Montag, 15. Oktober 2007

Risiko Familie

Bernhard Nauck

Risiko Familie? Die soziale Wirklichkeit von Familien


Auf einer Tagung einer Wohlfahrtsorganisation, die sich auf familienergänzende Einrichtungen spezialisiert hat, die unter dem Tagungsmotto „Familien brauchen mehr als Geld“ steht, einen Eröffnungs-Vortrag zum Thema „Risiko Familie? Die soziale Wirklichkeit von Familien“ zu halten, ist sicher eine Art Aufforderungscharakter der folgenden Art:

Man wähle einen „bedürfnisorientierten“ Ansatz und argumentiere, dass in der Tat Familien mehr brauchen als Geld (aber natürlich auch das, und je mehr desto besser), aber darüber hinaus auch noch viele andere schöne Dinge um sie herum, wie z.b. eine familiengerechte und das Familienleben fördernde oder die Eltern in ihren Aufgaben entlastende Infrastrukturen, die dann aber (nicht erst bei näherem Hinsehen) natürlich auch Geld kosten.
Und diese Argumente sollten dann am besten so aufbereitet sein, dass sie sich unmittelbar in Munition ummünzen lassen, um die familienbezogene Wohlfahrtslobby im Verteilungskampf um öffentliche Gelder aufzurüsten.

Ich werde mich dem keineswegs völlig verschließen, dies aber nicht mit den üblichen Argumenten tun: Von der ethischen Hochrangigkeit der Bedürfnisse (hier: von Familien) auf die Legitimität von (ebenso hohen) monetären Forderungen zur Befriedigung dieser Bedürfnisse zu schließen. Dies geschieht aus einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Fruchtbarkeit von bedürfnisbezogenen Argumenten in verteilungs- und ordnungspolitischen Debatten. Um es vorwegzunehmen: Dies ist aber absolut kein Anlass zur Beunruhigung, denn am Schluss meiner Ausführungen hoffe ich erläutert zu haben, warum es zum erheblichen Ausbau einer familienergänzenden Infrastruktureinrichtungen keine realistische Alternative in modernen Gesellschaften gibt - nur eben nicht auf der Basis von Argumenten, dass einer vermeintlich verhängnisvollen, „familienfeindlichen“ Zukunftsentwicklung gegengesteuert werden müsse. Vielmehr möchte ich deutlich machen, dass dieser Ausbau eine sinnvolle Begleitung eines „mächtigen“, durch staatliche Intervention praktisch nicht zu beeinflussenden demographischen Trends ist.

Seit Ende der 70-er Jahre mehrten sich die Veröffentlichungen in Deutschland, die aus den soziodemografischen Veränderungen B z.b. der Abnahme der Geburten- und Eheschließungszahlen, dem Anstieg der Nichtehelichen Lebensgemeinschaften sowie der Scheidungen B vor allem unter dem Aspekt der De-Institutionalisierungs- und der Individualisierungsthese düstere Prognosen für die Zukunft von Ehe und Familie in Deutschland stellen und in denen ein Bedeutungsverlust oder eine „Krise“ der Ehe und Familie diagnostiziert wird. Die Autoren und Autorinnen sprechen von einer sinkenden Attraktivität von Ehe und Familie, da diese in eine Konkurrenzsituation zu anderen Lebensformen geraten sei, die dem modernen Wirtschaftssystem und Arbeitsleben mit ihrer hohen Anforderung an Mobilität, Flexibilität, psychischer und physischer Arbeitskraft-Intensität u.a.m. adäquater wären. Dieser Wandel resultiere ferner aus einem gestiegenen Traditionsverlust, aus der ökonomischen Wohlstandssteigerung, aus dem sozialstaatlichen Absicherungssystem, vor allem auch aus der höheren Bildungsbeteiligung von Frauen und aus der heutigen Möglichkeit der leichteren Revision von Entscheidungen.

Spätestens seit dem Internationalen Jahr der Familie 1995 sieht es so aus, als sollte damit ein „Auslaufmodell“ unter den Lebensformen gefeiert (und beerdigt) werden.
Solche Zeitdiagnosen sind jedoch in Unkenntnis der tatsächlichen Lebensverhältnisse, Wertorientierungen und Alltagsprobleme der großen Mehrzahl der Bevölkerung in der deutschen Gesellschaft getroffen worden. In mancher Hinsicht sind solche Aussagen als ein Teil des Symptoms (nämlich der sozialstrukturellen Differenzierung und Veränderung von Lebensformen), aber nicht als deren Diagnose zu betrachten.

Im Zuge der theoretischen Diskussion über die Entstehung „moderner“ Lebensstile werden nämlich fast ausschließlich nichtfamiliäre Lebensformen in den Blick genommen, wie Singles, nichteheliche Partnerschaften, Lebens- und Haushaltsgemeinschaften, Wohngruppen, und dies alles gleich- und gemischtgeschlechtlich.

