Mittwoch, 23. Dezember 2009

Was heißt eigentlich "doing gender"?

Was heißt eigentlich "doing gender"?

Zu Interaktion und Geschlecht
Helga Kotthoff

Erschienen 2002 in: Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 55, hrsg. von J. van
Leeuwen-Turnovcová et al.

1. Einleitung
2. Doing gender
3. Undoing gender
4. Fünf Ebenen der Relevantsetzung von gender
4.1. Normalerweise im Hintergrund bleibend: "Doing gender" in Stimme und Prosodie
4.2. Differente Gesprächsstile
4.3. Doing gender als Element der Etikette und der Stilisierung des Körpers
4.4. Lokale Geschlechtsneutralität
4.5. Medienrezipienz als omnipräsente gender-Folie
5. Gender im Kontext

1. Einleitung
In diesem Aufsatz beschäftige ich mich mit einem Ansatz in der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung, der seit den siebziger Jahren eine Rolle spielt, dem aktionsorientierten Ansatz des "doing gender." Das ethnomethodologische Konzept des "doing gender" war und ist auch für die interaktionsanalytische Forschung zu Geschlechterverhältnissen in der Kommunikation folgenreich. Mit der Fokussierung von "doing" setzt es kulturelle Inszenierungspraktiken zentral, nicht biologische Gegebenheiten. Wie körperliche Materialität in diese Inszenierungspraktiken eingeht, ist im

1 Ich danke den Teilnehmer/inne/n der Tagung zu Gender und Sprache in Osteuropa an der Universität Jena, April 2001 für Diskussionsbeiträge zu diesem Vortrag.

ethnomethodologischen Ansatz nicht geklärt. Wer sich mit "doing gender" beschäftigt, will beschreiben, wie sich Menschen performativ als männlich oder weiblich zu erkennen geben und mittels welcher Verfahren das so gestaltete kulturelle Geschlecht im Alltag relevant gesetzt wird.

Mit der Betrachtung von "gender" als kommunikativer Performanz waren interaktionssoziologische und –linguistische Ansätze von Beginn an sehr weit entfernt von einer Essentialisierung von Geschlecht, wie sie z.B. in der französischen feministischen Theorie von Autorinnen wie Luce Irigaray (1980) betrieben wurde.

Bis heute ist allerdings nicht ganz klar, welche Dimensionen des kommunikativen Handelns als "doing" gefasst werden sollen.

So wird beispielsweise unzureichend unterschieden zwischen Aktivitäten im Fokus der Aufmerksamkeit und Habitualisierungen, die nurmehr im Hintergrund des Handelns der Menschen mitlaufen. Letztgenannte spielen als Stilphänomene und zusätzliche Symbolisierungen von sozialen Bezügen in der Kommunikation eine herausragende Rolle.

Kommunikative Stile und Symbolisierungen von männlich/weiblich sind Gestaltphänomene; d.h., dass kein Phänomen allein einen Stil ausmacht, der etwa als von Männern oder Frauen präferiert beschreibbar wäre. Selbst im Bereich der Kleidungssemiotik müssen wir von Merkmalbündeln ausgehen, obwohl hier Rock, Stöckelschuh, Spitzenunterwäsche oder Seidenstrümpfe konventionell am eindeutigsten der Stilisierung von Weiblichkeit dienen und entsprechend auch als Zitationsverfahren genutzt werden.

Bevor ich meine Vorschläge einer Binnendifferenzierung im Konzept des "doing gender" und dem davon abgeleiteten des "undoing gender" ausbreite, gehe ich kurz auf die "doing"-Forschung ein. Ich schlage später ein Modell unterschiedlicher Ebenen der Relevantsetzung von gender vor, das in dem Bereich Differenzierungen vornimmt.

2. Doing gender.
Das Konzept des "doing gender" fußt auf Harold Garfinkels "Agnes-Studie" (1967) und lehnt sich auch an Arbeiten von Erving Goffman (1977, 1979) an.

Beide Autoren zeigten kulturgebundene Methoden der Geschlechterstilisierung.

Garfinkel verfolgte, wie sich die Transsexuelle Agnes nach ihrer Operation zur Frau auf allen Ebenen des Verhaltens in das kulturelle Frau-Sein im Kalifornien der sechziger Jahre einübte, darunter auch solche des Gesprächsverhaltens. So mußte Agnes z.B. lernen, sich in argumentativen Gesprächen nicht durchzusetzen, sondern einzulenken. Sie mußte und wollte es lernen, sich von Männern bestimmte Höflichkeiten angedeihen zu lassen und andere selbst zu praktizieren. Ihr Freund lehrte sie, nicht zu insistieren und nicht so oft ihre Meinung zu sagen, weil das unweiblich sei.

Garfinkel zeigte Verhaltensweisen, die damals noch gemeinhin als Natur galten, als in kultureller Praxis wechselseitig erzeugtes "accomplishment". Am Ausgangspunkt der Ethnomethodologie Garfinkels lag die traditionelle soziologische Frage nach der Entstehung, Reproduktion und Veränderung sozialer Ordnung.2

Ähnlich verfolgte auch Goffman die Dramatisierung einer sexuierten Sozialordnung (gender display) und erläuterte das "Arrangement der Geschlechter" als eine Angelegenheit institutioneller Reflexivität (1977).

D.h., dass das kulturelle und soziale Geschlecht so institutionalisiert wird, dass es genau die Merkmale des Männlichen und Weiblichen entwickelt, welche angeblich die differente Institutionalisierung begründen.

Goffman hat die differente Inszenierung von Weiblichkeit und Männlichkeit in verschiedenen Ausdrucksgestalten beschrieben, von der Selbstpräsentation des Körpers (der weibliche Körper zeigt sich in wertvolle, feine Stoffe und Spitzen gekleidet selbst als wertvoll und fein, der des Mannes präsentiert sich als robuster und nüchterner) bis zu parallelen Anordnungen (Herren- und Damentoiletten, Herren- und Damendüfte, Herren- und Damentaschen, Herren-und Damenbekleidung etc.), in denen die Relevanz von gender gesellschaftlich so inszeniert wird, dass es als natürliche Unterscheidung hingenommen werden kann, die unhinterfragt gilt.3 Gender arrangements umgeben uns einfach.

Ich möchte betonen, dass vor allem Goffman im Arrangement der Geschlechter immer mehr gesehen hat als die einfache Herstellung von Asymmetrie. So drehen sich Ritualsierungen des Weiblichen oft um Feinheit, Pflege und Ornamentierung. Es ist also auch auf Seiten der Frauen mit Distinktionsgewinnen (im Sinne Bourdieus 1979) zu rechnen (was grosse Teile der gender studies bis heute ausblenden).

Unser symbolisches Leben ist nachhaltig vom Unterschied zwischen Frauen und Männern gezeichnet. Namen, Anredeformen, Sprechstile, Stimmen, Haartracht, Körperpflege, Körperpräsentationen symbolisieren ihre Geschlechtsidentitäten. Keine Darstellung allein reicht ob ihrer Mehrdeutigkeit jedoch aus, um soziale Beziehungen zu charakterisieren.

2 Siehe auch Hagemann-White 1993 zur Einführung in aktionsorientiert-konstruktivistische Ansätze.
3 Dass die von Goffman dargestellte Binarität und Asymmetrie der Geschlechter-Ordnung viel tiefer in der kulturellen Achse von männlicher Norm und weiblicher Abweichung


Goffman betont die lockere Verbindung zwischen den Sozialstrukturen und dem symbolischen Ausdrucksverhalten.

Niemand muß zur Darstellung seiner Identität die volle Palette der Möglichkeiten ausschöpfen. Außerdem sind die Darstellungen einem Wandel unterworfen. Sie bedürfen alle eines historischen Verständnisses.

Hosen indizieren heute keine Männlichkeit mehr, Röcke, Spitzenunterwäsche, Seidenstrümpfe, spitze Absätze und viele Formen der Ornamentierung des Körpers aber nach wie vor Weiblichkeit.

Ein Teil der interaktionsanalytischen gender-Forschung hat sich von Anfang an in der Ethnomethodologie und der dieser sehr nahestehenden Goffmanschen Kommunikationssoziologie verortet (West/Zimmerman 1983, 1989, Kotthoff 1992, Günthner/Kotthoff 1991, Crawford 1995, Malone1997). Trotz der vielversprechenden Anfänge der Betrachtung von Geschlecht in der Interaktionsforschung (als Teil der qualitativ orientierten Sozialwissenschaften) ist die Theoretisierung von Inszenierungsverfahren der Männlichkeit und Weiblichkeit bis heute unzureichend gefaßt.

