26.8.2001
Die Zukunft der Familie
Paul Kirchhof
Jeder Staat und jede Gesellschaft wird daran gemessen, welche Jugend sie hervorgebracht, welche Prägungen sie der nachfolgenden Generation gegeben haben. Ein Staat ohne eine freiheitsfähige Jugend wäre ein Staat ohne Zukunft. Gegenwärtig müssen wir uns in Deutschland - einem der reichsten, aber auch kinderärmsten Länder der Welt - besonders anstrengen, um in unseren Kindern die Kontinuität unserer Lebensformen zu sichern, unserer hohen wissenschaftlichen, technischen, ökonomischen und politischen Standards zu gewährleisten.
Der freiheitliche Staat gibt seine eigene Zukunft in die Hand der Familie. Er baut auf die elterliche Erziehung, die den Kindern hinreichend Wissen, Selbstbewusstsein, Entscheidungskraft vermitteln soll, um sie auf das Leben in einer freiheitlichen Demokratie, in einer arbeitsteiligen Wirtschaft und in einer Gesellschaft mit hohen technischen und ökonomischen Standards vorzubereiten. Unsere Zukunft hängt davon ab, ob die jungen Menschen bereit sind, eine Ehe zu gründen, die Elternverantwortung für Kinder zu übernehmen und diese in der Geborgenheit familiärer Zuwendung zu erziehen. Das deutsche Grundgesetz stellt deshalb Ehe und Familie unter den "besonderen Schutz der staatlichen Ordnung".
Dieser Schutzauftrag ist gegenwärtig jedoch nur teilweise erfüllt. Die Bereitschaft zum Kind und damit zur Familie wird dadurch gefährdet, dass die moderne Industriegesellschaft Erwerbsort und Familienort strikt getrennt hat. Während im vorletzten Jahrhundert die Menschen in landwirtschaftlichen und gewerblichen Betrieben gleichzeitig ihr Einkommen erzielt und die Kinder erzogen haben, auch die erziehende Mutter damit die Möglichkeit hatte, die in der Arbeit liegt, nämlich jemandem zu begegnen, anerkannt zu werden, Einkommen zu erzielen, stellt heute die räumliche Trennung von Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit die jungen Menschen allmorgendlich vor die schroffe Alternative, entweder zu Hause die Kinder zu erziehen oder aber außer Hauses der Berufstätigkeit nachzugehen. Das von der Verfassung unterbreitete gleichzeitige Angebot von Berufstätigkeit und Erwerbstätigkeit läuft insoweit leer. Sodann haben wir den ökonomischen Wert der Erziehungsleistung entwertet. Der wirtschaftliche Wert des Erziehens liegt in dem Anspruch der Eltern, dass ihre Kinder ihnen in Krisenzeiten - also bei Krankheit, Arbeitslosigkeit, insbesondere im Alter - Beistand und Unterhalt leisten. Diese Unterhalts- und Beistandsansprüche regelt gegenwärtig das Familienrecht. Das Recht der öffentlichen Sozialversicherung aber verpflichtet die Kinder vorrangig, die ehemals Erwerbstätigen und nicht ihre eigenen Eltern durch ihre Beitragszahlung zu finanzieren. In diesem "Generationenvertrag" sind die Eltern - und in erster Linie die Mütter - aus eigenem Recht kaum berechtigt, weil sie zu diesem Vertrag angeblich nichts "beigetragen" hätten. Die Mütter bekommen keinen Lohn, so dass man auch keinen Beitrag abzweigen könnte; sie haben aber zu dem Generationenvertrag das Wesentlichste beigetragen, nämlich die nächste Generation, ihre Kinder. Deshalb verpflichtet das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber für die Regelung der Rentenversicherung, "jedenfalls sicherzustellen, dass sich mit jedem Reformschritt die Benachteiligung der Familie tatsächlich verringert", und dieses Gebot ist gegenwärtig hochaktuell, weil wir wiederum vor einem Reformschritt der Rentenversicherung stehen.
