Mittwoch, 9. Januar 2008

Die Natur der Geschlechter, Vers. 3 Dietrich Klusmann

Die Natur der Geschlechter

Vortrag gehalten auf der 21. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung in Hamburg, 26.9.2003

Die Natur der Geschlechter kann man in ihrer Ontogenese und in ihrer Phylogenese untersuchen. Die Ontogenese ist die Entwicklung der befruchteten Keimzelle entweder zu einem weiblichen oder zu einem männlichen Phänotyp. Aus der Keimzelle entsteht ein weiblicher Phänotyp, wenn nicht durch einen winzigen Abschnitt auf dem y-Chromosom, das SRY-Gen, eine Kaskade hormoneller Prozesse in Gang gesetzt wird, die eine männliche Entwicklung einleitet. John Money hat acht Ebenen der ontogenetischen Entwicklung der Geschlechtsdifferenzierung unterschieden und ich nehme an, dass die entsprechenden Vorgänge und ihre Störbarkeit in dieser Zuhörerschaft gut bekannt sind. Weniger bekannt, vermute ich, ist die Einsicht in die Natur der Geschlechter, die uns das Wissen über die Phylogenese vermittelt, also die Evolutionsgeschichte der Zweigeschlechtlichkeit und der damit verbundene geschlechtsspezifische Verhaltenssteuerung. Darauf wird sich mein Vortrag konzentrieren.
Ich möchte zwei Fragen beantworten:

1. Gibt es einen Fortpflanzungstrieb?
2. Dient Sexualität der Fortpflanzung?

Je nach Verständnis dieser Fragen, muss die Antwort ja oder nein lauten. Ich werde zeigen, dass das tiefere Verständnis zu der Antwort nein auf beide Fragen führt.

Das Warum der Gefühle

Der Psychologe William James stellte schon um die Jahrhundertwende die evolutionspsychologische Grundfrage, indem er nach dem Warum instinktuellen Verhaltens fragte. Er betrachtete Gefühle nicht als letzte Erklärungsgründe, sondern als Phänomene, die durch Vorgänge erklärt werden müssen, welche selbst keine Gefühle sind. Die Forderung William James´, das Natürliche als erklärungsbedürftig anzusehen(James 1890, S.261) endet mit den Worten:

„It takes (...) a mind debauched by learning to carry the process of making the natural seem strange so far as to ask for the why of any instinctive human act".

Das Wort "debauched" heißt so viel wie "zügellos", "verführt". Das Natürliche der menschlichen Natur nicht einfach als undurchsichtige Grundtatsache hinzunehmen, sondern erklären zu wollen, wird heute zwar nicht als ein Zeichen von Zügellosigkeit angesehen, stößt aber oft auf Widerstände. Der Biologe Alexander (Alexander 1987) hat behauptet, unser moralisches Selbstverständnis sei geradezu darauf angewiesen, dass die Ursprünge mancher Gefühle nicht genauer betrachtet werden. Dazu gehört vielleicht auch das folgende Missverständnis:
Die meisten Paare schlafen mitnichten miteinander aus der kühlen Berechnung heraus, Kinder zeugen zu wollen; sie vermehren sich eher durch Zufall. Im Bett besiegen die freudianischen Triebe die darwinistischen Mechanismen. Quelle: Steve Jones, Genetiker, Interview im Spiegel 38/2003

Man kann dieses Zitat so zusammenfassen: "Wir brauchen keine darwinschen Mechanismen, uns macht Sex einfach Spaß". Wenn wir jedoch verstehen wollen, warum uns die Fähigkeit, Spaß am Sex zu haben, überhaupt gegeben ist, kommen wir an darwinschen Mechanismen nicht vorbei; sie sind weder etwas völlig anderes als freudianische Triebe noch verdanken sie ihre Kraft kühler Berechnung.