Unter dem Gesichtspunkt der Beobachtung der Ausdifferenzierung von Lebensformen ist es selbstverständlich wichtig, diese an spezifische urbane Milieus gebundenen Lebensformen zu untersuchen, und es ist unzweifelhaft zutreffend, dass - in querschnittlicher Betrachtung - diese Lebensformen an quantitativer Bedeutung gewonnen haben. Um der analytischen Klarheit willen muss jedoch festgestellt werden, dass es sich dabei nicht um Familien in dem Sinne handelt, dass in ihnen intergenerative Beziehungen gelebt werden.

Zeitdiagnosen diesen Stils und Zuschnitts mögen eine gewisse Sensibilität und Empathie für sub-jektivierte und hochgradig individualisierte Lebensstile wohlhabender, urbaner Akademiker aufweisen, denen ja solche Zeit- und Familiendiagnostiker mehrheitlich zuzurechnen sind, für diese Gruppe mögen solche Diagnosen möglicherweise auch ein zutreffendes Bild zeichnen. Es fragt sich dann aber, ob die Aufmerksamkeit, die solche massenmedialen Diskussion über ‚neue’ Lebensformen regelmäßig in der Öffentlichkeit erhalten, nicht dem Umstand geschuldet ist, dass die darin geschilderte ‚Wirklichkeit’ nicht mit der der Rezipienten übereinstimmt.

Tatsächlich lässt sich die ganze Aufgeregtheit in der Debatte um „Individualisierungsschübe“ in der Gesellschaft überhaupt nur verstehen, wenn man berücksichtigt, dass dabei die - mehrheitlich bedrohlich oder gefährdend empfundenen - Konsequenzen für Kinder teils latent, teils explizit mit -bedacht werden. Dies wird überdeutlich, wenn man sich die dabei hauptsächlich verwendeten Indikatoren vor Augen führt: Der Aufweis eines Anstiegs von Einpersonenhaushalten, von nichtehelichen Lebensgemeinschaften, von nicht an Haushaltsgemeinschaften gebundenen Lebensformen, von Ehen und Familien, die über mehrere Wohnorte hinweg geführt werden (Commuter-Ehen), von Trennungen in Partnerschaften und Scheidungen in Ehen würde bei weitem nicht die Brisanz und die Aufmerksamkeit entwickeln, wenn nicht dabei stets die vermeintliche oder berechtigte Sorge (jedenfalls aber: die bewertende Einordnung) im Hinblick auf betroffene Kinder enthalten wäre.

Es sollte deutlich geworden sein, dass solche Gesellschaftsdiagnosen und Zeitanalysen mit der Familienforschung über weite Strecken kein gemeinsames Untersuchungsfeld haben: Es geht in der Familienforschung nicht um die Beschreibung und Erklärung von Lebens- oder gar Haushaltsformen schlechthin, sondern ausschließlich um den intergenerativen Bezug des Zusammenlebens. Dieser intergenerative Bezug kann sich in einer Lebensführung realisieren, bei der zwei oder mehr Generationen gemeinsam einen Haushalt bilden, jedoch ist dies keineswegs notwendig, so dass familiäre Lebensformen und gemeinsame Haushaltsführung für die Familiensoziologie keineswegs immer zusammenfallen.

Ein etwas genauerer Blick auf die familiendemographischen Trends soll versuchen, die tatsächlich sich vollziehenden Wandlungsprozesse genauer zu erfassen. Die familienstatistischen Trends scheinen in Deutschland B auf den ersten Blick hin B tatsächlich so etwas wie einen Bedeutungsverlust von Ehe und Familie zu dokumentieren und zu signalisieren, dass sich immer mehr Menschen von einem Leben in der Familie und vor allem von der Ehe abwenden und dass dieser Trend auch für die Zukunft gelten könnte. So ist allgemein bekannt, dass die Eheschließungen in Deutschland quantitativ zurückgehen. Vor allem aber haben die Nichtehelichen Lebensgemeinschaften seit Ende der 70-er Jahre in Deutschland sprunghaft zugenommen. Ihre Zahl beträgt zurzeit 2,1 Mio. (= 1999); sie hat sich damit in den letzten Jahren in der (alten) Bundesrepublik mehr als verdoppelt. Ferner nimmt seit Ende der 60-er Jahre in Deutschland die Geburtenquote ab. Die Abnahme der Geburtenquote ergibt sich durch den Rückgang der Mehr-Kinder-Familien und vor allem durch den Anstieg der kinderlosen Ehen. So bleiben heute von allen Frauen einer Geburtskohorte ca. 20 B 25 % in Westdeutschland zeit ihres Lebens kinderlos; in der DDR war zwar dieser Anteil lediglich 10 %. Doch spricht vieles dafür dass für die jüngeren Kohorten ähnliche Zahlen zu erwarten sind, wenn die Kinderlosigkeit sogar noch größer als bei den in Westdeutschland geborenen Frauen sein wird.

