problemlage wahrgenommen und damit in ihrer gesellschafts- und gesundheitspolitischen Brisanz anerkannt wird.

So ist gesundheits- und sozialpolitisch die um sieben Jahre kürzere Lebensdauer von Männern bislang kein Thema. Auch nicht der Tatbestand, daß nur jeder dritte männliche Erwerbstätige gesund in die Rente geht. Bereits vor Erreichen des Rentenalters ist je ein weiteres Drittel verstorben oder wegen Berufsunfähigkeit ausgeschieden57.
Die gesundheitlichen Schäden, die auf Gewaltanwendungen zurückgehen, werden bei Frauen auf ein Fünftel der Krankheitstage geschätzt58. Die Vermutung liegt nahe, daß dieser Anteil bei Männern aufgrund ihrer höheren Opferbeteiligung an Körperverletzungen größer sein dürfte. Dieses Problem wird bislang ebenfalls noch nicht als politisch relevant angesehen.

• Die Schulmedizin und die daran sich orientierenden Gesundheitsberufe müssen lernen, sich in ihrer Ausbildung und Weiterbildung mit der Wirkung von Geschlechterkonstrukten im professionellen Alltag auseinander zusetzen. Dazu reicht es nicht aus, auf die biologisch unterschiedlichen Geschlechtsmerkmale zu verweisen.

Eine Männerheilkunde (Andrologie), die ihre Bezeichnung auch wirklich verdient, müsste sich neben der organisch-biologischen Ebene auch der psycho-sozialen Ebene männlicher Existenzweise zuwenden. Gewaltübergriffe an männlichen Patienten durch medizinisches Personal müssen zudem geächtet und als unvereinbar mit dem heilberuflichen Selbstverständnis erklärt werden.

• Die Wirkung stereotyper Imaginationen von Männlichkeit und Weiblichkeit ist in der schulmedizinischen Diagnose und Therapie belegt59. Diese erstreckt sich nicht nur auf Ärzte, sondern auf alle Gesundheitsberufe60. Das Hinterfragen der eigenartigen Kombination von Überidentifikation des medizinischen Personals mit dem tradierten Männlichkeitsstereotyp und der gleichzeitigen Verdrängung der männlichen Opferseite sollte dabei im Vordergrund stehen.

Ohne ein Bewusstwerden des latenten Herren-Sklaven-Verhältnisses der Männer untereinander und der in der Klient-Helfer-Beziehung wirkenden - aus der geschlechtsspezifischen Helferdynamik sich ergebenden - unbewussten Abwehrmechanismen, findet die verborgene Not männlicher Patienten keine angemessene “Behandlung” Hierfür erweisen sich entsprechende Weiterbildungen für das Personal als unentbehrlich.

• Suchtkliniken müssen lernen zu sehen, daß ein Großteil der - zum Teil jugendlichen - männlichen Patienten auch sexuelle Gewaltgeschichten mitbringen, die noch nie einem anderen Menschen mitgeteilt wurden61.

• Die gesundheitlichen Auswirkungen von Gewalterfahrungen männlicher Klienten (u.a. Psychosomatische Symptome wie Alkoholmissbrauch, Essstörungen, Schlafstörungen, Verdauungsprobleme, Selbstdestruktion, Selbstmord) sind nur im Zusammenhang zu verstehen und zu therapieren.

• Die vordergründige Fixierung der Jugendpsychiatrie und der forensischen Medizin auf das aggressive Verhalten ihrer männlichen Klientel ist zugunsten einer Sensibilisierung für deren Opferseite zu transzendieren. Dies bedeutet insbesondere für das Klinikpersonal, sich auch mit den alltäglichen gewalttätigen und sexuellen Übergriffen zwischen Insassen von geschlossenen Einrichtungen der Psychiatrie auseinander zusetzen und nicht wegzuschauen.