So werden in der konversationsanalytischen Ethnomethodologie zwei Positionen im Bezug auf "doing gender" vertreten, die ich beide hier als unbefriedigend ausweisen möchte:

1.) Einige Ethnomethodologen (so z.B. E. Schegloff 1997) plädieren dafür, nur von "doing gender" zu sprechen, wenn explizit-thematisch auf die kulturelle Rolle der Geschlechter eingegangen wird, beispielsweise die Geschlechteretikette im Gespräch ausdrücklich angesprochen wird (als Regel "Ladies first", z.B.).4 Nur dann werde "gender" von den Beteiligten selbst als Identitätskategorie relevant gesetzt, denn wir alle haben viele solche Identitäten, die in den Vordergrund der Interaktion geholt werden können. Solche expliziten Referenzen auf Geschlechternormen spielen aber im Alltag nur eine untergeordnete Rolle im Vergleich zu Stilisierungen, die quasi immer mitlaufen und von den Mitgliedern einer Gesellschaft als Normalität angenommen worden sind (wenngleich kulturell hergestellt sind).

2.) Andere Ethnomethodolog/inn/en, z.B. West und Zimmerman (1989: 126) sehen gender als "fortlaufendes accomplishment", das in alle Alltagssituationen eingeschrieben ist:

(symbolisiert in Ordnung/Unordnung, rechts/links, gerade/krumm etc.) repräsentiert ist, zeigt van Leeuwen-Turnovcová 1990 und in diesem Band.
4 Siehe dazu die Debatte in Discourse&Society 7 (1997) und 8 (1998), in der u.a. Margaret Wetherell und Michael Billig (in Discourse&Society 10, 1999) Schegloff kritisiert haben. Diese Kritik deckt sich nur zu einem geringen Teil mit meiner hier entwickelten. Deshalb gehe ich darauf nicht weiter ein.


When we view gender as an accomplishment, an achieved property of situated conduct, our attention shifts from matters internal to the individual and focuses on interactional and, ultimately, institutional arenas. In one sense, of course, it is individuals who "do" gender. But it is a situated doing, carried out in the virtual or real presence of others, who are presumed to be oriented to ist production. Rather than as a property of individuals, we conceive of gender as an emergent feature of the social situations: both as an outcome of and a rationale for various social arrangements and as a means of legitimating one of the most fundamental divisions of society.
Gender wurde in der Soziologie vorher oft als Rolle behandelt. Im Unterschied zur Rolle als
situativer Identität sei gender aber eine "master identity," die sich durch alle Situationen
ziehe. Der Fokus liegt hier wie immer bei den Ethnomethodolog/inn/en auf Verfahren des
Anzeigens und Bermerkbar-Machens. West und Zimmerman zitieren Cahill (1986), der in
Kindergartenstudien herausgearbeitet hatte, über welche Aktivitäten und Zuschreibungen
Kinder gender aktiv annehmen. So lernen kleine Jungen von etwa 3 Jahren, es als jungenhaft
zu betrachten, dass sie die Umwelt manipulieren können und dass das Äussere nicht so
wichtig ist. Mädchen lernen z.B., dass die Ornamentierung des Körpers mädchenhaft ist. Der
Umgang mit dem eigenen Äusseren und die Art des Einwirkens auf andere sind erste gender-Performanzen.5
Den Performanz-Ansatz (im Sinne der soziologischen Dramaturgie des Alltags)6, der seit Goffmans Studien in den Sozialwissenschaften virulent ist, gilt es im Bereich der gender studies zu stärken, um die verschiedenen kommunikativen Ebenen der

5 Zu geschlechtsbezogener Sozialisation siehe Bilden 1991.
6 Goffman muss als der Vater der Theorie gesehen werden, nach der wir uns alle in einem ständigen Strom wechselseitiger Inszenierungen befinden (dazu Hitzler 1998 und Willems/Kautt 2000). In der linguistischen Anthropologie spielt die Analyse von Performanz des kommunikativen Handelns seit den siebziger Jahren eine Rolle (Bauman 1978, 1986). Man geht hier von der Theatralität des Alltagshandelns aus, das viele Dimensionen erfasst, die über den verbalen Kanal der Rede hinausgehen in Bereiche von Gestik, Mimik, Prosodie, Körpergestaltung. Später hat Judith Butler den Gedanken der performativen Konstruktion von Geschlecht in die Diskussion gebracht. Sie setzt aber seltsamerweise bei dem Performanz-Begriff von John Austin an, dem es überhaupt nicht um diese Theatralität des Alltags ging, sondern darum zu zeigen, dass Sprechen sich in illokutiven Akten vollzieht wie sich entschuldigen, jemanden bitten usw. In ihrer philosophisch-impressionistischen Betrachtung kommt auch sie trotz ihres Ausgehens von inadäquaten Ansätzen dazu, die Theatralität von gender zu konstatieren. Die Rolle des Körpers schätzt Butler als völlig nebensächlich ein. Bei ihr ist Geschlecht nur diskursiv konstruiert. Goffman (1979) zeigt hingegen, wie körperliche Unterschiede in die kulturelle Differenzarbeit einbezogen werden. Durch die Anbindung an reale körperliche Differenz erklärt sich überhaupt nur die Stabilität des Arrangements der Geschlechter.


Geschlechterstilisierung besser erfassen zu können, von Kleidung über Körpersprache (Mühlen-Achs 1993) bis zum Gesprächsstil.

Innerhalb eines solchen Ansatzes können die bisher im Kommunikationsbereich uneinheitlichen Ergebnisse verschiedener Studien zum Verhalten von Frauen und Männern am besten verstanden werden: Gender-Neutralisierung auf der einen Ebene kann durch Differenzarbeit auf der anderen wettgemacht werden. Es ist innerhalb der Performanz von kultureller Geschlechtlichkeit mit Umschichtungen zu rechnen. Relevanzrückstufungen auf der Ebene von Gesprächsstilen können z.B. auf der Kleidungsund Kosmetikebene durch Relevanzhochstufung ausgeglichen werden. West und Zimmerman distanzieren sich von Goffman, weil dieser "gender display" als optional angesehen hatte. Ich ziehe den Ausdruck "graduell" vor, da Goffman (1977, 1979) zwischen "sex class" und "gender" unterscheidet. Goffman hat betont, der Mann müsse seine Höflichkeiten im Bezug auf die Frau nicht ausüben, er müsse die Spinne nicht entfernen, den Stuhl nicht hinrücken, das verrostete Glas nicht aufschrauben. Wenn er es tut, handelt er im Rahmen einer normativen Geschlechtererwartung, bestätigt diese somit. Gender beinhaltet bei Goffman die Dramatisierung einer kulturellen Idealisierung der maskulinen und der femininen Natur. Goffman lässt keinen Zweifel daran, dass diese Natur Kultur ist, nur eben eine Kultur, die als Natur gesehen werden will. Darin sind sich West und Zimmerman mit ihm einig.

Uneinigkeit besteht darin, dass West und Zimmerman "doing gender" als permanente Inszenierung für unausweichlich halten, während sich nach Goffman das genderSystem auch mal auf seine Institutionalisiertheit verlassen kann. Die Menschen können sich in vielen Formen als männlich oder weiblich theatralisieren. Sie müssen aber dieses unendliche semiotische Repertoire keinesfalls ausschöpfen und sie müssen es vor allem nicht fortlaufend.
West und Zimmermann gehen von weniger Flexibilität des Systems aus als Goffman und sie gehen weiterhin davon aus, dass immer eine Macht-Asymmetrie das zentrale DifferenzMerkmal konstituiert.. Sie zitieren z.B. die Studie von Pamela Fishman (1983), die bei einigen Paaren herausgefunden hatte, dass die Frauen mehr Fragen stellten und ihre Ehemänner thematisch mehr unterstützten als umgekehrt. Das sei "doing gender." In ihrem Artikel (West/Zimmerman 1989) bleiben ihre Annahmen über das Ausmass an Verpflichtung, das auf Menschen lastet, sich in dieser Weise als normale Frauen und Männer zu inszenieren, unklar. Einerseits legen sie Interaktionsformen von Macht und Unterordnung zwischen den Geschlechtern als unausweichlich nahe, andrerseits identifizieren sie auf S. 145 "doing gender" nur als die Notwendigkeit, der Umwelt eine geschlechtliche Kategorisierung der eigenen Person zu ermöglichen. Dies wäre allerdings Goffmans Position, die sie ja kritisieren wollen. Eine gewisse Inkonsistenz wird sichtbar.