Gefühle sind für Evolutionspsychologen Mechanismen, die uns dazu drängen, das zu tun, was den Reproduktionserfolg unserer Vorfahren begünstigte. Man könnte sich allerdings auch Organismen vorstellen, die keine Gefühle haben, die durch einen dumpfen, sich nach Nichts anfühlenden Drang zu den Dingen getrieben werden, die sie tun müssen, um ihre Reproduktionschancen zu maximieren. Solche gefühlsfreien Antriebe vermuten wir bei
Insekten und bei Außerirdischen, aber wir können uns nicht vorstellen, dass Säugetiere und Vögel so funktionieren. Von uns selbst wissen wir natürlich, dass unsere Gefühle sich nach etwas anfühlen. Sexuelle Motivation fühlt sich an: als ein Wunsch, ein Begehren. Solche Gefühle sind nur möglich, wenn es ein Gehirn gibt, dessen Ausstattung darauf eingerichtet ist, das Gefühl als neuronales Erregungsmuster zu erzeugen. Sexuelles Begehren ist durch die Architektur des Gehirns ermöglicht und in seiner Gestalt vorgeprägt ebenso wie Angst, Wut und Freude. Der Grund, weshalb wir unsere Antriebe als Gefühle erleben, hat vermutlich etwas mit der Funktion des Bewusstseins zu tun, alle wichtigen aktuellen Zustände des Gehirns fortlaufend verfügbar zu machen um damit eine Handlungssteuerung zu ermöglichen, die gerade durch die Repräsentation innerer Zustände besonders effektiv ist (Baars 1997).

The adapted mind

Der Philosoph John Locke beschrieb im 16. Jahrhundert die menschliche Psyche als eine unbeschriebene Schiefertafel, The Blank Slate. Heute weiß man, dass diese Vorstellung falsch ist: wir werden mit einer Vielzahl von Programmen geboren, die uns bewegen, bestimmte Dinge leichter zu lernen als andere und bestimmte Gefühle eher zu haben als andere(Pinker 2002). Was steht also auf der Schiefertafel, wenn sie nicht leer ist? Das Gehirn hat sich ebenso wie alle anderen Organe in der Evolutionsgeschichte als Adaptation an Anforderungen der Umwelt entwickelt. Daher sind bereichsspezifische, mentale Module zu erwarten, die als Lösungen für die immer wieder kehrenden typischen Probleme des Lebens in menschlichen Gruppen entstanden sind. Einige dieser Programme sind neuropsychologisch schon gut untersucht, wie zum Beispiel die mentalen Module zum Spracherwerb oder zum Erkennen von Gesichtern, andere, die uns hier mehr interessieren, sind in ihren neuropsychologischen Korrelaten weniger geklärt, wie zum Beispiel der motivationale Apparat zu Partnersuche Bindung und sexueller Motivation (Fisher et al. 2002). Alle Programme zusammen bilden ein System, das im Englischen als The Adapted Mind bezeichnet wird. Der Grundgedanke der Evolutionspsychologie ist diesem Begriff zusammengefasst.

Natürliche Selektion

Der Biologe John Maynard Smith sagt über das Prinzip der natürlichen Selektion: "Es ist kaum zu glauben, dass eine so einfache Idee die Komplexität um uns herum erklären kann" (Maynard Smith and Szathmary 1999). Tatsächlich ist die Idee einfach, allerdings nicht so einfach, als dass sie mit der Faustformel "The Survival of The Fittest“ korrekt ausgedrückt wäre. Diese Formel hat der Biologe und Zeitgenosse Darwins, Herbert Spencer, vorgeschlagen und trotz Darwins Skepsis verbreitet. "The Survival of The Fittest" ist eine Tautologie, denn wenn natürliche Selektion dazu führt, dass die Fittesten überleben, Fitness aber durch die Fähigkeit zu überleben definiert ist, dann müssen die Überlebenden zwangsläufig die Fittesten sein. Ein Verständnis des Begriffs der Fitness als Reproduktionserfolg bringt auch keinen Ausweg aus der Tautologie. Wenn man schon nach einer Faustformel sucht, dann wäre eine bessere Alternative die von Richard Dawkins vorgeschlagene Formel "Das selektive Überleben von Genen". Aber auch, wenn die Theorie einfach ist, gibt es keinen Grund, sie in eine Faustformel zu pressen.