• Männer mit Organverlusten nach Unfällen und Erkrankungen bedürfen einer nicht nur somatischen Reparatur, sondern auch einer angemessenen psychischen Betreuung - gerade auch hinsichtlich ihres eigenen Verständnisses von Männlichkeit. Dabei ist insbesondere auf die Scham der Patienten angemessen einzugehen.

• In der Gesundheitsbildung und der Gesundheitsforschung ist die geschlechtsdifferenzierte Betrachtung von männlichen Lebenszusammenhängen ein langsam aktueller werdendes Thema62. Beiden ist es angeraten, den Bildungs- bzw. Forschungsgegenstand von Männlichkeit und Gesundheit nicht nur im Sinne einer funktionalen Modernisierung zu definieren, sondern konsequent den Fokus auf die schmerzlichen Opfererfahrungen der männlichen
Patienten in den verschiedensten Lebensbereichen zu richten63.


Ein langer Weg liegt vor uns, bis Mädchen und Jungen, Frauen und Männern die gleiche Würde und Unverletzlichkeit ihrer Person zugebilligt werden.

Autor:
Hans-Joachim Lenz, geb. 1947, Sozialwissenschaftler, Männerforscher, Praxis für Weiterbildung (u.a. für Gesundheitsberufe und zum Geschlechterverhältnis).

Literaturtipps zum Thema
BANGE., Dirk; ENDERS, Ursula: Auch Indianer kennen Schmerz. Handbuch gegen sexuelle Gewalt an Jungen. Koeln 1998.
HAGEMANN-WHITE, Carol /LENZ, Hans-Joachim: Gewalterfahrungen von Männern und Frauen. In: Klaus Hurrelmann / Petra Kolip (Hrsg.): Geschlecht und Gesundheit. Stuttgart-Bern 2002, S. 460-490.
LENZ, Hans-Joachim: Wozu geschlechtsspezifische Ansätze in der Gesundheitsbildung? 10 In: GesundheitsAkademie/Landesinstitut für Schule und Weiterbildung NRW (Hrsg.): Die Gesundheit der Männer ist das Glück der Frauen? Chancen und Grenzen
geschlechtsspezifischer Gesundheitsarbeit. Frankfurt am Main 1998, S.139-147.
LENZ, Hans-Joachim (Hrsg.): Männliche Opfererfahrungen. Problemlagen und Hilfeansätze in der Männerberatung. Weinheim - München (Juventa) 2000.
LENZ, Hans-Joachim: Männer als Opfer - ein Paradox? Männliche Gewalterfahrungen und ihre Tabuisierung bei Helfern. In: Organisationsberatung - Supervision - Clinical Management, 6. Jg. (1999), H. 2, S. 117-129.
LENZ, Hans-Joachim: Spirale der Gewalt. Jungen und Männer als Opfer von Gewalt. Berlin 1996.
LANDESINSTITUT FÜR SCHULE UND WEITERBILDUNG (Hrsg.): Frauen, Männer und Gesundheit. Zur Notwendigkeit einer geschlechterorientierten und emanzipatorischen Gesundheitsbildung. Soest 1998.