In der frühen Interaktionslinguistik wurde davon ausgegangen, Geschlecht sei permanent die relevanteste Identitätskategorie des Menschen und würde permanent auch konversationell inszeniert. Linguistinnen wie Trömel-Plötz (1982, 1984) operierten mit Begriffen wie "Frauensprache" und "genderlect." Als Kennzeichen dieser genderlecte wurden die Verwendung vieler Höflichkeitsformen angegeben, Vagheitsmarkierungen vom Typ "irgendwie" und "oder so", Sich-Unterbrechen-Lassen, fragende Intonationsmuster.7 Es wurde mit Dichotomien von "kooperativ" und "konfrontativ" oder von "ich-bezogen" und "wirbezogen" gearbeitet. Ich selbst habe mit der Unterscheidung von "privatem" und "öffentlichem" Gesprächsstil gearbeitet (Kotthoff 1997) und meine auch heute noch, dass man die auffindbaren gesprächsstilistische Unterschiede zwischen Frauen und Männern am besten auf dieser Achse unterschiedlicher Rahmung von sozialen Ereignissen ansiedeln kann. Nur muß unbedingt gesehen werden, dass stilistische Präferenzen nicht in jedem Kontext ausagiert werden. Niemand spricht kontinuierlich einen "genderlect," dessen Merkmale als fester Verbund gemeinsam auftreten (Günthner 1992, 2001). Die meisten Menschen verfügen über eine Vielfalt an Gesprächsstilen, die sie sitationell unterschiedlich einsetzen.

Sowohl "doing gender" als auch "undoing gender" sind keine Alltagskategorien der Gesellschaftsmitglieder, sondern wissenschaftliche Konstruktionen "zweiter Ordnung" im Sinne von Schütz (siehe dazu Berger/Luckmann 1966/1977).

3. Undoing gender
Gegen diese Omnirelevanzannahme von gender, die von weiten Teilen der gender studies zunächst geteilt wurde, stellte Hirschauer 1994 seine Idee des "undoing gender," einer vorübergehenden situativen Neutralisierung der Geschlechterdifferenz. Er rekurriert dabei vor allem auf Goffman, der unterschiedliche Inszenierungsgrade von gender seinerzeit schon im

7 Siehe Günthner/Kotthoff 1991, Günthner/Kotthoff 1992, Crawford 1995, Günthner 2001, die Arbeiten in Kotthoff/Wodak 1997, Wodak 1997 und in Baron/Kotthoff 2001 zur Auseinandersetzung mit den frühen Ansätzen in der linguistischen und kommunikationswissenschaftlichen Geschlechterforschung.

Blick hatte. Hirschauer (1994: 676) verweist auch auf die relative Signifikanz der Geschlechterunterscheidung im Vergleich zu anderen Klassifikationen wie Alter, Ethnizität und Schicht. Dass bei allen Identitätsklassifikationen mit Kreuzungen und Kopplungen gerechnet werden muss, kann die Interaktionsforschung nur bestätigen. Als simples Beispiel kann die Verwendung der Standard-Sprache in Dialektregionen dienen. Die Achse von überregionalem Standard (im deutschen Sprachraum Hochdeutsch) und regionaler Varietät wird häufig von Menschen genutzt, um auch geschlechtliche Differenz zu symbolisieren (Kotthoff 1992).

So neigen Frauen in vielen Gegenden der Welt eher zur Standardsprache als Männer, die häufiger dialektale Varietäten sprechen. Die Oberschicht neigt gleichfalls zum Standard. Die gender- Symbolisierung ist nicht voraussetzungslos.

Mit der Standardsprache wird Feinheit und Gebildetheit assoziiert. Er eignet sich somit, einen Sinn für's Gepflegte zu suggerieren, der mit Weiblichkeit assoziiert wird, aber auch mit hohem Status. Er ist auch die Sprechweise über soziale Grenzen hinweg, da er hohe Verständlichkeit garantiert. Die präferierte Varietät hat außerdem immer mit Praxisfeldern der Individuen zu tun. Frauen sind z.B. oft in Berufen tätig, in denen mit Menschen aus verschiedenen Schichten kommuniziert wird, z.B. als Verkäuferin, Krankenschwester, Psychologin, Sekretärin, Lehrerin, Haushälterin. In diesen Berufen wird mehr schichtenübergreifend kommuniziert als beispielsweise im Handwerk oder auf der Baustelle.

Der Dialekt symbolisiert hingegen eher "in-group" (in vielen Männertätigkeiten funktional) und niedrigeres Bildungsniveau und Grobheit (im Unterschied zu Feinheit). Ohne hier weiter ins Detail zu gehen sei gesagt, dass Varietäten gleichermassen Symbolisierungsleistungen für Schicht und Geschlecht erbringen (oft auch für Alter), ein Beispiel also für Kopplung (Kotthoff 1992). Die zweite Schwäche der Omnirelevanzannahme ist die mangelnde Unterscheidung von Vordergrund und Hintergrund der Kommunikation von gender.

Hirschauer (1994) will von Diskontinuität der Geschlechterkonstruktion ausgehen; sie bestehe aus Episoden (1994: 677). Darunter müssen wir und wohl fokussierte Handlungen vorstellen. "Undoing gender" sieht er als praktiziertes 'Absehen' von der Geschlechterdifferenz und das sei auch eine konstruktive Leistung (S. 678). Hirschauer (2001) dehnt das Konzept des "undoing gender" auf unterschiedliche Arten der Neutralisierungsarbeit aus.

Heintz/Nadai (1998) beziehen "undoing gender" auf größere Aktivitätenkomplexe, wie z.B. bestimmte Berufstätigkeiten, die sowohl in ihrem Image als auch in ihrer Binnendifferenzierung vom Faktor Geschlecht entlastet sein können. Dies ist ihrer Studie zufolge z.B. im Berufsfeld der Sachberarbeitung in der Schweiz passiert. Der Beruf steht Männern und Frauen gleichermassen offen, wird gleichermassen ausgeübt.

Ich stimme völlig dem Befund zu, dass es Kontexte gibt, in denen Geschlecht wenig Rolle spielt, in den Hintergrund des Handelns tritt. Ich stimme auch zu, dass dieses Absehen Neutralisierungsarbeit verlangen kann, die als "undoing gender" gefasst werden kann. Im flüchtigen Alltagshandeln ergibt sich die Neutralisierung von Geschlecht allerdings auch anders, unbemerkt, hintergründig, wenig "accountable". Außerdem kann Neutralisierungsarbeit auf einer Ebene des Handels durch Differenzarbeit auf einer anderen Ebene ausgeglichen werden. So übernehmen heute die Massenmedien die permanente Erinnerung der Welt an die von ihnen inszenierten Idealbilder von Mann und Frau, die Omnipräsenz des erotisierten Blicks auf die Frau. Massenmediale Einflüsse liegen jenseits des personalen Handelns der meisten Menschen. Ihre Ausblendung in den "doing-" und "undoing-" Ansätzen zeigt uns, dass hier gender doch sehr stark als individuelles Handeln gesehen wird (trotz gegenteiliger Behauptungen) und nicht als gesellschaftliches Verhältnis, das weit über unser individuelles Gestaltungsvermögen hinausreicht. Ich nehme für die soziale Konstruktion von gender eine Relevanzstruktur an, die quer liegt zu den Polen des 'doing' und 'undoing'.