Eine Krise bzw. ein Bedeutungsverlust von Ehe und Familie wird ferner vor allem aus dem Anstieg der Ehescheidungszahlen abgelesen. Es ist zu prognostizieren, dass die Ehescheidungen in Deutschland weiter steigen werden: Denn die Zunahme der Scheidungen hat sich auch die Zahl der Scheidungskinder erhöht, die selbst ein größeres Ehescheidungsrisiko als Kinder aus nichtgeschiedenen Ehen besitzen. Ferner weisen bi-nationale Ehen ein höheres Scheidungsrisiko auf, und auch diese nehmen quantitativ zu.

Ein Vergleich der Bundesrepublik mit anderen Ländern zeigt, dass Deutschland im Vergleich zu den übrigen europäischen Ländern keine besonders hohen oder niedrigeren Werte im Hinblick auf familiendemografische Trends aufweist, allerdings mit Ausnahme der überdurchschnittlich hohen Quote von kinderlosen Frauen.

Parallel zu den oben angegebenen demografischen Veränderungen B zum Teil auch durch sie bedingt B können wir seit ca. 30 Jahren eine zunehmende Ausdifferenzierung von Haushalts- und Lebensformen in Deutschland beobachten. De facto haben in der Bundesrepublik Deutschland während der letzten Jahre die Ein-Eltern-Familien zugenommen; sie machen zurzeit 12 % aller Familien aus. Der Anteil der Nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern an allen Haushalten mit Kindern beträgt 4 %. In Stieffamilien wachsen 5 % aller unserer Kinder auf.
Alle genannten demografischen Veränderungen sind in Deutschland erst seit ca. 30 Jahren feststellbar; und trotz der zahlenmäßigen Zunahme anderer Familienformen während dieses Zeitraumes ist die Zwei-Eltern-Familie mit formaler Eheschließung gegenüber anderen Familienformen weiter quantitativ dominant geblieben. Noch deutlicher wird die quantitative Bedeutung der Zwei-Eltern-Familien gegenüber anderen Familienformen, wenn die Perspektive der Kinder eingenommen wird: Fast 82 % aller Kinder bilden bis zum 18. Lebensjahr mit ihren leiblichen Eltern eine Haushaltgemeinschaft.

Stärkere quantitative Verschiebungen als zwischen den einzelnen Familienformen hat es im Verhältnis der Familien zu anderen Haushalts- und Lebensformen gegeben. Familien sind, wenn man alle Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland querschnittsmäßig betrachtet, nicht mehr anteilsmäßig die dominante Lebensform in unserer Gesellschaft. Nur noch 1/3 aller Haushalte sind (mit zwei Eltern- oder mit einem Elternteil) „Familienhaushalte“.

Die Abnahme der Familienhaushalte an allen Haushalten ergibt sich nicht primär aus der sinkenden Heiratsneigung oder dem steigenden Scheidungsaufkommen. Die Abnahme im Vergleich zu anderen Haushaltsformen ergibt sich vielmehr vor allem daraus, dass die Familienphase, also das Zusammenleben mit Kindern, gemessen am Lebenslauf des Einzelnen zeitgeschichtlich kürzer geworden ist, und zwar einerseits wegen der gestiegenen Lebenszeit und andererseits wegen der geringeren Kinderzahl pro Familie. Diese Zeitspanne macht derzeit nur noch 3 des gesamten Lebens aus, vor 100 Jahren nahm sie noch über die Hälfte, in noch früheren Zeiten sogar: des gesamten Lebens ein.

Das Zusammenleben mit Kindern ist im Leben des Einzelnen zu einer „transitorischen Phase“ geworden. Durch die Verschiebung der Familienzyklen hat sich vor allem die nachelterliche Phase ausgedehnt. In den heute bestehenden Ehen ist die durchschnittliche Ehedauer sowohl absolut als auch relativ zur Familienzeit länger als in früheren Epochen.

Von dieser schrumpfenden Zeitspann des Lebens im gemeinsamen Familienhaushalt bleibt unberührt, dass mit „Familie“ ganz überwiegend mit einem lebenslangen Zugehörigkeitsgefühl verbunden wird und Familie als lebenslanges Unterstützungssystem gilt.

Tatsächlich hat die subjektive Bedeutsamkeit von Familie her noch zu- und keinesfalls abgenommen. Zumindest dieser Befund zur ungebrochen hohen Bedeutung von Familie und Partnerschaft ist nicht leicht mit den Untergangs-Szenerien vieler Zeitdiagnosen in Einklang zu bringen. Wenn es also nicht der Bedeutungsverlust ist, der die beschriebenen familiendemographischen Veränderungen erklären kann, dann stellt sich die Frage sehr viel grundsätzlicher als die nach der familiensoziologisch entscheidenden Frage, wie das Zusammenleben zwischen den Generationen in einer Gesellschaft geregelt ist.

