Mittwoch, 15. August 2007

Welche Zukunft hat die Ehe



von ARTE Gastautor Prof. Erwin J. Haeberle

„Die Ehe ist heute in einer Krise“, heißt es oft. Wenn das stimmt, worin besteht dann die Lösung? Oder brauchen wir mehrere Lösungen?

Seit es Menschen gibt, hat es - in der einen oder anderen Form - auch die Ehe gegeben. Aber genau das ist der Punkt: Es gab immer mehrere Formen der Ehe, und auch diese verschiedenen Formen haben sich im Laufe der Geschichte immer wieder gewandelt. Lange glaubte man, die moderne „vollkommene Ehe“ habe sich aus primitiven älteren Formen entwickelt: Promiske Horden in grauer Vorzeit hätten nur die Gruppenehe gekannt (jede mit jedem). Aus dieser habe sich dann allmählich die matriarchale Polyandrie entwickelt (eine Frau mit mehreren Männern). Mit dem Aufstieg des Patriarchats sei daraus die Polygynie entstanden (ein Mann mit mehreren Frauen), und aus dieser sei schließlich als Krönung der Kulturentwicklung die Monogamie hervorgegangen (ein Mann, eine Frau).

Doch diese Vorstellung stimmt nicht. Auch in der Vergangenheit hat es immer sowohl die Einehe wie auch die Vielehe gegeben. Schon in der frühesten Menschheitsgeschichte gab es monogame Beziehungen, aber es gab eben auch anderes, und das in einigen Gegenden der Welt für sehr lange Zeit. Dennoch: Die Einehe hat nach und nach überall die anderen Eheformen zurückgedrängt, und das ist kein Zufall. Rein biologisch gesehen halten sich die Geschlechter ja etwa die Waage, d.h. es werden ungefähr immer so viele Mädchen wie Jungen geboren. Wenn es gerecht zugeht, gibt es eben für jede Frau eigentlich nur einen Mann, und für jeden Mann nur eine Frau. Dieses Gleichgewicht wird nur durch gewaltsame Eingriffe gestört, wenn z.B. viele Männer in Kriegen fallen, wenn einige Männer erheblich mehr Macht als andere erringen und diese dann auch sexuell benachteiligen können, wenn massenhaft weibliche Babys getötet oder weibliche Föten abgetrieben werden usw. Solche Gewaltakte sind aber auf Dauer „gegen die Natur“, und so setzte sich im Laufe der Geschichte fast überall eine gewisse sexuelle Gleichberechtigung durch – zunächst unter den Männern, dann aber auch zwischen den Geschlechtern. Ist aber das natürliche Gleichgewicht erst einmal wieder hergestellt, dann bekommt auch die Einehe sozusagen „automatisch“ wieder ihre Chance. Heute spricht vor allem eines für sie: Sie ist die einzige Form der Ehe, in der eine wirkliche Gleichberechtigung der Partner möglich ist.

Lust - Liebe - Ehe
Könnte aber gerade dies nun der Grund für die wachsende Zahl der Ehescheidungen sein? Sind viele Männer immer noch nicht bereit oder fähig, mit einer gleichberechtigten Partnerin zu leben? Für manche klingt das plausibel, aber die wahre Ursache liegt wahrscheinlich tiefer und betrifft Frauen und Männer gleichermaßen: Im Laufe der Moderne haben die Menschen sich angewöhnt, Sex mit Liebe und Liebe mit Ehe gleichzusetzen. Man verdrängt, dass Lust und Liebe oft zwei verschiedene Dinge sind, und dass ein guter Sexualpartner nicht unbedingt auch ein guter Ehepartner ist. Lust darf auflodern und erlöschen; Liebe muss dauern. Vor allem: Eine Ehe muss halten, wenn sie gemeinsamen Kindern gerecht werden soll. Heute wollen aber viele nicht wahrhaben, dass Verliebtheit und sexuelle Anziehung schnell nachlassen können. In früheren Epochen war man da klüger. Man wusste, dass gemeinsame wirtschaftliche Interessen und charakterliche Harmonie auf die Dauer wichtiger sind. Vor allem war allen Beteiligten klar, dass das Wohl der Kinder von der Stabilität der Ehe abhängt, und dass sie vor allem deshalb eine solide Basis braucht. Aus diesem Grunde bestanden die Familien von Braut und Bräutigam auch immer darauf, bei der Eheschließung ein Wort mitzureden. Heute aber werden die Ehen fast immer aus „Liebe“ geschlossen, und die meisten Scheidungen gibt es schon nach wenigen Jahren, wenn die sexuelle Beziehung abgekühlt ist. Dann aber sind die Kinder noch klein und leiden am meisten unter der Trennung.