Ich schlage vor, für diese Relevanzstruktur von gender fünf Ebenen zu unterscheiden, die auf unterschiedlichen Achsen angesiedelt werden können; auf einer Achse liegen im Hintergrund mitlaufende bis zu in den Vordergrund der Interaktion gebrachte Kategorisierungen. Thematisierung wäre z.B. ein Verfahren der Zentrierung von gender im Vordergrund der Interaktion. Im Unterschied zu Schegloff (1997) plädiere ich dafür, die Relevanz von gender nicht auf das Thematisieren zu verkürzen, sondern Inszenierungsverfahren mitzuberücksichtigen, die im Sinne von Bourdieu (1979, 1990) habitualisiert worden sind, verkörperlicht und einfach als soziale Praxis mitlaufend, ohne ins Zentrum des Bewußtseins zu rücken. Auf einer anderen Achse spielt die Unterscheidung von Intentionalität und Nichtintentionalität spielt eine Rolle. Eine dritte Achse bezieht sich auf die Art der Involvierung des Individuums. Wir sind in gesellschaftliche Praktiken eingebettet, die gar kein "doing" von uns selbst verlangen. So nehmen z.B. Massenmedien in unserer Alltagswelt einen omnipräsenten Raum ein. Sie konstruieren unsere Bilder von Schönheit, Erfolg, Gesundheit, Wichtigkeit, Geordnetheit, Reinheit, Glück und vielem mehr. Die Werbeindustrie geht z.B. davon aus, dass der durchschnittliche Mensch im Westen täglich 2000 Reklamen auf sich wirken lässt (Martin/Schumann 1996). Sie arbeitet mit hochstereotypen Geschlechterbildern, die quasi unablässig auf uns einwirken, wenngleich wir keine monokausalen Wirkungen auf unser Leben ausmachen können. Wir haben es hier mit genderisierten Darbietungen zu tun, die die meisten von uns ausschließlich rezipieren, nicht produzieren. Wie gehen wir mit Rezipienz in einem aktionsorientierten Ansatz um? Ist das "doing" oder nicht?

4. Fünf Ebenen der Relevantsetzung von gender
4. 1. Normalerweise im Hintergrund bleibend: "Doing gender" in Stimme und Prosodie.
Beim Sprechen sind Stimme und Prosodie8 der Bereich, welcher am stärksten mit dem Körper verbunden wird. Diese gender-Differenzen bleiben normalerweise im Hintergrund der Interaktion. Frauen und Männer, ja schon Mädchen und Jungen erkennen wir sogar am Telefon. Gemeinhin geht man wohl davon aus, dass im Bereich von Stimme und Prosodie die Anatomie für Unterschiede verantwortlich ist. Es gibt auch in der Tat physiologische Ursachen für Stimmunterschiede. Frauen haben z.B. im Durchschnitt kürzere und dünnere Stimmbänder und einen kleineren vokalen Trakt und sprechen höher. Je schneller die Vibration der Stimmbänder, umso höher sind Grundfrequenz und Ton. Lange, dicke Stimmbänder produzieren also tiefere Töne. Auch Hormone wirken sich auf die Stimme aus. Daher kommt es, dass Männer im Durchschnitt tiefer sprechen. Beide Geschlechter können aber eine ganze Bandbreite an Stimmlagen9 und Tonhöhen realisieren. Sie nutzen in der Regel ihre vollen Möglichkeiten nicht aus (Graddol/Swann 1989: 20). Generell ist es so, dass im Bereich von Stimme ein körperlicher Unterschied im Einklang mit kulturellen Geschlechterimages in eine Richtung gesteigert wird. Wie jemand spricht, hat immer mit medizinisch-biologischen Gegebenheiten zu tun, kann aber auch soziale Bedeutung annehmen. Wenn wir erkältet sind, nimmt z.B. Nasalierung zu. Sie kann aber auch Vornehmheit symbolisieren und über Erkältungen hinaus als soziale Stilisierung praktiziert werden.
Knaben und Mädchen erwerben in westlichen Ländern ausserdem eine teilweise andere Prosodie. Fichtelius et al. (1980) konnten zeigen, dass Erwachsene und Kinder, wenn man ihnen in Experimenten Kinderstimmen vorspielte, zu einem hohen Prozentsatz sagen konnten,

8 Darunter verstehen wir Intonation, Lautstärke, Rhythmus, Pausensetzung.

ob ein Mädchen oder ein Junge spricht. Die Stimmhöhen wurden technisch gleichgehalten. Was sich unterscheidet, sind Rhythmus, Formantenfrequenz und die Intonation. Mädchen intonieren variationsreicher. Andere Arbeiten (Local 1982) zeigten auch, dass Mädchen und Knaben zwischen fünf und sechs Jahren sich bereits darin unterschieden, dass die Mädchen auf dem Nukleus (Hauptsilbe eines Satzes) mehr steigend und die Jungen mehr fallend intonierten. Vor allem bei Fragen und Feststellungen klingt steigende Intonation10 innerhalb des Wortes mit dem Hauptakzent freundlicher. Sprechen Sie sich einmal den Satz "ach, du bist auch da" mit steigendem und fallendem Ton auf "auch" vor. Er ändert seine Bedeutung im Bereich der affektiven Konnotation ziemlich, weg von freundlicher Überraschung hin zu nüchternem Konstatieren.

Formantenfrequenzen, Intonation und Stimme stellen also Phänomene dar, bei welchen physiologische Unterschiede durch kulturelle Konventionen stark ausgebaut werden. Wir wissen bis heute wenig darüber, wie die geschlechterbezogene Aneignung unterschiedlicher Formantenfrequenzen, Stimmregister und intonatorischer Muster bei Kindern verläuft. Im Falle der Formantenfrequenzen und der Stimmhöhe haben wir es mit einem physiologischen Unterschied zu tun, der aber durch soziale Stereotypen verschärft wird. Je nach Kultur werden bestimmte Stimmregister für Männer und Frauen als "normal" eingespielt. Auch im Bereich der Stimmregister wird also ein körperlicher Unterschied sozial überformt. Menschen beherrschen verschiedene Stimmregister und wechseln diese situativ (z.B. wird mit Kindern in höheren Stimmlagen gesprochen).

Die Form der Tonhöhenbewegung, also der Intonation, ist gänzlich kulturell bedingt. In Sachs' Studie konnten die Geschlechter auch wesentlich besser anhand von Intonationskonturen identifiziert werden als anhand von Vokalaussprachen. Weibliche Wesen nutzen ein weiteres Spektrum der Tonhöhen und wechseln diese auch häufiger. McConnell-Ginet (1978) schreibt, dass unser Stereotyp des weiblichen Sprechens besagt, dass Frauen stärkere Tonhöhenbewegungen produzierten, dass sie Töne länger ausgleiten ließen und stärker behauchten. In Deutschland kann man dies z.B. an einem langgezogenen "tschüüüüss"

9 In der Literatur werden häufig chest register, moderate register und falsett register unterschieden, wobei das letztgenannte das höchste darstellt.

beobachten, das Frauen oft beim Abschied geradezu singen. Wenn Frauen imitiert werden, tauchen diese Merkmale auf. Sie tauchen auch auf, wenn Männer als Schwule imitiert werden. Sie gelten als exaltiert und sind deshalb abgewertet. Typisch männliche Konturen können für Imitationen kaum genutzt werden, da sie als "neutral" gelten. Stimme und typische Intonationskonturen gehören zentral zur Individuation. Sie sind nicht beliebig veränderbar. Sie werden als Gestaltphänomene wahrgenommen und sind nur von Expert/inn/en in ihren Komponenten analysierbar.

David Crystal schreibt:
"Intuitive impressions of effeminacy in English, for example,... are mainly [based on] non-segmental [features]: a 'simpering' voice, for instance, largely reduces to the use of a wider pitch-range than normal (for men), with glissando effects between stressed syllables, a more frequent use of complex tones (e.g. the fall-rise and the rise-fall), the use of breathiness and huskiness in the voice, and switchingto a higher (falsetto) register from time to time." (Zit. n. McConell-Ginet 1978)
Verschiedene Studien haben inzwischen belegt, dass Männer und Frauen unterschiedlich intonieren (z.B. Local 1982), dahingehend, dass Frauen dynamischer sprechen. Ruth Brend (1975: 86) schreibt:
"Men consistently avoid certain intonation patterns: they very rarely, if ever, use the highest level of pitch that women use. That is, it appears probable that most men have only three contrastive levels of intonation, while many women, at least, have four.11 Men avoid final patterns which do not terminate at the lowest level of pitch, and use a final, short upstep only for special effects....Although they also use short down-glides ... they seem in general to avoid the one-syllable long pitch glides, and completely avoid the reverse glides on one syllable."
Die Intonationsmuster, die von Frauen verwendet werden, klingen emotional involvierter und emphatischer. Man kann ihnen keine klar umrissene Bedeutung zuordnen, da diese isoliert betrachtet nur unvollständig konventionalisiert ist. Sie werden aber als

10 Intonation wird hauptsächlich als Tonhöhenbewegung wahrgenommen, womit in der Regel auch Veränderungen in der Lautstärke einhergehen.
11 Die Unterscheidung von der- bis vier Tonstufen muss als Vereinfachung betrachtet werden. Tonhöhen liegen nicht kontinuierlich auf einer bestimmten Stufe, sondern stehen in relationalen Beziehungen zueinander. Siehe Couper-Kuhlen 1986 zur Prosodie-Forschung.