Wie das Zusammenleben zwischen den Generationen in einer Gesellschaft geregelt ist, ist zunächst eine schlichte empirische Frage. Erst in zweiter Hinsicht wird man dann jedoch berechtigterweise darauf aufmerksam werden, dass diese Frage auch gesellschafts- und sozialpolitische Implikationen mit ihren dazugehörigen moralischen Prämissen hat. Dass diese sozialpolitischen Implikationen des Lebens in intergenerativen Bezügen bei weitem größer sind als die intragenerativer Partnerschaften, kann für Gesellschaften in der Moderne als sicher gelten:
"Die sowohl aus individueller wie aus politischer Sicht entscheidende Alternative ist also nicht diejenige zwischen ehelichem und nichtehelichem Zusammenleben, sondern zwischen einem Leben mit und ohne Verantwortung für Kinder. Dies wird auch deutlich, wenn wir die unverzichtbaren gesellschaftlichen Funktionen der Familie bedenken: Nachwuchssicherung und die Stabilisierung des Verhältnisses zwischen den Generationen werden primär durch das Eltern-Kind-Verhältnis vermittelt" (F.X. Kaufmann 1990).

In der Ausgestaltung von Generationenbeziehungen und von intergenerativen Solidarleistungen hat es in der Tat spektakuläre Veränderungen gegeben, die den Sozialcharakter von Familie völlig verändert haben. Eine Hauptdimension dieses Wandels lässt sich vertragstheoretisch folgendermaßen beschreiben: Vom "Vertragsmodell des direkten Tauschs" zum "Modell der (transzendentalen) Generationen-Kaskade".

  1. Kinder waren in vorindustriellen Gesellschaften ein Gut individuellen ökonomischen Nutzens und Partner in einem direkten, impliziten Generationenvertrag mit ihren Eltern, in dem Versorgungsleistungen der Kinderpflege gegen solche der späteren Altenpflege getauscht wurden. Der implizite Generationenvertrag lautete also etwa folgendermaßen: „Ich ziehe Dich auf und versorge Dich in Deiner Kindheit und erwarte dafür, dass Du mich versorgst und pflegst, wenn ich alt bin und nicht mehr für mich selbst sorgen kann“.
  2. In Industriegesellschaften sind Kinder zu einem kollektiven Gut ökonomisch-utilitaristischen Nutzens geworden (während die ökonomischen Kinderkosten gleichwohl größtenteils individuelle der jeweiligen Eltern geblieben sind). Der individuelle, implizite Generationenvertrag hörte dagegen auf zu existieren und wurde in einen expliziten Kohortenvertrag des Sozialversicherungssystems umgewandelt, bei dem Geburtskohorten einer Gesellschaft nur mehr kollektiv füreinander verantwortlich sind. Diesen Unterschied nicht deutlich gemacht zu haben und in der öffentlichen Diskussion weiterhin den Terminus 'Generationenvertrag' zu benutzen, ist eines der größten Versäumnisse des sozialpolitischen Denkens der letzten Jahrzehnte. Da dieser Kohortenvertrag nicht mehr durch den direkten Generationenbezug vermittelt ist, wird die individuelle Einklagbarkeit von Rechten und Pflichten zwischen Generationen drastisch vermindert und an die Stelle individueller intergenerativer Loyalität ist notwendigerweise eine kollektivpolitische Interessenvertretung von Alterskohorten getreten. Entsprechend der demographischen Entwicklung moderner Gesellschaften ist unter diesen Bedingungen auch erwartbar, dass die Veränderung in den quantitativen Proportionen von Eltern mit ihren Kindern einerseits und Alten und Alleinlebenden andererseits direkte Auswirkungen auf die Ausformulierung politischer "Issues" haben wird, und dass die Wohlstandssicherung der alten Bevölkerung mit zunehmender Kinderarmut einhergeht.
  3. Diese Kollektivierung der Altersversorgung in einem Kohortenvertrag hat zu einem vorher nie gekannten Ausmaß an individueller Sicherheit der jeweils älteren Kohorten geführt (der durch die Pflegeversicherung weiter an Schubkraft gewinnt), die jedoch auf der Ebene der individuellen intergenerativen Beziehungen mit einer Freisetzung der Eltern von Nützlichkeitserwartungen eigenen Kindern gegenüber verbunden ist. Kinder (als Individuen) werden so für ihre Eltern zu "sentimentalem Kapital" (Ph. Arieès). Damit haben intergenerative Beziehungen ihren Sozialcharakter vollständig geändert. Der implizite Generationenvertrag, den Eltern (insbesondere Mütter) mit ungeahnter Selbstbindung eingehen, lautet dann etwa folgendermaßen: "Ich lebe (lebenslang und bedingungslos) für Dich, damit Du dann (gegebenenfalls) ebenso für Deine Kinder lebst".
Diesen 'neuen' Generationenvertrag kann man als "Modell der (transzendentalen) GenerationenKaskade" bezeichnen: 'Kaskade' deshalb, weil die Verpflichtungen eher unidirektional die Generationenfolge durchlaufen; 'transzendental', weil Gerechtigkeitsvorstellungen im Sinne eines Ausgleichs von Leistungen und Nutzen in dieser Form von Eltern-Kind-Beziehungen die jeweilige Eltern-Kind-Dyade überschreitet. Ob ein solches Modell von Eltern-Kind-Beziehungen jedoch evolutionär stabil sein kann, ist eine berechtigte, und theoretisch-familiensoziologisch wie sozialpolitisch-praktisch spannende Frage.

