Junge oder Mädchen?
Der frühe Kampf der zwei Geschlechter
Von Michael Stang
22. Dezember 2009 „Nur sensible Männer können Töchter.“ Der Spruch geht auf Wolfgang Clement zurück - Vater von fünf Töchtern. Dabei lebt der ehemalige Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit in Bonn und nicht in den Tropen. Denn dort kommen deutlich mehr Mädchen zur Welt als in anderen Breitengraden.
Gründe dafür könnten die Tageslänge und die Temperatur sein, berichtet Kristen Navara von der Universität von Georgia in Athens in den Biology Letters der britischen Royal Society. Die Biologin hatte die Geburtenzahlen aus 202 Ländern aus den Jahren 1997 bis 2006 analysiert und dabei deutliche Unterschiede im Geschlechterverhältnis bei Lebendgeburten ausgemacht. Demnach waren in Afrika 49,3 Prozent der Neugeborenen weiblich, in Europa und Asien hingegen nur 48,6 Prozent. Mit Zunahme der Breitengrade nahm der Anteil der männlichen Babys zu. „Diese Verteilung konnten wir unabhängig vom Lebensstil und dem sozioökonomischen Status beobachten“, sagt Navara über ihre im April veröffentlichten Daten.
Zufall oder evolutionsbiologisches Erbe? Im weltweiten Durchschnitt ist das Geschlechterverhältnis beim Menschen erstaunlich konstant. Auf 100 neugeborene Mädchen kommen 105 bis 106 Jungen. Das entspricht dem Anteil der Jungen in Navaras Zehn-Jahres-Analyse von rund 51,3 Prozent. In den Tropen gab es jedoch weniger männlichen Nachwuchs - nur 51,1 Prozent. Um den Grund für diese Verschiebung zu finden und zu überprüfen, ob das Phänomen nur in bestimmten Kontinenten auftritt, suchte Navara nach den entsprechenden Korrelationen. „Aber auch ohne die afrikanischen und asiatischen Länder waren die Geburtenraten klar mit dem Breitengrad verbunden.“ Damit sei auszuschließen, dass eine vorgeburtliche Auswahl, wie sie in vielen Ländern Praxis ist, diese auffällige Verteilung beeinflusst.
Startvorteil für die Jungs
Wenn sich kulturelle Faktoren also ausschließen ließen, müsse die ungleiche Verteilung neugeborener Jungen und Mädchen in der Biologie zu finden sein, sagt Kristen Navara. Sie vermutet, dass es sich um ein Überbleibsel der sogenannten natürlichen Selektion handelt: Da jedes Geschlecht mit den jeweiligen Umweltbedingungen besser oder schlechter zurechtkommt, könnten die Klimazonen mit allen ihren Rahmenbedingungen eine bislang unbekannte Konstante in der Verteilung Jungen-Mädchen sein.
Aber nicht nur Klimazonen könnten das Geschlechterverhältnis beeinflussen, sondern auch saisonale Änderungen. Angelo Cagnacci von der Poliklinik in Modena beobachtete, dass die Jahreszeiten einen statistisch belegbaren Einfluss auf das Verhältnis der Geburtenraten haben. Wie er 2005 im Fachjournal Human Reproduction schrieb, werden Jungen am häufigsten im Herbst gezeugt. „Die Chancen für die Geburt eines Mädchens dagegen sind bei einer Empfängnis in den Monaten März bis Mai am besten.“ Damit hat der italienische Gynäkologe eine Formel gefunden, ohne aber eine Erklärung für die jahreszeitlichen Schwankungen zu liefern. In gewisser Weise widerspricht ihm der Reproduktionsbiologe Alexander Lerchl von der Jacobs-Universität Bremen, der vermutet, dass sich Spermien mit Y-Chromosomen, also männliche (siehe „Der Sprint zur Eizelle“), möglicherweise erst bei Wärme so richtig entwickeln können.
Unabhängig von der Temperatur scheinen männliche Embryonen zum Zeitpunkt der Einnistung in die Gebärmutter im Vorteil zu sein. Grund sei, sagt Cagnacci, dass sich ihre Zellen schneller teilten und eine höhere Stoffwechselrate hätten als die weiblicher Embryonen. Allerdings gingen schnelle Zellteilungen oft mit einer höheren Fehlerquote einher - die relativiere wieder den Startvorteil der Jungs.