Darüber hinaus ist der Gesetzgeber verpflichtet, im Arbeitsrecht die Durchlässigkeit von Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit zu verbessern, das Steuerrecht familiengerecht und damit zukunftsbewusst zu gestalten, den Kindesunterhalt den modernen Bedürfnissen der Kinder anzupassen, die nicht nur in ihrer Existenz gesichert werden, sondern auch moderne Kommunikationstechniken erlernen und erproben, Kultur- und Sprachfertigkeit entfalten, Sport und Ferien erleben wollen. Im Ergebnis ist ein grundlegender Umbruch unserer Rechts- und Wirtschaftsordnung geboten. So sehr wir uns zu Recht daran freuen, wirtschaftlich, wissenschaftlich, technisch, politisch erfolgreich zu sein, so sehr müssen wir uns auch bewusst machen, dass unsere Zukunft von leistungsfähigen und freiheitsbereiten Kindern abhängt. Viele individuelle Biographien nehmen einen letztlich als unglücklich empfundenen Verlauf, weil die jungen Menschen Jahr für Jahr die sich bietenden Berufschancen wahrnehmen, sie dafür aber den Kinderwunsch aufs nächste Jahr verschieben und dieses Hinausschieben nach den Gesetzmäßigkeiten der Biologie letztlich zu einem endgültigen Verzicht wird. Die Enttäuschung ist dann groß, aber unabänderlich: Den jungen Paaren fehlt das Kind, den älteren Menschen das Enkelkind. Insbesondere unsere Freiheit vom Staat baut auf die enge Bindung und Hilfe unter den Freiheitsberechtigen. Die Wahrnehmung verantwortlicher Elternschaft erübrigt die staatliche Lebensbegleitung des Kindes. Familiärer Unterhalt erspart öffentliche Sozialhilfe. Private Pflege ersetzt die Dienstleistungen von Seniorenheim und Krankenhaus durch persönliche Zuwendung: Der familiäre Dialog macht eine psychologische und therapeutische Beratung überflüssig. Und kein Mensch sollte darauf hoffen, sich im Alter auf einen 1000-Euro-Schein oder eine Aktie stützen zu können; ihm wird es gut gehen, wenn ihn ein Mensch stützt, möglichst ein Mensch, der ihm familiär verbunden ist.
Gäbe es die Ehen und gäbe es die Familien nicht, könnte der Rechtsstaat seine Freiheitlichkeit nicht bewahren, der Sozialstaat würde in seiner Leistungskraft überfordert. Die Generation unserer Kinder kann nur die Kultur entfalten, deren Wurzeln in der Generation der Eltern gelegt und von diesen weitergegeben worden ist. Will sie nicht jeweils das Auto neu erfinden, sondern sich auf dem überkommenen Kenntnisstand weiterentwickeln, so müssen insbesondere die kulturellen Grundlagen von Staat und Recht in der Generationenfolge kontinuierlich erneuert werden. Dazu bieten die Familien das Band zwischen Herkunft und Zukunft, zwischen Stetigkeit und Erneuerung.
Der Gesetzgeber wird deshalb in einer elementaren Neuorientierung die rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen für die Familien festigen und neu begründen müssen. Während bisher unter dem Regime von Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und globalem Wettbewerb alle Aufmerksamkeit dem beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen galt, müssen wir uns heute wieder auf die wesentlichen Wurzeln unserer Existenz besinnen. Wir anerkennen gegenwärtig die Jugend als ein Ideal für Kraft, Gesundheit und Erneuerungswillen. Dieses Ideal kann der Mensch aber letztlich nur verwirklichen, wenn er es nicht auf seine eigene Person bezieht, die den Gesetzmäßigkeiten des Älterwerdens unterliegt, sondern wenn er Kinder hervorbringt, mit ihnen lebt und sich von ihnen anregen und in neue Perspektiven führen lässt. Das Kind verkörpert Erneuerungsfähigkeit und Zukunftshoffnung; Kinderlosigkeit steht für Resignation und kollektive Selbstaufgabe. Dieses zu sagen, ist nicht charmant, vielleicht sogar rücksichtslos gegenüber denen, die aus guten persönlichen Gründen keine Kinder wollen oder keine Kinder haben können. Das Dilemma unserer Gesellschaft ist aber so dramatisch, dass das allgemeine Problem ideeller und materieller Verarmung unseres Gemeinwesens durch wachsende Kinderlosigkeit heute nicht mehr verschwiegen werden darf.
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