Freitag, 4. Januar 2008

Wie Richter richtig richten

Der folgende Artikel befasst sich mit der Frage, wie Recht entsteht, nämlich in der täglichen Praxis, nämlich aus der Summe der Entscheidungen der Organe, die Recht sprechen, also die Gerichte, oder Recht ausüben, also die Exekutive. Derjenige, der das Urteil fällt oder die Entscheidung trifft würde den Vorwurf entschieden ablehnen, willkürlich, also in eigenen Ermessen, zu handeln. Er würde sein Tun oder Unterlassen stets auf vorgegebene Rechtsnormen zurückführen, von denen es zumindest zwei gibt:

das kodierte, also geschriebene Recht (Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsanweisungen)
Gewohnheitsrecht (engl. common law)

Hierzu ein Zitat:
Das Recht in Kontinentaleuropa folgt der römischen Tradition und ist gekennzeichnet durch ein kodiertes, also schriftlich fixiertes Recht. Demgegenüber orientiert sich das Recht in den USA am angelsächsischen common law (Gewohnheitsrecht), wie in Kanada und Australien auch, und ist durch Einzelfallentscheidungen von Präzedenzfällen geprägt. Es ist mithin ein sog. Fallrecht, d.h. Gerichtsentscheidungen werden mit Hinweis auf früher ähnliche entschiedene Fälle getroffen. Präzedenzfälle sind insbesondere von höheren Gerichten getroffene Entscheidungen. Weicht der zu beurteilende Fall allerdings in einzelnen Fakten vom Präzedenzfall ab, kann der urteilende Richter neue Auslegungen treffen. Der amerikanische Richter Oliver Wendell Homes fasste dies 1880 so zusammen: „Das common law beruht nicht auf Logik, sondern auf Erfahrung.
Quelle: http://www.usatipps.de/Tips_1/A_-_E/Amercan_Way_of_Life/Amerikanisches_Recht/amerikanisches_recht.html
Dass sich das subjektive Element nicht aus der Rechtsprechung und Rechtsanwendung ausklammern lässt, das die Folgen eines Gesetzes immer nur im Zusammenspiel mit der Rechtskultur in welcher es wirksam werden soll ergeben, das zeigt der folgende Artikel.

Und dieser Artikel führt uns ein Phänomen vor Augen, das auch unsere Gene und deren Interpretation durch die Zellen betrifft. Wir teilen, 99,4% der Gene mit Schimpanse und Bonobo, doch dies ist nur die halbe Wahrheit, die andere Hälfte ist, dass der menschliche Körper andere Gensätze und Abschnitte liest und diese auch teilweise anders interpretiert, als unsere tierischen Verwandten. Somit kann eine Mutation ein Gen, oder aber dessen Interpretation betreffen, so wie z.B. das Mietrecht sich durch Urteile des BGA hinsichtich der Pflicht zu Schönheitsreparaturen dramatisch geändert hat, ohne dass der Gesetzgeber sich in irgendeiner Weise geäußert hätte. Wenn viele Richter und Richterinnen am eigenen Leib die Folgen des väterdiskriminierenden Familienrechts erleiden, kann sich die Rechtssprechung ändern, ohne dass neue Gesetze erlassen oder alte Gesetze überarbeitet werden müssen.

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Januar 2008; Nr. 3 S.36

Wie Richter richtig richten

Was für ein Recht haben wir in Deutschland? Ist es eines, das der Gesetzgeber vorgibt, oder eines, das durch Rechtsprechung geschaffen wird?
Von Walter Grasnick

Was tun Richter? Sie sprechen Recht. Nur: Was das heißt, wissen die wenigsten. Selbst unter den Richtern. Auch in der Rechtstheorie und Juristischen Methodenlehre herrscht darüber keine Klarheit. Meist werden nicht einmal die richtigen Fragen gestellt.