Soweit es die Ausgestaltung der Eltern-Kind-Beziehungen betrifft, liest sich das Resümee der empirischen Familienforschung entsprechend anders als das der veröffentlichten Meinung.

Nimmt man den Zeitraum der letzten 40 Jahre als Referenzpunkt und vergleicht ihn mit vorhergehenden Epochen der Lebensverhältnisse von Kindern, so lässt sich folgendes feststellen: Zu keiner Zeit und in keiner Generation zuvor wurden so wenig Kinder geboren, aber auch zu keiner Zeit
  • wurde sich so viel und so intensiv um Kinder gekümmert,
  • wurde so viel an Dienstleistungen, Geld und Besitz auf die nachfolgende Generation transferiert,
  • wurden so wenig Kinder vernachlässigt (oder gar: von ihren Eltern ausgesetzt oder getötet)
  • war der Gesundheits- und Ernährungszustand von Kindern so gut,
  • war die Kindersterblichkeit so gering,
  • kamen so wenig Kinder durch Straßenverkehr ums Leben,
  • waren Selbsttötungen im Kindes- und Jugendalter so selten, und
  • haben so viele Kinder so lange mit beiden leiblichen Eltern zusammengelebt.
Aus den (spärlichen) Zeitreihen von Befragungen geht ebenfalls hervor, dass sich Kinder mit ihren Eltern noch nie so gut verstanden haben wie heute, - sie ziehen auch immer später aus dem Elternhaus aus.

Dieser hier an wenigen Indikatoren aufgezeigte Bedeutungswandel der Eltern-Kind-Beziehung führt dazu, dass die Elternrolle (und insbesondere: die Mutterrolle) zur einzigen lebenslang unaufkündbaren Verpflichtung in modernen Gesellschaften geworden ist, d.h. die normative Verpflichtung der Eltern auf ihre Kinder hat an Akzeptanz ein zu keiner früheren Epoche bekanntes Ausmaß an Verbreitung gewonnen. Erklärungsbedürftig ist also primär nicht die Existenz der Pluralisierung von Lebensformen insgesamt, sondern vielmehr, warum der Verbindlichkeitsgrad der Verpflichtung von Eltern auf ihre Kinder nicht ab- sondern sogar zugenommen hat.

Es ist in der Folge naheliegend, in der hohen gesamtgesellschaftlichen Akzeptanz dieser normativer Erwartungen an die Elternrolle eine wesentliche Ursache für eine Polarisierung der Entscheidung zugunsten 'bewusster' Elternschaft (wahrscheinlich insbesondere für Frauen die konsequenzenreichste Lebensentscheidung überhaupt) oder (zunehmend ebenso bewusster) Kinderlosigkeit. Mit "fortschreitender Individualisierung" werden deshalb Alternativen zur Elternschaft wegen der akzeptiert hohen Konsequenzen an Bedeutung gewinnen. Hinsichtlich des Kollektivguts "Kinder" gewinnt die Option des "free riders" schon wegen der lebenslangen Unaufkündbarkeit der individuellen Eltern-Kind-Beziehung gesteigerte Attraktivität, zumal ein Nebeneffekt dieser Handlungsstrategie auch darin besteht, dass in der Generationenfolge immer mehr ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital auf immer weniger Nachkommen transferiert wird.

Familienbeziehungen und Elternschaft mögen ihren in früheren Epochen möglicherweise gegebenen naturwüchsigen Charakter verloren haben und zu Optionen individueller biographischer Selbstgestaltungsmöglichkeiten geworden sein, die jedoch dann ein zuvor nicht gekanntes Ausmaß an Selbstbindung und -verpflichtung aufweisen. Zwar ist ein Leben auch ohne Ehe und Familie mehr denn je möglich, doch gehört die Familie neben der Gesundheit (nach wie vor und in bemerkenswerter Konstanz) zu den wichtigsten Elementen individuellen Glücks-strebens.

Entscheidend dabei ist jedoch, dass dieses Glücksstreben mit einer außerordentlich geringen Bandbreite an Leitbildern familiären Zusammenlebens verbunden ist: Über Aufgaben und Leistungen der Familie für ihre Mitglieder herrscht in der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft ein außerordentlich hoher kultureller Konsens. Alternative Familienformen sind kaum in Sicht und werden insbesondere auch kaum gelebt. Was Familienmitglieder füreinander sind und was sie in einer Familie voneinander erwarten, darüber bestehen kaum abweichende Vorstellungen, nämlich die Gestaltung eines Lebenszusammenhangs, der durch den gemeinsamen Wunsch zur Fortpflanzung, durch Zuwendung, Pflege und Erziehung der Kinder, durch gemeinsame Haushaltsführung und Erholung, wechselseitige emotionale Stabilisierung der Familienmitglieder und durch gegenseitige Hilfeleistung gekennzeichnet ist. Die Ergebnisse der Kindheitsforschung und der Analysen von gelebten Kindschaftsverhältnissen haben dabei nicht nur belegen können, in welchem Ausmaß Elternschaft an einem kulturell verbindlichen normativen Konzept orientiert ist, sondern auch, dass, wenn Normverletzungen von den Beteiligten konstatiert werden, hohe Anstrengungen unternommen und große Aufwendungen getätigt werden, um sich diesem normativen Standard so weit als möglich (erneut) zu nähern:

