Samstag, 5. Mai 2007

Ursula von der Leyen zur Familienpolitik

Der "Ich stelle mich-Prüfstand"

Drei Experten haben die Aussagen von Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen überprüft:
Prof. Lieselotte Ahnert, Entwicklungspsycholgin Dr. Jürgen Borchert, Familien- und Finanzexperte Siegfried Stresing, Bundesgeschäftsführer Deutscher Familienverband

Ursula von Leyen: Der Staat unterstützt Familien durch das Ehegattensplitting mit 19 Milliarden Euro jährlich.

Dr. Jürgen Borchert:
Das ist falsch. Das Ehegattensplitting ist keine Leistung oder Begünstigung für Familien, es setzt nicht einmal Kinder voraus. Ehegattensplitting bedeutet lediglich eine Besteuerung nach Leistungsfähigkeit und trägt der Tatsache Rechnung, dass die Ehe eine Wirtschaftsgemeinschaft ist – alle Einkommen werden rechtlich gesehen gemeinsam erworben. Der Regelfall ist die sogenannte Zugewinngemeinschaft, in der das Erworbene jedem Partner zur Hälfte gehört. Erst ein Familiensplitting, das bei der Besteuerung die Anzahl der Kinder zugrunde legen würde, wäre familienfreundlich.

Ursula von der Leyen: Kinder und nichterwerbstätige Ehepartner sind beitragsfrei in der Kranken– und Pflegeversicherung mitversichert. So unterstützt der Staat die Familien mit 11 Milliarden Euro jährlich!

Dr. Jürgen Borchert:
Falsch! Die "beitragsfreie Mitversicherung" der unterhaltsabhängigen Familienangehörigen in der Kranken- und Pflegeversicherung ist eine Täuschung. Denn im selben Augenblick, in dem es ein beitragspflichtiges Einkommen gibt, entstehen auch Unterhaltsansprüche für den nichterwerbstätigen Ehepartner sowie für die Kinder. Das Geld gehört ihnen. Da die Beiträge in der Kranken- und Pflegeversicherung vom Bruttoeinkommen abgezogen werden, zahlen also auch die unterhaltsberechtigten Familienangehörigen die auf ihren Einkommensanteil entfallenden Beiträge. Von "Beitragsfreiheit" könnte man nur dann sprechen, wenn die Unterhaltsbeträge von der Bemessungsgrundlage für die Beiträge abgezogen würden.

Ursula von der Leyen: Ich bin der Meinung, wir sollten die Kinderbetreuung über Steuern bezahlen – dann zahlen alle in der Gesellschaft - Leute mit Kindern, Leute ohne Kinder, Leute mit höherem Einkommen mehr als mit niedrigen Einkommen. Wir alle sollten die Kinderbetreuung gemeinsam finanzieren, weil die Kinder später für uns alle Verantwortung tragen müssen.

Siegfried Stresing:
Damit ist den Familien nicht wirklich geholfen. Denn man muss genau hinschauen, über welche Steuern staatliche Leistungen überhaupt finanziert werden. Und dann zeigt sich: Während der Anteil der Unternehmens- und Einkommensteuer rapide sinkt, steigt der Anteil an Verbrauchssteuern immer weiter an. Inzwischen haben die indirekten Verbrauchssteuern als staatliche Einnahmequelle die direkten Einkommenssteuern überholt. Aber weil die Verbrauchssteuern wie Mehrwertsteuer und Ökosteuer Familien überproportional belasten - denn sie haben einen höheren Verbrauch und oft ein niedrigeres Einkommen - werden Familien bei diesem Vorschlag eben doch wieder überdurchschnittlich zur Kasse gebeten.

Ursula von der Leyen: In Westdeutschland gibt es momentan nur für jedes zehnte Kind unter drei Jahren ein Betreuungsangebot. Unser Ziel sind 750.000 Krippenplätze. Das wäre ein Angebot für ein Drittel aller Kinder unter drei Jahren und somit europäischer Durchschnitt. Dieses Angebot soll vor allem von Kindern zwischen einem und drei Jahren in Anspruch genommen werden – denn die meisten jungen Familien betreuen im ersten Jahr zuhause, hier greift ja das Elterngeld.