Schwache Frauen gebären vorwiegend Mädchen
Das Ungleichgewicht der Geschlechter wird seit längerem beobachtet: Vor allem in den Industrienationen geht die Anzahl männlicher Neugeborener stetig zurück. Dabei stehen die Chancen, ob ein Mädchen oder ein Junge zur Welt kommt, in biologischer Hinsicht 1:1. Dieses Verhältnis vernachlässigt aber die sensiblen Jungen, die im Gegensatz zu Mädchen eher auf Stress und Umweltgifte reagieren. Auch das Untergewicht der Mutter spielt eine Rolle. Ihr Fettanteil habe offenbar sogar entscheidenden Einfluss auf das Geschlecht des Babys, sagt Cagnacci.
Für seine Studie hatte der Italiener knapp 10 000 Geburten ausgewertet. Demnach brachten Frauen mit einem Gewicht von weniger als 54 Kilogramm deutlich weniger Jungen zur Welt als im statistischen Mittel zu erwarten wäre: Bei Cagnaccis Studie standen im Verhältnis 98 Jungen 100 Mädchen gegenüber. Bei den Frauen, die vor der Geburt mehr als 54 Kilogramm auf die Waage brachten, waren die männlichen Nachkommen mit einem Verhältnis von 110:100 hingegen deutlich in der Überzahl: „Sehr dünne Frauen neigen dazu, mehr weiblichen Nachwuchs hervorzubringen“, so lautet Cagnaccis Fazit.
Diesen Trend hatte auch die Anthropologin Ruth Mace vom University College London ausgemacht. 2003 schrieb sie in den Proceedings of the Royal Society, dass in Äthiopien in kargen Zeiten weniger Söhne geboren würden. Käme ein Junge zur Welt, ginge dies mit einer robusten Physis der Mutter einher. Schwächere Frauen bekämen hingegen vorwiegend Töchter. Das Zünglein an der Waage könnte aber nicht nur das körperliche Wohlbefinden der Mutter sein, sondern ihr Wissen um die eigene Situation.
Wer glaubt, lange zu leben, bekommt einen „kostspieligen“ Sohn
Sarah Johns von der University of Kent kam ein Jahr später im gleichen Periodikum zu einem ähnlichen Ergebnis wie Ruth Mace und konnte zeigen, dass neben der Konstitution auch die Lebensumstände der Frauen einen Einfluss auf die Geschlechterverteilung haben können. Für ihre Studie konzentrierte sich Johns nicht auf Entwicklungsländer, sondern schaute sich sozusagen vor der Haustür um, im beschaulichen Gloucestershire im Südwesten Englands. Im Gegensatz zu ihrer Kollegin Mace brachte Johns aber nur indirekt, per Fragebogen, den gesundheitlichen Zustand der Mütter in Erfahrung. Die rund 1700 angeschriebenen Frauen sollten unter anderem beantworten, wie lange sie noch zu leben glaubten. Grundlage dieser Studie war die Hypothese, dass Menschen aus ihren Lebensbedingungen, eventuellen Krankheiten in der Familie, dem Sterbealter von Eltern und Großeltern und - als wichtigstes Kriterium - ihrem aktuellen Gesundheitszustand unbewusst hochrechnen, wie es um ihre Lebenserwartung bestellt ist. Das Ergebnis fällt schlechter aus, wenn Familienmitglieder zum Beispiel schwer an Krebs erkrankt oder daran gestorben sind.
Dieser Korrelation bediente sich Sarah Johns, um folgende Gleichung aufzustellen: Je pessimistischer die Angaben der Befragten, desto geringer ihre Lebenserwartung. „Diese Selbsteinschätzung sagt relativ genau das tatsächliche Todesalter voraus, wie wir aus anderen Arbeiten wissen“, sagt die Anthropologin. Durch ihre Auswertung hinsichtlich der Geschlechterverteilung bei den Erstgeborenen entdeckte sie einen entscheidenden Zusammenhang: Teilnehmerinnen, die ihre Lebenserwartung überwiegend positiv eingeschätzt hatten, brachten bei der ersten Geburt eher Jungs zur Welt. „Wenn Frauen glauben, nicht so lange zu leben, werden sie eher keine biologisch ,kostspieligen' Söhne gebären, um so nicht den Fortbestand ihrer Verwandtschaftslinie zu gefährden“, interpretiert Johns. Nur, was meint sie mit kostspielig?