Kontextualisierungsverfahren eingesetzt (Couper-Kuhlen 1986). Generell wird mit stark bewegten Mustern emotionale Expressivität assoziiert, diese wiederum mit Weiblichkeit.

Im Bereich von Stimme und Intonation gibt es Symbolisierungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Diese sind so weit habitualisiert, dass sie in der Regel nicht als genderisierte Stilisierung auffallen. Solange die Stimme im Bereich des kulturell Normalen liegt, tritt sie nicht ins Bewusstsein. Die Aneignung stimmlich-intonatorischer Muster kann nur dann als "doing gender" beschrieben werden, wenn "doing" auch rein imitatives Sich-Einüben einschliesst, das unmittelbar verkörperlicht und automatisiert wird. Kinder scheinen sich zunehmend mit gleichgeschlechtlichen Wesen ihrer Umgebung zu identifizieren und deren Prosodie frühzeitig in praxi zu übernehmen. Dieses "doing" ist selten im Vordergrund des Alltagshandeln, ganz zu Schweigen von bewusstem Alltagshandeln, sondern läuft unbemerkt als inkorporierte Normalität mit.

Das heisst nicht, dass diese Ebene nicht veränderbar wäre. Eine tiefe, kräftige, wenig bewegte Stimme war bis vor etwa 25 Jahren in dem Medien Männern reserviert. Sie verkörpert Autorität und Sachlichkeit und diese gehörten zu den Männlichkeitsritualen. Heute sprechen Frauen, z.B. Nachrichtensprecherinnen wie Petra Gerster, mit wenig bewegter Intonation und dunkler, kräftiger Stimme die wichtigsten Nachrichten (allerdings ist die Stimme gut als Frauenstimme identifizierbar). Sie erlauben sich einen paraverbaler Ausdruck, der noch vor wenigen Jahren viel stärker Männlichkeit symbolisierte als heute. Die Tatsache, dass Frauen in Bereichen des öffentlichen Lebens bestimmte Weiblichkeitsbekundungen nicht betreiben, heißt aber nicht, dass dies nicht auch kritisch registriert würde. Sabine Christiansen hatte als Nachrichtensprecherin z.B. den Ruf eines "Eisschranks" (Zeitmagazin Nr. 44, 1993). Dies hat sie allerdings nicht an einer weiterführenden Fernsehkarriere gehindert, im Gegenteil. Sehr bewegte, euphorische Intonationsweisen mit hellen Stimmen gelten nicht als autoritäts-sondern emotionsbetont. Frauen in Autoritätspositionen benutzen hohe Stimmen und bewegte Konturen intuitiv weniger. In Rhetorikkurse trainieren Frauen seit vielen Jahren tiefere Stimmlagen.12 Das wäre durchaus als "undoing gender" zu fassen. Von Männern westlicher Kulturen werden hohe Stimmen und eine sehr bewegte Intonation sowieso weitgehend gemieden (Graddol/Swann 1989: 22 ff.).

12 Vor allem trifft dies auf Politikerinnen zu.

Ich gehe jetzt auf einen weiteren Bereich der Kommunikation ein, in dem "doing gender" gleichfalls weit entfernt sein kann von der bewußten Relevantsetzung des sozialen Geschlechts durch die Akteure. Es handelt sich um konversationelle Stildifferenzen, die aber im Unterschied zum Phänomenbereich Stimme und Prosodie nicht mit körperlichen Merkmalen (wie der Größe des vokalen Trakts) verbunden sind. Der Zusammenhang von Gesprächsstil und sozialer Mikro-Ordnung ist auch für die Mitglieder der Gesellschaft evidenter als der Zusammenhang von stimmlich-prosodischem Sprechausdruck und Sozialstruktur.

4. 2. Differente Gesprächsstile
In vielen Bereich der Interaktion sind Stilunterschiede zwischen den Geschlechtern beschrieben worden, die Männern und Jungen stärker status- und konkurrenzorientierte Verhaltensweisen bescheinigen als Mädchen und Frauen (Maltz/Borker 1991). Ich gehe kurz auf eine Studie ein, in der es darum geht, wie Männer und Frauen sich in öffentlichen Zusammenhängen als Expert(inn)en inszenieren (Kotthoff 1993a, 1997).

Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass Frauen dazu neigen, ihre Kompetenz eher herunterzuspielen und Männer sich verschiedener Verfahren der Aufwertung und Überbetonung ihrer Kompetenz bedienen (Leet-Pellegrini 1980, Holmes 1992, Schmidt 1992, Baron 1998). Solche Unterschiede in Kommunikationsformen haben nichts mit explizitem "doing gender" im Sinne von Schegloff (1997) zu tun. "Doing gender" steht in Fernsehdiskussionen oder akademischen Konferenzdebatten, Kontexten also, in denen Männer berufliche und sonstige Kompetenzen mehr herausstreichen als Frauen, nicht im Vordergrund. Trotzdem haben gerade diese mitlaufenden "feinen Unterschiede" der Selbstpräsentation einen enormen Einfluß auf die entstehende soziale Mikrostruktur (die auch mit weitergehenden KarriereAussichten zu tun haben kann). Aber die Beteiligten haben oft weder die Intention, gender zu inszenieren, noch, ein hierarchisches Gefälle zwischen Frauen und Männern zu errichten. Ich habe mich in einem Forschungsprojekt mit dem Zusammenhang von konversationell hergestelltem Status und sozialem Geschlecht in Fernsehdiskussionen beschäftigt (Kotthoff 1993a, 1997). Die Studie hat gezeigt, dass in vielen Fernsehdiskussionen Frauen sich eher in Betroffenrollen hineinmanövrieren und Männer sich in die statushöhere Rolle des Experten für die anstehenden Fragen (wenn potentiell beide Geschlechter in diesen Identitäten agieren könnten). Die Herstellung dieser Asymmetrie ist folgenreich für die soziale Ordnung der Diskussion. Experten bekommen klassischerweise mehr Redezeit und sie definieren Themen und Standpunkte und vermitteln diese in der Modalität des Faktischen.

Die Herstellung dieses geschlechterbezogenen Gefälles ist durch und durch interaktiv, d.h. Männer agieren von Anfang an als Experten (werden auch so angesprochen und aufgefordert), indem sie z.B. ihr Wissen ausführlich darlegen. Sie treten mit kleinen Monologen in Aktion, die Belehrungen enthalten. Frauen erzählen eher von ihren Beobachtungen oder persönlichen Erfahrungen (auch wenn sie als Expertinnen eingeladen wurden). Sie modalisieren ihr Expertenwissen, zeigen eher eine explorativ-erkundende Herangehensweise an den Gesprächsgegenstand. Beiden Geschlechtern werden diese Rollen aber auch von anderen Teilnehmenden nahelegt. So werden z.B. Männern von den Moderator(inn)en eher die Grundsatzfragen zum Thema gestellt; Frauen fordert man zum Erzählen auf nach dem Motto: "Wie war das bei Ihnen?" Wenn eine zur Fernsehdiskussion eingeladene Expertin kaum in dieser Rolle angesprochen wird oder sogar daran gehindert wird, ihr fachliches Wissen auszubreiten, wird für sie ein niedriger Status mit Unterlegenheit im Bezug auf kompetente Selbstdarstellung produziert. Nur: die Beteiligten waren von diesen Ergebnissen ziemlich überrascht. Vor allem die Expertinnen, die sich im Rahmen der Fernsehdiskussion als solche so wenig inszeniert hatten, waren geradezu entsetzt über die Wirkung ihres eigenen Verhaltens, aber auch über das der dominanten Männer.

Die Frauen hatten nicht im Mindesten im Sinn gehabt, sich als normativ weiblich untergeordnet zu inszenieren.13 Dieser Status stellte sich nur her in Relation zu einem Stil, der eher geeignet war, sich in den Mittelpunkt der Diskussion zu bringen und auch dort zu halten. Wer tut denn in einem solchen Kontext gender? Eine genderisierte Mikrostruktur ergibt sich nur durch das Zusammenwirken verschiedener Handlungen verschiedener Beteiligter.