Das ist aber nicht das einzige Problem: Seit sich die moderne isolierte Kleinfamilie herausgebildet hat, ist auch der Druck auf die Eltern gewachsen. Oft müssen beide arbeiten, um wirtschaftlich zu überleben. So bleibt für die Kinder nicht ausreichend Zeit. Besonders die Frauen werden oft vierfach belastet - als Berufstätige, Hausfrauen, Geliebte und Mütter. Die Großeltern und andere Verwandte wohnen oft weit entfernt und können nicht helfend einspringen. Auch auf die Nachbarn kann man nicht zählen. Die stehen meist selber unter Druck und haben ihre eigenen Probleme. Kurz, es ist für viele objektiv schwerer geworden, ein glückliches Ehe- und Familienleben zu führen.

Dennoch versuchen Frauen und Männer es immer wieder, und viele mit Erfolg. Allerdings tun sie dies nicht immer im vorgegebenen Rahmen. Gleichzeitig sehen wir auch Experimente mit neuen Familienformen – von der „Kommune“ und Wohngemeinschaft bis zur nichtverwandten Großfamilie mit „adoptierten“ Alten, und auch das färbt auf das Wunschbild der Ehe ab. Andererseits wird auch immer deutlicher, dass die Erzeugung und Erziehung von Kindern nicht der einzige Zweck der Ehe ist. Er war es auch nie, denn man hat ja seit jeher Frauen jenseits der Wechseljahre die Heirat erlaubt, ja sie sogar empfohlen. Emotionale und materielle Sicherheit waren also schon immer anerkannte Heiratsgründe.

Neue und alte Lösungen
Für die Komplexität der heutigen Probleme kann es deshalb nicht nur eine einzige Lösung geben. Stattdessen deuten sich verschiedene Auswege aus der jetzigen Krise an. Jeder kennt heute Paare, die offen „ohne Trauschein“ zusammenleben, oft „nur auf Probe“, aber manchmal auch jahrzehntelang. Außerdem gibt es vereinzelt „registrierte Partnerschaften“ für verschiedengeschlechtliche und gleichgeschlechtliche Paare. Und natürlich besteht auch die traditionelle Ehe weiter, oft mit zusätzlichem kirchlichem Segen. Mit dieser Vielfalt haben wir uns wieder den Zuständen im alten Rom angenähert, denn das römische Recht kannte noch verschiedene gültige Eheformen – vom gewohnheitsmäßigen Zusammenleben über eine einfache zeremonielle Heirat bis zur feierlichen Eheschließung mit 10 Zeugen und einem Priester. Je leichter die Ehe zustande kam, umso leichter war sie auch wieder zu scheiden. Insofern waren die alten Römer sehr realistisch.

Diesen wachsenden Realismus finden wir nun im heutigen Europa wieder, und er scheint die besten Chancen für das Überleben der Ehe als Institution zu eröffnen. Oder vielleicht sollte man besser sagen „das Überleben der Ehe in verschiedenen Formen“. Schon Goethe hatte erkannt: „Eines schickt sich nicht für alle“, aber irgendeine rechtliche Absicherung wird von den Paaren schon aus praktischen Gründen immer erwünscht sein, und sie liegt auch im Interesse der Gesellschaft. Nichts kann eine Gesellschaft so stabilisieren wie eine rechtlich anerkannte Paarbeziehung. Die verschiedenen europäischen Länder sind insgesamt nun auf dem Wege, hier die nötige Rechtsvielfalt und damit auch eine abgestufte Rechtssicherheit zu schaffen. Man hat mit den „registrierten Partnerschaften“ schon einen wichtigen Schritt getan, aber am Ende wird man gleichgeschlechtliche und verschiedengeschlechtliche Paare überall gleich behandeln müssen. Auch für die Ersteren wird es die vollgültige Ehe geben, und den Letzteren wird man auch die einfachere „registrierte Partnerschaft“ nicht verwehren wollen. Mit anderen Worten: Um allen gerecht zu werden, werden alle zwischen verschiedenen Eheformen wählen können, und diese Flexibilität wird es erlauben, der Ehe wieder einmal die Zukunft zu sichern.

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