Hier kommt das Trivers-Willard-Prinzip ins Spiel. Damit versuchen Forscher, die Frage zu beantworten, warum es bei Säugetieren unter bestimmten Situationen im soziobiologischen Sinne vorteilhaft ist, dass die Zahl der weiblichen und männlichen Nachkommen von der 1:1-Verteilung abweicht. Denn den Frauen sind durch die langen Schwangerschaften natürliche Grenzen gesetzt, was die Zahl des Nachwuchses betrifft. Männer hingegen können sehr viel mehr Kinder in die Welt setzen. 1973 wurde die Theorie von Robert Trivers und Dan Willard im Fachmagazin Science vorgestellt. Kern ihrer These ist, dass statushöhere Eltern eher in männlichen Nachwuchs investieren, statusniedrigere dagegen vornehmlich in weiblichen.
Der Hormonspiegel während der Befruchtung spielt eine wichtige Rolle
Als Erklärung führen die beiden Evolutionsbiologen die genetische Fitnessmaximierung an: Hinsichtlich der Partnerwahl haben wohlhabende Männer bessere Chancen bei Frauen als weniger wohlhabende Geschlechtsgenossen. Frauen bevorzugen sozial höhergestellte Väter für ihre Kinder, da sie somit das Überleben des Nachwuchses eher sichern können. Würde nun eine schlecht situierte Mutter in Söhne investieren, wäre es wahrscheinlich, dass diese später bei der Partnerwahl keine guten Karten hätten. Anders Töchter, deren Chancen statusunabhängig sind - einzig die Gesundheit ist entscheidend.
Ursprünglich hatten Trivers und Willard ihre Theorie für Huftiere entwickelt. Frühere Studien hatten gezeigt, dass bei den Vierbeinern nach extremem Nahrungsmangel deutlich weniger männliche Nachkommen geboren werden - und wenn, dann meist von kräftigen Müttern. Schwächere Tiere zeugen mehr weiblichen Nachwuchs, und die beiden Forscher stellten fest, dass man diese Beobachtungen auf den Menschen übertragen konnte.
Ob dieses Prinzip tatsächlich allgemein gilt, wollte Elissa Cameron von der Universität in Pretoria herausfinden und durchforstete die Fachpublikationen zu Säugetieren. Mit einem ernüchternden Ergebnis: „Von 422 Arbeiten bestätigen nur 34 Prozent das Trivers-Willard-Prinzip, bei den meisten gab es keine signifikanten Resultate.“ Cameron erklärt die Ungleichverteilung der Geschlechter auf andere Weise. In den Proceedings of the Royal Society stellte sie vor rund zwei Jahren ihre These vor, dass Hormonspiegel während der Befruchtung eine wichtige Rolle spielen könnten. „Studien haben auch gezeigt, dass Glukose männliche Föten beim Wachstum unterstützt und weibliche stört.“ Wäre dies der Fall, könnte der weibliche Körper in der Zeit um die Einnistung tatsächlich eingreifen und somit das Geschlechterverhältnis beeinflussen.
Nach dem Zusammenbruch der DDR gab es nie wieder so wenige Jungs
Dass die Rolle der Frauen bei der Geschlechtsbestimmung nicht unterschätzt werden sollte, vermutet auch Valerie Grant von der Universität in Auckland. Untersuchungen an Schweinen hätten gezeigt, dass eine paarungsbereite Sau bereits eine Präferenz für X- oder eben Y-chromosomales Sperma besitzt. Also würde auch der Zyklus - auf noch unbekannte Weise - über den Erfolg von männlich oder weiblich geprägten Spermien bei der Befruchtung entscheiden.
Aber nicht nur Hunger, der Hormonspiegel und der Zyklus beeinflussen das Geschlechterverhältnis. Beim Menschen kann psychischer Stress die Zahl der Y-chromosomalen Samenzellen reduzieren und damit zu einem Rückgang männlicher Embryonen führen. Eine solche Tendenz registrierten Demographen nach dem Zusammenbruch der DDR. In den neuen Bundesländern geriet das Geschlechterverhältnis im Jahr 1991 aus der Balance. Der Anteil der neugeborenen Jungen lag nie wieder so niedrig wie in diesem Jahrgang. Aber nicht nur politische Ereignisse lassen die Chancen des männlichen Nachwuchses sinken: Erdbeben und andere Naturkatastrophen hätten wohl denselben Effekt, berichteten Ralph Catalano und Tim Bruckner von der Universität in Berkeley im Jahr 2006 in den Proceedings of the National Academy of Sciences. Sie vermuten, dass die Körper schwangerer Frauen in Stressphasen eher männliche als weibliche Föten abstoßen.