Fußnoten
1 Connell 1995: 41
2 vgl. Farrel 1995. Farrel ist ein gutes Beispiel für das hier Gemeinte: Trotz der größtenteils stimmigen Analysen zur Realität von Männern schwingt in dem vorliegenden Buch ein gegen Frauen gerichteter Tonschlag mit. Es klingt so, als wenn Frauen dafür verantwortlich gemacht werden, daß beispielsweise Männer früher sterben als Frauen oder Männer anderen gesundheitlichen Belastungen als Frauen ausgesetzt sind. Völlig aus dem Blick verliert der Autor die Tatsache, daß Männer das patriarchale System geschaffen haben (vielleicht unter Mithilfe der Frauen) und inzwischen an dem eigenen Produkt leiden. Dafür können nicht Frauen verantwortlich gemacht werden!
3 Die Perspektive auf männliche Opfer bedeutet nicht, daß die Opfererfahrungen von Frauen relativiert oder in anderer Weise mißachtet werden sollen. Weibliche Opfererfahrungen sind im Rahmen dieses Artikels allerdings nicht das Thema.
4 Gegen die Verwendung des dualisierenden Opferbegriffs wird eingewendet, daß seine Konturen verwischt werden, eine Inflation des Opferbegriffs (“ Mann ist ein Opfer” “ alle sind Opfer dieser gesellschaftlichen Verhältnisse” den Begriff entwertet und er als Legitimation für männliche Täterschaft dienen kann. Und kein Mensch ist nur Opfer, jedenfalls in der Perspektive seines gesamten Lebens. In den USA wird von „“ gesprochen.
5 Aufgrund der katastrophalen Materiallage kann der vorliegende Text nur als eine grobe Skizze für weiterführende vertiefende und klärende Studien gelesen werden.
6 Gruen 1992: 46
7 Wirtz 1990: 115
8 vgl. Pross 1988
9 vgl. Hagemann-White, Kavemann, Ohl 1997
10 vgl. Meier-Seethaler 1988: 507
11 Enders 1990: 248
12 Scheskat 2000: 226
13 Keen 1992: 57
14 Gruen 1992: 50
15 Über die Gewalterfahrungen und die sexuelle Ausbeutung von Jungen wird in den letzten Jahren - insbesondere wenn es um skandalträchtige Übergriffe (z. B. Internetpornographie) geht - immer wieder berichtet. Fortbildungen greifen hin und wieder auch therapeutische Überlegungen für missbrauchte Mädchen und Jungen auf. Allerdings gibt es immer noch Darstellungen von Kindesmisshandlung, die nur Mädchen meinen oder die Übergriffe auf Jungen verharmlosen. Lediglich die Veröffentlichungen von Bange, Boehme und Lenz fokussieren explizit auf die Opfererfahrungen von Jungen bzw. Männern.
16 Gemünden 1996: 6
17 Bange 2000: 287f.; vgl. auch Boehme 2000, 167 ff.
18 vgl. Hirsch 1990; Amendt 1993
19 Küssel, Nickenig, Fegert 1993: 27
20 Tillmann und Holtappels 1999
21 vgl. Bange 2000: 81-91
22 Lenz 2000: 32 11
23 Pfeiffer u.a. 1999: 6
24 vgl. Harten 1995: 66 f.
25 Kranich 1995: 38 ff.
26 vgl. Schnack, Gesterkamp 1998; Mäder 1999
27 Bohle 1997: 139
28 Nimtz-Köster 1999: 266
29 Vgl. Kimpling 2000: 301ff.
30 Vgl. Plogstedt, Bertelsmann 1988
31 Vgl. Bründel, Hurrelmann 1999: 120
32 Gemünden 1996: 283
33 Vgl. Harten 1995: 65
34 Vgl. Ruhl 2000: 149ff.
35 vgl. Finke 2000: 135ff.
36 Homosexualität ist für Connell eine “ der untergeordneten Männlichkeit” Vgl.
auch Finke 1993..
37 Mündliche Mitteilung von M.C. Baurmann am 14.2.1997 ; vgl. auch Blatz 1996
38 Godenzi 1996, S. 168
39 Vgl. Blinkle 2000: 92 ff.
40 Vgl. FAZ 1995: 6
41 Böhnisch 2000: 70
42 vgl. Keen 1992
43 vgl. Friedrich 1990
44 Für einen dreieinhalbtägigen Workshop werden 1500 Euro - ohne Verpflegung und Unterkunft - verlangt.