Wir sollten die so oft proklamierte These, "gender" sei eher eine soziale als eine personale Kategorie, ernst nehmen. Es sind mehrere Mitspieler/innen am "doing" beteiligt. Das "doing" liegt in den Diskussionen in einem Aufeinandertreffen von habitualisierten Stilunterschieden,14 vorgängiger Einladungspolitik der Sender, der Art der Moderation; es stellt sich somit mehr oder weniger hinter dem Rücken der Beteiligten her.

13 Ich hatte im Laufe der Forschung die Gelegenheit, einige der Expertinnen, die an den Fernsehgesprächen teilgenommen hatte, zu dem Gespräch interviewen.
14 Diese sind in der Linguistik vielfältig beschrieben worden, z.B. Maltz/Borker 1982, Tannen 1991, 1993, 1994, Schoenthal 1998.


Deshalb war es das erklärte Ziel der feministischen Linguistik (Schoenthal 1998), Praktiken aufzuzeigen, mittels derer Frauen sich in ungünstige Statuspositionen hineinmaneuvrierten oder manövriert wurden. Wir gingen davon aus, dass "gender" oft eine versteckte Dimension des Handelns ist (Gal 1989, 1995). Diese Ebene von "doing gender" ist normalerweise nirgends ausformuliert (im Unterschied zur nächsten), sie ist den Beteiligten in ihrer genderSymbolik nicht unbedingt klar, und sie ist so subtil, dass sie in der Flüchtigkeit der Situation nur manchmal bemerkt wird (aber trotzdem Konsequenzen hat).

Ein Phänomen allein macht kein "doing gender" aus. In der Forschung zu kommunikativen Geschlechterdifferenzen wurden oft vorschnell Befunde zur Quantität der Verteilung bestimmter Phänomene verallgemeinert, die sich später nicht halten liessen (siehe James/Drakich 1993 zur Verteilung von Redezeit). So meinten z.B. West (1979) und und West /Zimmerman (1983), die Unterbrechung sei immer ein Zeichen von Dominanz im Gespräch und Männer würden Frauen systematisch mehr unterbrechen. Heute haben wir etwa 50 Studien zu dem Thema, die insgesamt zeigen, dass Unterbrechungen nur im Kontext anderer Verfahren der Rederechtssicherung als Dominanzstrategie gesehen werden können (James/Drakich 1993, Kotthoff 1993b). Kein konversationelles Phänomen allein symbolisiert nur gender .

Trotzdem gibt es nach wie vor Befunde, die Frauen und Männern in verschiedenen Kontexten differente Gesprächsstile bescheinigen (Crawford 1995, Kotthoff/Wodak 1997, Baron/Kotthoff 2001), die gestalthaft durch eine spezifische Zusammenstellung verschiedener Phänomene entstehen. Da im öffentlichen Raum der von Männern praktizierte Gesprächsstil der Statusorientierung vorherrscht, müssen Frauen Anpassungsleistungen an diesen Stil erbringen, wenn sie in dem Raum erfolgreich sein wollen. Es sind Frauen, die Rhetorikkurse besuchen, um sich in der Welt der Männer besser durchzusetzen, somit ihr stilistisches Repertoire dadurch zu erweitern, dass sie männlich geprägte Kommunikationsstile dazulernen (Crawford 1995). Ein erster Schritt der Überwindung der Beschränkung auf traditionell machtlose Kommunikationsstile bestand darin, sich der Verfahren, die frau klein und überhörbar machen, überhaupt bewusst zu werden (Lakoff 1973, Key 1975). Der zweite Schritt war ein Bemühen um eine stufenweise Adaption an öffentliche, männlich geprägte Gesprächsnormen der Konkurrenz um die besten Plätze. Das kann als eine Form von "undoing gender" gesehen werden. Obwohl uns historisch-vergleichende Studien zu konversationellen Stilen fehlen, muss davon ausgegangen werden, dass in manchen Kontexten stilistische Angleichungen des Gesprächsverhaltens der Geschlechter stattgefunden haben, zum anderen Frauen heute besser als früher wissen, was sie in bestimmten öffentlichen Kontexten erwartet. Im Bezug auf die Terminologie des "doing" und "undoing" trifft "undoing gender" auf die Veränderung der Gesprächsstile von Frauen eher zu als "doing" zur Bezeichnung einer unreflektierten, habitualisierten Gesprächspraxis, deren Bezug zu gender den meisten Menschen kaum klar ist.

4.3. Doing Gender als Element der Etikette und der Stilisierung des Körpers
Auf der Ebene von Kleidung, Kosmetik, Frisur ist "doing gender" zweifellos verschärft der Fall. Die Uni-Sex-Mode der 68er gehört völlig der Vergangenheit an. Selbstverständlich ist Mode als ästhetisch-medialer Komplex kontextualisiert, aber von Büro bis Diskothek begegnet uns die geschlechtliche Differenzarbeit der Körpergestaltung. "Die oberflächlichen Hüllen des Selbst" (Richard 1998) scheinen immer und überall zur Unterstreichung von sex und gender genutzt zu werden – und daran hat sich nichts geändert (Würtz/Eckert 1998). Frauenmode ist auch heute noch verspielter als Männermode, arbeitet mit Spitze und Rüschen, einer größeren Farbenvielfalt, der Erzeugung von Instabilität, betont Weichheit der Materialien. Die modische Differenzarbeit geschieht nicht nur habitualisiert (im Unterschied zu Ebene 1 und 2), sondern durchaus auch bewusst wählend. Eine mächtige Industrie stiftet hier permanent Identifikationsangebote. Kopplungen von gender mit Alter sind stark der Fall. Jugend gibt den Ton an, und für Frauen steht das Bewahren von Jugendlichkeit mehr denn je auf der Tagesordnung als ein Bewahren von Weiblichkeit. Eine gigantische Kosmetikindustrie sorgt dafür, dass die Ornamentierung von Gesicht und Körper wesentliches Kennzeichen der Weiblichkeit bleibt.15

Die Gestaltung des Äußeren ist unhinterfragt genderisiert, allerdings graduell sehr unterschiedlich. Gender hat in diesem Bereich mit Erotik zu tun, also auch mit biologischem Geschlecht und Sexualität. Die Geschlechter betonen die Differenzen, die der Körper hergibt (Haare, Gesicht, Busen, Beine usw.). Tags im Dienst betreiben viele junge Leute weniger Körperbetonung als abends nach Dienstschluss. Es gibt Spielräume – und die werden zur Symbolisierung des Selbst und der Situation genutzt (Würtz/Eckert 1998). Mode ist durch und durch massenmedial vermittelt.

Das Dilemma besteht darin, dass erst die Forschungsperspektive den Zusammenhang zwischen einer hohen Relevantsetzung betonter kultureller Weiblichkeit und der Vernachlässigung anderer Perspektiven auf die Welt erhellt.

Zybell (1998) hat sich mit der Frage beschäftigt, warum junge Frauen in Deutschland auch heute noch mehrheitlich traditionell weibliche Berufe mit geringer Entlohnung und hoher Unsicherheit wählen. Sie kommt zu dem Schluß, dass die Körpererfahrung junger Frauen mit ihrer Berufswahl zu tun hat.

Die sichtbaren Reifungsprozesse bei Mädchen und Jungen in der Zeit der Adoleszenz sind nicht allein körperliche Phänomene, sondern kulturell und sozial vermittelte Ereignisse, die von beiden Geschlechtern unterschiedlich erlebt werden. Auf die jungen Frauen wird vor allem von der männlichen Umwelt ein stark sexualisierter Blick geworfen. Frauen lernen, ihren Wert an ihre Körpererscheinung zu binden und fangen an, sich mit der Körperbewertung zu identifizieren. Die Beurteilung durch die vom männlichen Blick geprägte Außenwelt wird zum Dreh- und Angelpunkt ihres emotionalen Erlebens.