Dazu gibt es unterschiedliche Hypothesen. Nach der einen greift der mütterliche Körper aktiv in die natürliche Auslese ein, was zum Abort schwacher männlicher Föten führt. Dadurch steigt die Chance auf eine erneute Schwangerschaft in Krisenzeiten, bei der weibliche oder stärkere männliche Föten eine bessere Überlebenschance haben. Die zweite Hypothese wiederum geht davon aus, dass es einen solchen Eingriff nicht gibt: Der physische Stress durch die psychische Belastung sei so hoch, dass es „automatisch“ zu Abstoßungen schwacher männlicher Föten kommt.
Nach Chemieunfall in Italien kamen doppelt so viele Mädchen zur Welt
Um zu überprüfen, welche der beiden Theorien eher zutrifft, analysierten Catalano und Bruckner die Lebensdaten der zwischen 1751 und 1912 geborenen Schweden. Dabei sahen sie, dass in einigen Jahren zwar weniger männliche Nachkommen geboren wurden, diese jedoch länger als im statistischen Mittel lebten - das würde also für die erste These sprechen. Neugeborene Jungen in Krisenzeiten sind robust und haben demzufolge eine höhere Lebenserwartung. Punktsieg für die natürliche Selektion, resümieren Catalano und Bruckner. Dieses evolutionäre Programm sei eine einfache Kosten-Nutzen-Abwägung, es erhöhe die Chance der Frauen, ihre Gene weiterzugeben.
Vor allem, wenn es plötzliche Veränderungen gebe. So konnte Devra Davis von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh nachweisen, dass sich 1976 der Chemieunfall von Seveso bei Mailand stark auf das Geburtenverhältnis ausgewirkt hatte. In der Fabrik Icmesa wurde damals das hochgiftige Dioxin TCDD freigesetzt. Wie Devra Davis 2007 im Journal Environmental Health Perspectives schrieb, wurden in einem Zeitraum von sieben Jahren nach dem Unglück in der am stärksten belasteten Region fast doppelt so viele Mädchen wie Jungen geboren. Erst danach habe sich das Verhältnis wieder den üblichen Werten angeglichen. Sie folgert, dass einige Chemikalien vor allem männliche Spermien beeinträchtigen und die Entwicklung des Fötus stören können.
Bei seiner Suche nach einem universellen Mechanismus zur Geschlechterdetermination hatte auch der Biologe Sven Krackow von der Berliner Humboldt-Universität keinen Erfolg. Die Effekte seien in der Regel so klein, dass man sie nicht verallgemeinern könne. Gäbe es eine sichere Methode, das Geschlecht bei der Zeugung festzulegen, wäre das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Nachkommen in einigen Ländern vermutlich noch unausgeglichener, als es durch den Einfluss von Chemieunfällen, tropischen Temperaturen oder Hungerperioden ohnehin schon ist.
Der Sprint zur Eizelle
Die Eizelle hat immer ein X-Chromosom, die Spermien hingegen haben entweder ein X- oder ein Y-Chromosom. Das Geschlecht des Fötus wird bei der Befruchtung der Eizelle bestimmt: XX bedeutet Mädchen, XY Junge. Eine Theorie besagt, dass der Zeitpunkt des Eisprungs und der Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrs darüber bestimmen können, ob es zu XX oder XY kommt. Y-Spermien sollen schneller schwimmen als Spermien mit einem X. Dafür sollen Y-Spermien kurzlebiger sein. Die darauf aufbauende, einfache These lautet: Geschlechtsverkehr vor dem Eisprung erhöht die Chance auf ein Mädchen, da viele oder alle männliche Spermien dann beim Eisprung bereits abgestorben sind. Sex während oder kurz nach dem Eisprung hingegen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es ein Junge wird. Gäbe es allerdings tatsächlich eine sichere Methode zur Geschlechtswahl, hätte sie vermutlich längst Schule gemacht.
Bildmaterial: dpa
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