In der Peripherie des Problems, die sie für den Mittelpunkt halten, streiten unverdrossen zwei Parteien. Gemeinsam ist ihnen verhängnisvollerweise aber eines: Beide starren auf das Gesetz. Die eine sucht darin den verobjektivierten Willen des Gesetzgebers. Wer das auch sein mag. Für die andere hat das Gesetz einen eigenen Willen. Beide Willensdoktrinäre aber übersehen, dass es auf den Willen gar nicht ankommt.

Wo und wie auch immer: Rechtsprechung ist für die Willensfetischisten primär der Vollzug fremden Willens. Wobei freilich niemand von ihnen bestreitet, dass der Wille des Richters irgendwie auch eine, wenngleich, wie sie wähnen, lediglich untergeordnete Rolle spielt, sobald der sich nur aufmacht, den Willen des Gesetzgebers oder den Willen des Gesetzes zu erforschen. Tatsächlich aber gibt es nur eines: den Gesetzestext.

Diejenigen, die vergeblich fragen, was der Gesetzgeber denn nun wirklich wollte, sollten von Ludwig Wittgenstein lernen. Alles Nötige steht in einem der berühmten Minidialoge seiner „Philosophischen Untersuchungen". Der Philosoph hat für den, der ratlos fragt: „Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen", die entwaffnende Antwort parat: „Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen." Unterstellt, der Richter könnte den Gesetzgeber persönlich nach dessen gesetzlich formulierter Meinung fragen, bliebe dem nichts übrig, als just seinen Gesetzestext vorzulesen.

Wer sich aber anschickt, nunmehr den Gesetzestext nach der ratio legis zu befragen, der mag von Umberto Eco erfahren: „Lector in fabula" - der Leser steckt in der Geschichte mit drin. Das heißt für uns: „Iudex in lege" - der Richter steckt im Recht mit drin. An ihm, dem Richter, hängt schließlich alles. Und genau auf ihn zielt die allein richtige Wie-Frage, die - das hat uns Niklas Luhmann beigebracht - die regelmäßig unfruchtbare Was-Frage ersetzt. Wir fragen deshalb nicht länger: Was ist Rechtsprechung? Sondern zunächst einmal: Wie arbeiten Richter?

Rechtslehre und Rechtspraxis arbeiten von alters her gesetzeszentriert. Zum Schein, den sie freilich in der Regel selbst nicht durchschauen. Und so geben sie denn regelmäßig gutgläubig vor, sie wendeten nur das Gesetz an, während es sich doch in Wahrheit um ihre Interpretation des Gesetzes handelt. Und die ist nun mal ein anderer Text als der Gesetzestext. Die vielbeschworene Gesetzesbindung des Richters entpuppt sich somit als Selbstbindung, das heißt als Bindung an den selbstgeschriebenen Text der ureigenen Interpretation. Rechtsarbeit ist Textarbeit, Arbeit am eigenen Text mit Hilfe fremder Texte. Diese dienen dem Richter als Referenztexte beim Verfertigen der Begründung seiner Entscheidung.

Das Gesetz ist hier nicht mehr als ein Topos unter Topoi. Zugegebenermaßen noch immer der Haupttopos. Aus allerdings nicht unbedenklichen Gründen. Denn kein Gesetz vermag es, die richterliche Entscheidung zu determinieren. Die bloße Berufung auf das Gesetz überzeugt aber die Rechtssuchenden eher als das offene Eingeständnis des Richters, sein Urteil basiere letztlich auf seiner Überzeugung. Doch mehr als Rechtsmeinungen sind nirgends zu haben.

Wer sich jedoch dazu bekennt, dass unser Recht notwendig Richterrecht ist, sieht sich sattsam bekannten Anwürfen ausgesetzt. Dann sei alles purer Subjektivismus, blanke Beliebigkeit und schrankenlose Willkür. Den Vorwurf des Subjektivismus kann jedoch nur erheben, wer der subjektiven Illusion des Objektivismus erlegen ist. Die anderen Verdikte erledigen sich bei genauerem Hinsehen.