Statt sich mit ihrer beruflichen Laufbahn auseinanderzusetzen, setzen sie sich damit auseinander, inwiefern sie den gesellschaftlichen Schönheitsnormen genügen. Die Arbeit "Scherzkommunikation unter Mädchen" von Branner (2001), der langer Kontakt zu 1416jährigen Mädchen zugrundeliegt, bestätigt, dass sich die Kommunikation unter den Freundinnen sehr stark um Körperbegutachtung (Schlankheit, Haare, Gesicht, Mode) dreht. Große Geschäftszweige, wie die Pornographie, tragen weiterhin dazu bei, dass sich massive Asymmetrien in die Körperpräsentation der Geschlechter einschreiben. Der Mann wird eher als Kunde angesprochen und der Körper der Frau als Ware inszeniert wird. Neben der Mode gehören auch Bereiche der Etikette zum intentionalen "doing gender." In der Etikette des Hofmachens und Kontakt-Anbahnens sind in den westlichen Gesellschaften in den letzten vierzig Jahren zweifellos Veränderungen in Richtung auf Rollenangleichung passiert.

Während Dr. Fischer in der Bravo der späten sechziger Jahre den Mädchen noch empfahl, ein Taschentuch vor dem Jungen fallenzulassen, um indirekt ihr Interesse an ihm zu bekunden, haben heute die Geschlechter vielfältige Methoden der Interessebekundung gefunden (Kintzelé 1998). Wie sehr genderisiertes Hof-Machen in welchen Kreisen derzeit noch der Fall ist, ist meines Wissens nicht erforscht. Auf der Ebene der Etikette gibt es durchaus noch Verehrungsformen wie das Mitbringen von Rosen und

15 Die Gestaltung des Äußeren ist in Frauenzeitschriften eines der Hauptthemen, inMännerzeitschriften nicht, Stuckard 2000.
16 Siehe dazu auch das Vorwort von Kotthoff und Wodak zu Kotthoff/Wodak 1997 und das
Vorwort von Baron und Kotthoff zu Baron/Kotthoff 2001.


Pralinen, das In-den-Mantel-Helfen, Tür-Aufhalten usw. Das ist "doing gender" im Sinne von
Schegloff (1997).
Körperpolitik hat auch mit Sexualität und ihrer kulturellen Inszenierung zu tun. Sex und
gender sind nicht so entkoppelt, wie manche in der Tradition der Arbeiten von Butler meinen.16

4.4. Lokale Geschlechtsneutralität
Kontexte der Neutralität von gender sind nicht schwer zu finden. Heintz/Nadai (1998) verweisen auf bestimmte Berufe, die in bestimmten historischen Phasen entgenderisiert werden können.

Auf der mikro-interaktionalen Ebene Kontexte der gender-Neutralität (im Sinne der Irrelevanz von Geschlecht für die ablaufende Handlung) zu finden ist recht unspektakulär. Die meisten Verkaufsgespräche haben beispielsweise vordergründig mit Geschlecht wenig zu tun. Selbst in Kontexten von Fernsehdiskussionen, in denen das Geschlecht der Akteure oft relevant ist (es werden mehr Männer dazu eingeladen), lassen sich Neutralisierungen beobachten. Zwei Diskussionen meines Korpus zeigen das oben geschilderte geschlechtsnormative Muster beispielsweise nicht; in einer Diskussion über die Politik der österreichischen FPÖ wird für die einzige anwesende Frau, Hildegard Hamm-Brücher, ein sehr hoher Status hergestellt. Hamm-Brücher hält auch Belehrungsvorträge an die Adresse der anwesenden Funktionäre der rechtspopulistischen FPÖ. Auch in der Diskussion "Mein Arzt spricht nicht mit mir" wird für die beiden anwesenden Frauen, eine Professorin und eine Wissensschaftsjournalistin, ein vergleichsweise hoher Status produziert. Diese beiden Frauen legen häufig Informationen aus ihren Fachgebieten dar, aber sie belehren selten jemanden eines Besseren. Die Diskussion verläuft kaum nach geschlechtstereotypen Mustern, da auch die anwesenden Männer sich in der Mehrzahl kooperativ verhalten. Das zeigt uns, dass konversationelle Geschlechtsspezifik nicht starr ist.

Allerdings bedarf es für diese Nicht-Relevanz von gender zahlreicher Voraussetzungen, z.B. muss in diesem Fall die Redaktion überhaupt Frauen als Expertinnen eingeladen haben. Das ist gerade bei politischen Themen nicht selbstverständlich. Dann muss die Moderation darauf hinarbeiten, kein lokales Statusgefälle aufkommen zu lassen. Sie darf z.B. "Platzhirsche" nicht auch noch bestätigen.

4.5. Medienrezipienz als omnipräsente gender-Folie
Und nun abschließend noch zu einer anderen Ebene unserer Wahrnehmungsstrukturierung, nämlich der auf die Verarbeitung von Massenmedien bezogenen. Hier fungiert die Unterscheidung männlich/weiblich praktisch als Leitdifferenz.

Alle Analysen massenmedialer Produktionen, seien es Fernsehnachrichten, Comics, Werbung, Spielfilme, Hochglanzbroschüren, politische Kommentare oder Bilderbücher für Kinder zeigen, dass gender relevant gesetzt wird.17 Genderisierte Glaubensvorstellungen werden vor allem in der Werbung kontinuierlich bestätigt, oder anders formuliert: Gender is done for us. Werbung ist z.B. omnipräsent. Wir rezipieren sie mit verschiedenen Bewußtseinszuständen, oft nebenbei. Sie produziert Idealbilder der Geschlechter (Goffman 1979). Allein in USA hat die Werbeindustrie ein jährliches Budget von 250 Milliarden Dollar (Martin/Schumann 1996).

Diese ritualisierten Ausdrucksformen, die im Alltag zwar als
Geschlechterglaubensvorstellungen und als soziales Geschlecht vorhanden sind, aber auch unterlaufen werden, sind in der Werbung hyperritualisiert. In "gender advertisement" zeigt Goffman anhand von Bildwerbung, wie normativ und asymmetrisch die Geschlechterglaubensvorstellungen sind, welche sie vermittelt.

Goffman behauptet, dass die Aufgabe der Reklamedesigner derjenigen aller Gesellschaftsmitglieder nicht unähnlich ist, die ihre sozialen Situationen mit rituellen Zeichen ausstatten, die eine schnelle Orientierung der Beteiligten aneinander ermöglichen. Beide nutzen wahrnehmbare Mittel der Selbstdarstellung. "Und beide bedienen sich der gleichen elementaren Mittel: Absichtsbekundung, mikroökologische Aufzeichnung sozialer Strukturen, anerkannte Typisierung und gestische Externalisierung innerer Reaktionen".(1981: 116) Goffman analysiert dann Bildmaterial. Er zeigt, wie auf Reklamefotos relative Größe eingesetzt wird, um Dominanz und Unterordnung zu signalisieren. Er vergleicht dargestellte männliche und weibliche Berührungen von

17 Zur Werbungsanalyse siehe Schmerl 1992 und Willems/Kautt 2000.
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Gegenständen. Der Mann packt an, z.B. die Jägermeisterflasche, und hält sie fest. Frauen deuten Berührungen oft nur an. Statt des utilitären männlichen Zugriffs zeichnen sie nur die Linien eines Gegenstandes nach. Weibliche Selbstberührungen sollen das Gefühl vermitteln, dass der Körper etwas kostbares sei.

Wenn auf einem Bild Mann und Frau direkt zusammenarbeiten, dann übernimmt der Mann die Leitung der Aktivität. Man sieht den Herrn Doktor eine Tabelle lesen und die Krankenschwester, welche auch einen Blick von der Seite darauf wirft. Frauen werden oft abgebildet, wie sie Hilfe annehmen. Er hilft ihr aus einer Schaukel heraus und läßt sie von seinen Weintrauben abbeißen. Der Mann bietet sicheren Halt. Häufig steht die Frau an ihn gelehnt. Die Frau liegt oft, Männer sind höher arrangiert. Liegende Stellungen sind ein konventioneller Ausdruck von Hilflosigkeit und sexueller Verfügbarkeit. Erhöhte räumliche Standorte symbolisieren höhere soziale Ränge. Frauen werden auch oft in Schräghaltungen gezeigt, Männer in geraden. Schräge Kopfhaltungen vor allem gelten als Ausdruck von Demut.