45 Zur Disziplinierung steht ein willfähriger Mitarbeiterstab zur Verfügung.
46 In der Kindheit mißbrauchte Männer versucht Bellicchi zu überreden, daß ihnen ihre Missbrauchserlebnisse von Therapeutinnen eingeredet worden seien.
47 So wurde einem jungen Mann nach erheblichen psychosomatischen Reaktionen auf einen mehrjährigen analen Missbrauch von den behandelnden sechs Ärzten (u.a. Hausarzt, Hautarzt, Internist, Psychiater) keine angemessene ärztliche Diagnose („ Missbrauch“ zuteil. Stattdessen w urde ihm empfohlen, zukünftig Baumw ollunterhosen zu tragen und Beruhigungsmittel einzunehmen (vgl. Lenz 1996: 40ff).
48 vgl. Peichl 2000: 307 ff
49 Vgl. Lenz 1998 Die Polarisierung der Geschlechterrollen entwickelte sich parallel zur Entstehung der Schulmedizin. Beispielsweise sind aus der Idee der “” im 18. Jahrhundert das Krankenhaus, das Militär und das Gefängnis mit ihren paternalistisch-hierarchischen Funktionsweisen und den daraus sich ergebenen sozialen und kommunikativen Problemen entstanden (vgl. Foucault 2000; Connell 1999).
50 Schmitz 1994: 821
51 vgl. Lenz 1999: 117ff
52 Bange 2000: 285 ff.
53 Hollstein hat vor 12 Jahren in einer Veröffentlichung einmal mit der Opferperspektive etwas gespielt, um sie dann sogleich wieder durch die Vermischung mit der männlicher Täterschaft aufzuheben (vgl. Hollstein 1988: 34 ff.). Die als die Männerstudie gegenw ärtig gehandelte Darstellung “ im Aufbruch” von Zulehner und Volz (1998) kommt im Kapitel “ Lebensinszenierung” und in der darin befindlichen Rubrik “ elt” unter dem Stichw ort Männergewalt zu der Erkenntnis, daß bei der Gew altneigung der Männer die Gewalt gegen Männer mitspiele (199). Mehr ist den Autoren zu den männlichen Gew alterfahrungen nicht eingefallen. Die durch Gew altübergriffe bei Männern hervorgerufene Not hat darin keinen Platz.
54 Vgl. BAGS 1998
55 Vgl. Böhnisch, Winter 1993: 126
56 Passivität und Opfersein ist ein radikales Infragestellen von Mannsein. Solange die “”
Männer gegen (männliche) Täter und für weibliche Opfer kämpfen, sind sie aktive Beschützer -
der Frauen. Sie bleiben damit aktiv - und können damit ihre eigenen Erfahrungen von “ Sich-zur-
Verfügung-stellen, Ausgeliefertsein und Opfersein” weiterhin verdrängen. Lieber Märtyrer
(oder Held), als Opfer. Zu fragen ist, in welchem Auftrag die “neuen” Männer eigentlich handeln. (Danke an Will Walter für den Hinweis!)
57 Vgl. Kade 1994
58 Nach einer Studie der Weltbank (vgl. taz 26.8.1994). 12
59 Vgl. Brähler/Felder 1992: 10ff; Conen/Kuster 1988: 167-172
60 In der Krankenpflege gibt es die sog. ATLs (Aktivitäten des täglichen Lebens). Eine davon heißt “ -Mannsein” (vgl. Juchli 1997). Bei Aufnahmegesprächen von Patienten bleibt diese Kategorie oftmals auf das Ankreuzen bei Mann/Frau und eine Klärung der Frage beschränkt, ob der Patient von einer gleich- oder gegengeschlechtlichen Person gewaschen werden will. Für das nicht geschlechtsbewusst geschulte Pflegepersonal schwingt bei diesem Punkt zumeist eine gewisse Peinlichkeit mit. Die existenzerhellende (und damit krankheitsverstehende) Perspektive wird nicht systematisch erfasst.
61 Vgl. Lenz 1996: 20ff.
62 Vgl. Hurrelmann, Laaser (Hg) 1998; Wiener Männergesundheitsbericht 1999; LSW 1998 b
63 Vgl. Lenz 1998:139-147
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