So überdauern nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern selten das Vorschulalter der Kinder, sind EinEltern-Familien außerordentlich selten und werden durch Kooptation von Stiefeltern (ebenso wie nach Scheidungen) ergänzt, ist institutionelle oder private Fremdbetreuung (d.h. ohne Beteiligung der leiblichen Mutter) ein zuvor nicht gekannt seltenes Kindschaftsverhältnis; Stief-und insbesondere Adoptiveltern verwenden ihr Regulationspotential in aller Regel darauf, das Kindschaftsverhältnis soweit als möglich dem Normkindschaftsverhältnis anzunähern.

Nur durch die hohe Verbindlichkeit des normativen Musters von Eltern-Kind-Beziehungen wird verständlich, warum unter den gegebenen gesamtgesellschaftlichen Bedingungen Familiengründung zu einer Entscheidung geworden ist, die nicht nur wegen ihrer Dauerhaftigkeit außerordentlich konsequenzenreich geworden ist. Die (von der Gesellschaft insgesamt erwarteten und von den Eltern fraglos eingegangenen) hohen Ansprüche an elterliche Investitionen in ihre Kinder bedeuten nämlich zugleich, dass Familiengründung die Stellung im System sozialer Ungleichheit massiv negativ beeinflusst: Kinder sind unter den gegebenen Bedingungen zu einer Ursache sozialer Ungleichheit ersten Ranges geworden: Kinder-"Besitz" hat als Einzel-Prädiktor für (sinkenden) materiellen Wohlstand die klassischen Indikatoren wie Bildung, Geschlecht, Lebensalter oder Berufsprestige inzwischen ausgestochen und kann in der Kombination mit wenigen anderen Indikatoren (neben den genannten insbesondere: Familienstand) als "sicherer" Faktor in der Abschätzung von Armuts-Risiken gewertet werden.

F.X. Kaufmann (1990; 1995) hat in seinem Buch 'Zukunft der Familie' überzeugend die These herausgearbeitet, dass Gesellschaften, die vom Primat der produktiven Aufgaben geprägt sind und reproduktive Aufgaben in ihrem Selbstverständnis gering bewerten (und z.B. aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ausklammern), indem sie z.B. individuellen Einsatz, Konkurrenz und leistungsbezogene Selektion als konstitutiv für die individuelle Lebensgestaltung ansehen, ein Leben ohne Kinder privilegieren, ohne dass dies von irgend jemand explizit so gewollt war.

Solche Gesellschaften tendieren dazu, Kinder in Sonderumwelten (pädagogische Provinzen) abzudrängen, und sie lassen die (direkten als auch indirekten) Kosten derjenigen, die sich für ein Leben mit Kindern entscheiden, ständig steigen.