Willems und Kautt (2000) haben in der Tradition von Goffmans Dramatologie und Bourdieus Konzept des Habitus eine qualitative Analyse von ca. 3200 Werbeanzeigen, die zwischen 1989 und 1997 geschaltet wurden, durchgeführt. Mediengenres wie Werbung gehört für sie zu den "Mega-Bühnen (...), auf denen alltagskulturelle Sinnbestände (re-)präsentiert werden" (2000: 349). Sie stellen sowohl die Frage nach der kulturellen Reflexivität von Werbung als auch die ihrer sozialisatorischen Produktivität. Zunächst halten sie fest, dass die Darstellung weiblicher Erotik (und der in der Regel fehlende Produktbezug) nach wie vor zu den universalen Werbestrategien gehört. Die so häufig konstituierte Blickordnung der Werbung mit der spärlich bekleideten Frau im Zentrum des Bildes "potenziert in gewisser Weise die alltägliche Blickpraxis, indem sie die Limitierungen, denen der männliche Blick in 'pragmatischen' Kontexten unterliegt, eliminiert" (2000: 350). Die abgebildeten Frauen wenden sich scheinbar an den sie betrachtenden Mann, der zum unsichtbaren Helden der Szenerie wird.
In der Darstellung von Frauen häufen sich symbolische Impressionen von Zartheit, Zärtlichkeit und Empfindlichkeit. Sie geraten ständig in Euphorie über Kleinigkeiten, womit das Schema des Kindes als Grundmodell bestätigt wird. Der Mann hingegen wird affektgedämpft und selbstkontrolliert gezeigt, somit die Eltern-Seite der Folie repräsentierend.

Als weiteres Beispiel der Bestätigung dieser nach wie vor dominanten Ausrichtung der Werbung führe ich Radiowerbung an, weil mir das ein Anknüpfen an meine Ausführungen zur Prosodie und zur Stimme erlaubt. Auch die Radiowerbung hyperritualisiert sowohl Rollenverhalten als auch intonatorische und stimmliche Sprechstile der Geschlechter (Furnham/Schofield 1986, Kotthoff 1994b). Wir finden einen der Bildwerbung sehr ähnlichen Impressionismus vergeschlechtlichter Emotionalität.

Es gibt in der Radiowerbung verschiedene Formen von Werbe-Spots, z.B. kurze Ansprachen an die ZuhörerInnen, kurze Dialoge, kurze Dialoge, kombiniert mit einer direkten Ansprache, Songs, szenische Vorführungen mit Geräuschen und Ausrufen, Anrufungen in Marktschreierform u.a. Männerstimmen dominieren in der Radiowerbung ganz generell. Von den 50 Werbe-Spots, die ich 1994 aufgezeichnet habe, bestehen etwa 55% aus Ansprachen. Diese werden zu 95% von Männern gesprochen.

Etwa 45% der Werbung enthalten Dialoge, davon wird 80% mit einer direkten Ansprache (voice over) kombiniert. Diese voice overs kommen zu 98 % aus männlichem Mund. Sie verkörpern in der Regel die Stimme der Autorität, welche abschließend das Produkt empfiehlt. Thematisch ist die Arbeitsteilung der Geschlechter in der Radiowerbung hochgradig stereotyp. Bezugnahmen auf technische Seiten eines Produkts kommen nur aus männlichem Mund. Autos, Bier, Wissenschaft und Technik werden nur von Männerstimmen angepriesen, Mineralwasser, Versicherungen, Ladenketten, Lebensmittel und Wohnungsinventare hautsächlich aus männlichem Mund.

Frauenstimmen treten in der Werbung zur Hälfte singend in Erscheinung. Sprechende Frauen spielen hauptsächlich bei Kaffee, Unterhaltungszeitschriften, Schokolade, Kosmetik, Katalogen, Reinigungsmitteln und Reisen eine Rolle. Besteht der Spot teilweise oder gänzlich aus einem Dialog und ist dies ein Beratungsdialog, so findet sich die Frau zu 95% in der Rolle der Fragenden. Der Mann wird als der ratgebende und aufklärende Experte inszeniert. Steht irgendein Mißgeschick im Zentrum des Geschehens, so ist sie es, die sich beunruhigt, Angst und Staunen zeigt, bis er die klärenden Worte äußert, welche das Produkt oder die Einrichtung benennen, welche die Probleme lösen. In der Radiowerbung findet sich insgesamt eine Portraitierung der Geschlechter, welche derjenigen in der Bildwerbung entspricht. Über Dialogrollen, Stimmen und Intonation wird dem Mann Autorität, Kompetenz und Sachlichkeit zugeordnet und der Frau Emotionalität, Hilflosigkeit und Instabilität.

5. Schluß: Habitualisierung – Inszenierung - Rezipienz
Es ist völlig unbefriedigend, wie Schegloff (1997) "doing gender" auf die Ebene des expliziten Hinweisens auf Geschlechternormen festlegen zu wollen. Diese Ebene ist lediglich die am stärksten evidente, die dem Bewußtsein am besten zugängliche. Sie ist in der Etikette lebendig (Ebene 3).

Die hier am Beispiel von Prosodie und Stimme (Ebene 1) und stilistischer Status-Inszenierung (Ebene 2) dargestellten Unterschiede nehmen die meisten von uns in der Regel schlicht als Persönlichkeitsunterschiede war oder als Kompetenzunterschiede, d.h. gender ist nicht im Vordergrund der Aktivität – und das ist genau das Problem.

Es muß zumindest als anderer Typ von "doing" gefaßt werden, wenn man bei der Terminologie bleiben will. Es ist die Aufgabe der Interaktionsforschung, den hier subtil im Hintergrund liegenden Genderismus aufzudecken. Für die Aktivitäten der Ebene 1 und 2 scheint mir Bourdieus Habitualisierungsbegriff geeigneter.

Bourdieu (1979) bezeichnet den Habitus als ein System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen zu praktischem Handeln (dt. 1987: 98). Sein Schlüsselkonzept bei der Genese des Habitus ist das der Inkorporierung der Kultur, der Geschichte, der Umwelt. Kollektive Dispositionen werden von den Menschenkörpern einverleibt, ohne in ihr Bewußtsein treten zu müssen. Lebensbedingungen erzeugen den Habitus über unmerkliches Vertrautwerden und spielerisches Einüben in Praktiken jenseits von Erklärungen. Explizite Überlieferungen treten hinzu.

Dazu kommen Genderismen, die die meisten von uns nicht selbst erzeugen, z.B. solche der Massenmedien (z.B. der Werbung), die wir kontinuierlich rezipieren (Ebene 5). Sinnvoll erscheint mir am Ansatz des "doing" nach wie vor, dass er das Augenmerk auf die Gemachtheit der Leitdifferenz lenkt. Dabei bleibt er allerdings im Subjektivismus befangen, da die Produktion der Distinktion zu stark im individuellen Aktionsradius angesiedelt wird.

Die völlige Ausblendung körperlicher Unterschiede zwischen Frauen und Männern suggeriert eine Instabilität der Geschlechternaturen, als sei dieser unaufwendig umkodierbar. Mit einem solchen Diskursidealismus ist schlechterdings nicht zu erklären, wieso Massenmedien unablässig mit der Formung erotischer und sexueller Bedürfnisse arbeiten. Die ganze historische Stabilität der Verhältnisse lässt sich besser verstehen, wenn man die Ankoppelbarkeit des Kulturellen ans Natürliche in Rechnung stellt (Tyrell 1989).

Am stabilsten sind Unterschiede, deren Natürlichkeit gut plausibilisiert werden kann. Das heißt nicht, dass die Natur der Kultur vorgängig ist, eher umgekeht: die Kultur kann rückgebunden werden an biologische Phänomene.Wir müssen ja nicht nur die Variabilität von Geschlechterverhältnissen erklären, sondern auch ihre historische Stabilität.

Auf vielen Ebenen findet Wandel statt. Dieser folgt aber keinem eindeutigen Trend. Es gibt Relevanz-Zurückstufung von gender: Frauen bedienen sich heute tieferer Stimmregister als früher; Frauen setzen sich sogar gegen die aktuelle Gruppendynamik als Expertinnen durch; auch die Bedeutung von Geschlechteretikette tritt in vielen sozialen Milieus in den Hintergrund.
Andrerseits bescheren uns Mode und Massenmedien ein auf Schönheit fixiertes Frauenbild und ein wesentlich vielseitigeres Männerbild. Vermutlich fungieren sie heute als einer der wichtigsten konservativen Faktoren im Erhalt von Geschlechter-Asymmetrie.

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