Dr. Jürgen Borchert:
Hier verrechnet sich die Ministerin. Sie schafft de facto Krippenplätze für weit mehr als ein Drittel der Kinder. Denn: Im letzten Jahr gab es 680.000 Geburten, davon rund 100.000 in den neuen Bundesländern, wo der Bedarf an Krippenplätzen gedeckt ist. Bleiben in Westdeutschland etwa 580.000 Neugeborene pro Jahr, also etwa 1,8 Millionen Kinder unter drei Jahren. Ohne die Kinder im Alter von 0 bis 1 Jahr, für die das Elterngeld geschaffen wurde und die laut der Ministerin meist zu Hause betreut werden, gibt es in Westdeutschland in den nächsten Jahren somit zirka 1,2 Millionen Ein- und Zweijährige. Für ein Drittel dieser Kinder, also 400.000, sollen künftig Betreuungsangebote geschaffen werden. Da in den alten Bundesländern laut Bundesfamilienministerium bereits 120.000 Krippenplätze existieren, besteht also nur ein Bedarf an 280.000 Plätzen. Statt rund 500.000 neuen Plätzen brauchen wir also 220.000 weniger. Oder umgekehrt gerechnet: Wenn Frau von der Leyen für 1,2 Millionen Kinder unter drei ein Angebot von 750.000 Krippenplätzen erreichen will, entspräche das einer Versorgungsquote von über 60 Prozent.

Ursula von der Leyen: Ein Drittel der Betreuungsplätze soll bei Tagesmüttern entstehen. Da gilt die Regel, nicht mehr als fünf Kinder pro Tagesmutter gleichzeitig. Das ist eine gute Regel. Um fünf Kinder hat sich früher eine Mutter in der Großfamilie auch gekümmert.

Prof. Lieselotte Ahnert:
Kinder brauchen insbesondere vor dem zweiten Lebensjahr eine ganz individuelle, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Betreuung. Deshalb empfehlen internationale Organisationen und Verbände in diesem Altersbereich eine Betreuung von drei bis vier Kindern pro Betreuungsperson.

Ursula von der Leyen: Viele Mütter haben kostbare Erfahrungen in der Kindererziehung erworben. Wenn ihre Kinder aus dem Haus sind, wollen viele dieser Frauen als Tagesmütter arbeiten. Nachdem sie eine Grundausbildung bekommen haben, wollen wir mit ihnen ein Tagesmütternetz aufbauen, das nach dem Prinzip des Hebammennetzes funktioniert.

Prof. Lieselotte Ahnert:
Moderne Ausbildungsprogramme, ein organisierter Erfahrungsaustausch in einem Verband und regelmäßige Qualitätskontrollen müssen die zentralen Säulen eines Tagesmütternetzes werden. Die Fürsorglichkeit und Sensibilität, die eine fremde Person für die Betreuung eines Kleinkindes aufbringen muss, sind nicht selbstverständlich, sondern auch davon abhängig, wie eingebunden sie in ein Unterstützungssystem ist.

Ursula von der Leyen: In den letzten Jahren hat die Zahl der betrieblichen Kinderbetreuungsangebote zugenommen. Unternehmen spüren, nur mit einer Kinderbetreuung am Betrieb, auf die Bedürfnisse der Eltern zugeschnitten, können sie ihre jungen Mitarbeiter halten. Das Familienministerium wird ab Herbst solche betriebliche Kinderbetreuung fördern.


Siegfried Stresing:
Firmen, die Eltern bei der Betreuung ihrer Kinder unterstützen, haben noch immer Seltenheitswert. Das zeigt zum Beispiel der Unternehmensmonitor 2006, eine Unternehmensbefragung, die vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft durchgeführt wurde. Der zufolge gibt es nur in 3,5 Prozent der Unternehmen einen Betriebskindergarten bzw. eine Krippe oder Belegplätze. Und diese Plätze gibt es vor allem in Großunternehmen. Die große Mehrheit der Arbeitnehmer arbeitet aber in kleineren und mittleren Unternehmen. Ganz unabhängig davon ist der Betriebskindergarten auch kein Allheilmittel: Familienfeindliche Arbeitszeiten werden auch durch eine rund um die Uhr geöffnete Betriebskrippe mit ständig wechselnden Bezugspersonen nicht erträglicher. Und für die Kinder ist oft ein Kindergarten in der Nähe des Wohnortes besser, weil sie hier Kinder aus der Nachbarschaft und spätere Schulkameraden kennen lernen können.