Das hat jüngst Christian Fischer bravourös vorgeführt, detailreich und auf hohem Niveau. Obwohl das gar nicht in seiner Absicht lag. Er wollte vielmehr eine richterliche Praxis aufdecken, die als bloße Auslegung des Gesetzes ausgebe, was, bei Lichte besehen, eine schöpferische Fortbildung des Rechtes sei. Deshalb nennt Fischer seine Habilitationsschrift „Topoi verdeckter Rechtsfortbildung im Zivilrecht" (erschienen bei Mohr Siebeck, Tübingen, 2007).

Nach diesem gelungenen Vorbild wünschte man sich eine Parallelaktion für das Strafrecht. Dann freilich sollte es richtigerweise heißen: „Topoi verdeckter Rechtsprechung im Strafrecht", also nicht länger Rechtsfortbildung. Denn wenn doch Einigkeit darin besteht, dass die Gesetze im Strafrecht wie im Zivilrecht und anderswo nie und nimmer die gesuchte Lösung liefern, weshalb die tradierte Rede von Rechtsfindung völlig verfehlt ist, dann wird mit jeder richterlichen Entscheidung das Recht zuallererst gebildet. Und mit der nächsten weitergebildet. Auf die Rede von „fortgebildet" sollte man verzichten. Der Klarheit halber. Und speziell den Begriff der Rechtsfortbildung dem rechtstheoretischen Reißwolf überantworten. Denn Fortbildung schmeckt leicht nach Seminaren und wird allzu leicht mit Fortschritt assoziiert.

Gewiss: Fortschritt muss sein. Allein für alle Fälle und in jedem Wortsinn entscheidend ist aber ausschließlich Rechtsprechung. Gleichgültig, ob bereits ein Gesetz da ist oder nicht. Man hat sich nur leider daran gewöhnt, die „gesetzlosen" Fälle als solche der Rechtsfortbildung zu deklarieren. Ein purer Etikettenschwindel.
Just mittels dieses Schwindels soll eben gerade verdeckt werden, dass es auch in den alltäglichen, den „normalen" Fällen, in denen es nicht an Gesetzen fehlt und diese auch keine so genannten Lücken aufweisen, nur Richterrecht gibt, dass es allein der Richter ist, der Recht spricht. Und dies auch nicht etwa als Mund des Gesetzes. Diese Metaphern haben ausgedient. So wie die gleichfalls obsolete „Rechtsanwendung . Man kann weit und breit kein Recht finden oder anwenden.

Selbst „Das Recht der Gesellschaft" ist, anders als der Luhmann-Buchtitel leichtfertig suggeriert, kein irgendwie geartetes Etwas. Sondern als sinnbasiertes System nichts anderes als das, was es tut. Es spricht. Hier stimmt einmal die Metapher: Recht ist Rechtsprechung. Wenn Juristen von ständiger Rechtsprechung sprechen, meinen sie eine eingefahrene Rechtsprechung. Aber das Wort sagt mehr. Und sagt es richtig. Recht wird ständig gesprochen. Ohne Rechtsprechung kein Recht.
Fischer hat ja durchaus recht, wenn er fordert, der Mythos, die Richter vollzögen bloß die Gesetze, müsse entmythologisiert werden. Doch damit ist die Arbeit nicht getan. Zu ihr gehört nicht minder dringlich, den Begriff des Gesetzesrechts zu entsorgen. Dann hätten wir uns auch dem „Würgegriff der Dichotomie" (Hila-ry Putnam) von Gesetzesrecht und Richterrecht endlich entzogen.

Die mitunter geäußerte Sorge, wir steuerten dann geradewegs in einen Richterstaat, ist gegenstandslos. Denn den haben wir längst. Ohne dass der Rechtsstaat auf der Strecke geblieben wäre. Den ruinieren weder Gesetze noch Richter für sich allein. Allenfalls beide zusammen. Und das auch nur, wenn wir dabei mitmachen.

Walter Grasnick lehrte öffentliches Recht in Marburg.

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