  • Die Spanne von regelmäßigen, zwingenden Transferleistungen hat sich durch Ausbildungsverlängerung ständig vergrößert und wird von einer praktisch lebenslangen Asymmetrie in den fakultativen materiellen Transfers begleitet.
  • Die staatlichen Transferleistungen reichen in Deutschland nicht einmal aus, um die Einkommensverluste durch Erwerbsverzicht auszugleichen, geschweige denn, dass sie für Kinderkosten aufkämen; mit der Übernahme der Erziehungsverantwortung für zwei Kinder ist eine durchschnittliche Wohlstandseinbuße von ca. 50 % verbunden; mit jedem Kind ergibt sich eine scherenartige Verschlechterung der Ökonomie von Familienhaushalten: einerseits zunehmende Kosten, andererseits sinkende Arbeitseinkommen.
  • Die staatlichen Transferleistungen für Familien haben mit der Wirtschaftsentwicklung (anders als bei Renten) nicht schrittgehalten, ihr Anteil am Sozialbudget ist in den letzten 35 Jahren relativ kontinuierlich um ein Drittel gesunken.
  • Diese Zusammenhänge fasst Kaufmann in seiner These von der strukturellen Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft gegenüber der Familie zusammen, die sich im Wirtschafts-, Rechts-, Politik-und Bildungssystem gleichermaßen nachweisen lässt.
  • Wer sozialpolitisch an der Frage des Zusammenlebens der Generationen in unserer Gesellschaft ernsthaft interessiert ist, muss erkennen, dass ein relativ radikaler, und keineswegs schmerzloser Umbau der Gesellschaft notwendig ist, der z.B. dem einer ökologischen Erneuerung in nichts nachstehen würde. Die Parallelen sind dabei überdeutlich: Ist es das Ziel einer ökologischen Erneuerung, den Bestand an Rohstoffen und Energie konstant zu halten (und nicht jetzt zu Lasten nachfolgender Generationen - und/oder anderer Gesellschaften - zu verbrauchen), so wäre bei einer familiären Erneuerung zu fragen,
  • wie die Reproduktionsaufgaben innerhalb der Gesellschaft zu lösen sind (sofern man nicht bereit ist, die Geburtenimplosion der Wohlfahrtsgesellschaften dauerhaft durch Bevöllkerungsimporte aus Armutsgesellschaften auszugleichen),
  • wie sinnvoll eine zunehmende gesellschaftliche Arbeitsteilung ist, bei der sich ein Teil der Bevölkerung auf die produktive Arbeit und ein anderer Teil auf reproduktive Aufgaben spezialisiert (insbesondere wenn dies mit nachhaltiger sozialer und regionaler Ungleichheit verbunden ist). Das, was sich gegenwärtig als sozialer Ausdifferenzierungsprozess von Reproduktionsaufgaben aus dem Zentrum in die Peripherie der Moderne vollzieht, ist aus der Sicht dieser Moderne als lean (re-)production zu bezeichnen.
Hier wird nun der Zusammenhang zwischen den endogenen Entwicklungen in den Generationenbeziehungen in modernen Dienstleistungsgesellschaften und der - auch kulturellen -Pluralisierung von modernen Dienstleistungsgesellschaften überdeutlich: Gesamtgesellschaftlicher Wandel, Veränderungen in den institutionellen Teilbereichen des Bildungs- und Beschäftigungssystems, von Ehe und Familie sowie in der individuellen Lebensplanung und -führung können nun in einen kohärenten Erklärungszusammenhang gebracht werden. Damit können die Veränderungen in den individuell-biographischen Entscheidungen wie die zur Familiengründung als Folge langfristiger gesamtgesellschaftlicher Modernisierungstrends gedeutet werden. Hervorgehoben wird in dieser theoretischen Perspektive insbesondere die strategische Bedeutung der Veränderung von Lebensverläufen von Frauen: Sie haben von der Bildungsexpansion in besonderem Maße profitiert und Männer im Erwerb von Bildungszertifikaten inzwischen übertroffen. Zugleich kommt ihren damit steigenden Berufsaspirationen entgegen, dass mit der gesamtgesellschaftlichen Modernisierung eine Tertiärisierung des Beschäftigungssystems verbunden ist, da Berufe im Dienstleistungssektor von Frauen in besonderem Maße nachgefragt werden. Steigende Erwerbsbeteiligung in der Form eigenständiger Berufsbiographien ermöglicht dabei zugleich eine höhere Wahlfreiheit von Frauen in ihrer privaten Lebensplanung insofern, als (Versorgungs-)Ehe und Mutterschaft nicht mehr alternativlos die Normalbiographie bestimmen müssen.

Diese gestiegenen Optionen von Frauen haben ihrerseits insofern Rückwirkungen auf die private Lebensführung, als damit der Zusammenhang von Qualität und Stabilität in Partnerschaft und Ehe enger wird: Von den Beteiligten als 'nicht-erfolgreich' perzipierte Beziehungen bekommen damit ein höheres Lösungsrisiko, ohne dass gleichzeitig unterstellt werden müsste, dass Ehe und Familie an Wertschätzung verloren hätten. Auf der Basis von modernisierungstheoretischen Argumenten ist vielmehr verständlich, dass familiäre Lebensformen an spezifischer Wertschätzung gewinnen: Mit dem Ausdifferenzierungsprozess der privaten Lebensführung aus anderen Tätigkeitsfeldern verändert die Haushaltsproduktion ihren Charakter, indem sie sich auf gemeinschaftliche Reproduktion und Kommunikation spezialisiert, und führt zu einer Veränderung der Beziehungsqualität, als affektuelle Bindungen (mit all ihren Stabilitätsrisiken) damit zunehmend zur zentralen Dimension der Bewertung von Partnerschafts- und Ehequalität werden.

Es ist keineswegs eine Zufälligkeit, dass die Regionen, in denen dieser Wandel der privaten Lebensführung am intensivsten fortgeschritten ist, zugleich die höchsten Ausländeranteile an der Wohnbevölkerung in Deutschland aufweisen und über quantitativ bedeutende ethnische Kolonien verfügen. Vielmehr besteht zwischen der Entstehung individualisierter Milieus einerseits und den ethnischen Kolonien andererseits ein systematischer Zusammenhang. Ein unbestrittener Bestandteil des Modernisierungsprozesses besteht nämlich zwischen der zunehmenden Individualisierung der Lebensverläufe und der Reduktion der Geburten unter ein Niveau, das zur Reproduktion dieser Gesellschaft ausreicht. Dieser Zusammenhang ist sowohl
auf der Ebene der individuellen Modernisierung, als auch auf der Ebene regionaler und internationaler Unterschiede nachweisbar und wird durch regionale Migrationsprozesse weiter verstärkt.

Die Ausgangsthese hierzu ist, dass Bevölkerungsimporte eine wesentliche Bedingung für den "systematischen Trend" zur Individualisierung in anderen Bevölkerungskategorien sind. Eine Zusatz-These ist, dass - unter bestimmten, noch zu benennenden Bedingungen - Bevölkerungsimport ein Mechanismus moderner Wohlfahrtsgesellschaften ist, der erheblich zur Stabilisierung (und nicht etwa: zur Anomisierung) dieser Gesellschaften beiträgt, da er allen Beteiligten im Verteilungskampf um ökonomische und soziale Ressourcen eine positive Bilanz ermöglicht.