Ursula von der Leyen: Bei der Kinderbetreuung sind kleine Gruppen wichtig. Wir sollten mehr auf altersgemischte Gruppen setzen, so dass Drei- und Vierjährige auch mit Zweijährigen zusammen sind.

Prof. Lieselotte Ahnert:
In der Tat haben sich die altergemischten Gruppen in der frühpädagogischen Praxis sehr bewährt. Leider sind jedoch weder die derzeitigen Bildungspläne der Kindereinrichtungen, noch die Ausbildung der Kindergärtnerinnen auf die Bedürfnisse von Kleinkindern ausgerichtet: Ein angemessenes erzieherisches Handeln kann in diesen Gruppen nicht erwartet werden. Hier gibt es einen hochgradigen Nachholbedarf in der Ausbildung.

Ursula von der Leyen: Das Elterngeld ersetzt bei denjenigen, die für die Kinderbetreuung aus dem Beruf aussteigen, 67 Prozent des vorherigen Einkommens. Und diejenigen, die vor der Geburt des Kindes kein Einkommen hatten, bekommen 300 Euro obendrauf. Das ist gerecht, denn das Elterngeld soll den durch die Kinderbetreuung entstehenden Einkommensverlust ausgleichen. Wir haben das Elterngeld auf ein Jahr reduziert, um ein Signal zu setzen: Für ein Jahr zahlt der Staat sehr viel Geld, damit Vater und Mutter sich in dieser Phase um ihr Kind kümmern können. Nach dieser Zeit kann eines der Elternteile oder beide wieder arbeiten - deshalb auch der Ausbau der Kinderbetreuung. Wenn dann das Einkommen nicht ausreicht, um die Familie zu ernähren, greifen die Sozialsysteme.

Dr. Jürgen Borchert:
Frau von der Leyen erzeugt hier einen falschen Eindruck! Früher haben Geringverdiener zwei Jahre lang 300 Euro Erziehungsgeld bekommen. Das Elterngeld in der gleichen Höhe wird jetzt nur noch 12 Monate gezahlt. Das ist eine Halbierung. Anders sieht es bei den Besserverdienenden aus: Früher haben sie insgesamt 1.800 Euro Erziehungsgeld bekommen – sechs Monate lang jeweils 300 Euro. Heute bekommen sie 1.800 Euro Elterngeld monatlich – ein Jahr lang. Das sind 21.600 Euro. Eine Steigerung um 1200 Prozent! Das Elterngeld hat die Bezieher hoher Einkommen massiv bessergestellt - zu Lasten der sozial Schwachen.

Ursula von der Leyen: Kinder machen nicht arm. Kinder leben in Armut, weil ihre Eltern keine Arbeit haben. Deshalb müssen wir bessere Betreuungsmöglichkeiten anbieten, damit die Eltern es leichter haben, Arbeit zu finden.

Dr. Jürgen Borchert:
Auch hier irrt die Ministerin. Auch wenn die Eltern im Erwerb stehen, droht Kinderarmut. Zum Beispiel lebt eine Facharbeiterfamilie mit zwei Kindern und einem durchschnittlichen Einkommen (30.000 Euro, ein Erwerbstätiger) unter dem Existenzminimum – wegen der hohen Abgaben in die Sozialsysteme. Der auffälligste Befund der zunehmenden Verarmung der Familien in den letzten 40 Jahren ist die Tatsache, dass wir seit 1965 die Geburtenzahl pro Jahr fast halbiert und den Anteil der Kinder in der Armut auf das Sechzehnfache gesteigert haben- obwohl die Müttererwerbstätigkeit um fast 60 Prozent gestiegen ist! Die Zahlen der Sozialhilfeempfänger sind sogar in den Jahren weiter nach oben geklettert, in denen die Zahlen der Arbeitslosen sanken.

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