Reproduktionsraten unter 1.00 führen dazu, dass für die autochthone Bevölkerung im intergenerativen Prozess ein Überangebot an hochbewerteten Positionen im Vergleich zu nachwachsenden Bewerbern aus dieser Bevölkerung besteht, was eine Sogwirkung bei diesen hochbewerteten Positionen auslöst. Diese Sogwirkung ist umso größer, je niedriger die Reproduktionsrate ist. Dies ermöglicht für die nachwachsende Generation der autochthonen Bevölkerung einen kollektiven Aufstieg, ohne dass hierfür ein ökonomisches Wachstum oder ein Verdrängungswettbewerb notwendig wäre. Unterstützt wird dieser Prozess durch das damit verbundene Zusammenlegen von ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen. Ökonomisch geschieht dies durch die Vererbung von immer mehr Gütern auf immer weniger Erben. Auch die inflationäre Vergabe von Bildungszertifikaten an die Mitglieder der autochthonen Gesellschaft stabilisiert diesen Prozess auf der kulturellen Ebene - allerdings nur, solange diese Zertifikate die Konkurrenz aus den Herkunftsgesellschaften möglicher Zuwanderer nicht fürchten müssen. Sozial hat dieser Prozess eine Kumulierung von Optionen bei der autochthonen Bevölkerung zur Folge, so dass sozialer Aufstieg wahrscheinlich, jedenfalls aber Statuserhalt sicher ist.

Das permanente Freiwerden von Positionen am unteren Ende der Statushierarchie steigert die Nachfrage nach einem Bevölkerungsimport auch unter der Bedingung einer stagnierenden Ökonomie (allerdings nicht: in rezessiven Phasen). Durch diesen Bevölkerungsimport stellt sich somit eine zusätzliche Form der Pluralisierung von Lebenslagen in modernen Gesellschaften ein. Das Spektrum der Lebensstile wird in entwickelten Industriegesellschaften im Verlauf des Modernisierungsprozesses also nicht nur um "individualisiertere" Varianten erweitert, vielmehr wird über den damit einhergehenden Bevölkerungsimport zugleich das Spektrum um traditionale Lebensstile erweitert. Dass sich diese Traditionalisierung der Lebensführung gerade in den urbanen Ballungszentren einstellt, die eigentlich als die Wegbereiter und Vorreiter von Modernisierungsprozessen gelten, hat natürlich zur Folge, dass in solchen Kontexten die kulturellen Antagonismen besonders groß und offenkundig werden.

Vor diesem Hintergrund lässt sich die "Modernisierung der Moderne" auch als eine funktionale Differenzierung zwischen Zentrum und Peripherie in bezug auf die Bevölkerungsreproduktion begreifen. Die Ausdifferenzierung individualisierter Lebensstile mit den daran geknüpften Erwartungen an Optionsvielfalt und Mobilität begünstigt eine Ausdifferenzierung der Reproduktionsaufgaben. Diese Form der regionalen Ausdifferenzierung von Reproduktionsaufgaben lässt sich auf einem Kontinuum regionaler und internationaler Wanderungen abbilden, d.h. Wanderungssalden (Bevölkerungsimporte) indizieren somit zugleich auch immer eine regionale oder internationale Arbeitsteilung in den Reproduktionsaufgaben. Da dies die Sozialisation von Kindern genauso wie die Pflege älterer Menschen betrifft, wird durch die ungleiche Belastung der sozialen Räume mit den Reproduktionsaufgaben die Modernisierungsdifferenz und die soziale Ungleichheit weiter verstärkt. Auf die langfristigen Implikationen dieser Schlussfolgerung für die derzeitige Binnenwanderung zwischen Ost- und Westdeutschland sei hier ausdrücklich verwiesen.

Durch die Ausdifferenzierung der Reproduktionsaufgaben im Modernisierungsprozess - sei es durch regional differentielle Reproduktion, sei es durch selektive Migration - verändern sich schließlich auch die Sozialisationsbedingungen von Kindern systematisch: Für einen zunehmenden Teil der Kinder in modernen Gesellschaften sind die Sozialisationsbedingungen systematisch "unmoderner" als die Lebensbedingungen der Gesamtheit der Erwachsenen. Entsprechend ist für einen steigenden Anteil der nachwachsenden Bevölkerung "nachholende" Modernisierung durch regionale oder internationale Wanderung und durch sich anschließende Eingliederungs- und Akkulturationsprozesse eine erwartbare Entwicklungsaufgabe.

Korrespondenzanschrift:
Prof. Dr. Bernhard Nauck
Institut für Soziologie
Technische Universität Chemnitz
Reichenhainer Str. 41
09107 Chemnitz
bernhard.nauck@phil.tu-chemnitz.de
http://www.tu-chemnitz.de/phil/soziologie/nauck/index.htm

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