Ein adäquates Verständnis setzt voraus, dass wenigstens drei Merkmale betrachtet werden: Vermehrung, Variation und Erblichkeit.

Lebewesen vermehren sich durch Zellteilung. Sie sind nicht alle gleich, weil Mutationen und sexuelle Rekombination die Genome verändern und damit eine Variation erzeugen, die durch den genetischen Code vererbt wird. Die durch Widernisse der Umwelt (Klima, Nahrungsangebot, Raubtiere, Parasiten) entstehende Selektion sorgt dafür, dass manche Varianten besser in der Lage sind, sich zu vermehren als andere und aus diesem Grunde ihre genetischen Merkmale in der nächsten Generation häufiger anzutreffen sind. Diese selektive Vermehrung von Genen ist der Kern des Evolutionsprozesses. Der Mechanismus ist einfach, aber die Konsequenzen können sehr vertrackt sein, auf den ersten Blick sogar verwirrend, wie z.B. die Beobachtung, dass Löwenmännchen oft danach trachten, die Jungen ihrer eigenen Art zu töten, wenn sie gerade einen Harem erobert haben. Den Männchen ist anscheinend daran gelegen, möglichst schnell mit den nach dem Verlust wieder fruchtbar gewordenen Weibchen eigene Nachkommen zu zeugen. Der angeborene motivationale
Mechanismus, der sie zu diesem Verhalten treibt, erscheint egoistisch: er fügt den Weibchen Schaden zu und trägt nicht gerade zur Erhaltung der Art bei.

Gene eye view

Der Fokus auf das Weiterkommen von Genen erleichtert auch die Einsicht in eine Auffassung der Evolution, die als "the gene eye view" bekannt geworden ist. Der viktorianische Biologe J. Butler hat seinerzeit schon festgestellt, dass man die Henne auch als die Methode eines Eies betrachten kann, ein weiteres Ei zu erzeugen. Diese kontraintuitive Sichtweise ist keinesfalls weniger rational als die uns vertraute, in der wir von der Henne ausgehen und im Ei ihre Methode sehen, eine weitere Henne zu erzeugen. Der Gedanke Butlers wird plausibler, wenn man bedenkt, dass die ersten replikationsfähigen Moleküle eine Schutzhülle um sich herum aufbauten, die dafür sorgte, dass die für die Replikation notwendigen Vorgänge im Inneren ungestört abliefen. Diese Schutzhülle ist der Ursprung der ersten einzelligen Organismen, die ursprünglich kaum mehr als Hilfskonstruktionen für die Replikation von Molekülen waren. Wir sind also Überlebensmaschinen für unsere Gene – eine Sichtweise, die Richard Dawkins Ende der 70er Jahre in dem damals kontroversen Buch "Das egoistische Gen" populär gemacht hat (Dawkins 1996).

Sexuelle Selektion

Darwin hat schon früh bemerkt, dass natürliche Selektion als Anpassung an die ökologischen Verhältnisse an das Klima, das Nahrungsangebot, Raubtiere und Parasiten nicht genügt, um Merkmale zu erklären, die, ginge es nur ums Überleben, ganz unsinnig wären, wie z.B. das riesenhafte Geweih des irischen Elchs oder der lange Schweif des Paradiesvogels. Diese extravaganten und kapriziös erscheinen Ornamente, die eher ein Handikap darstellen, als dass sie ihren Trägern nützen, sind Produkte eines Evolutionsprozesses, der nicht vom Kampf ums Überleben angetrieben wird, sondern vom Kampf um Fortpflanzungschancen. Was nützt es aus evolutionärer Sicht einem Tier zu überleben, wenn es bei der Werbung ständig zurückgewiesen wird und deshalb seine Gene nicht weitergeben kann?

Darwin hat zwei Prozesse der sexuellen Selektion unterschieden:

  • Männlicher Wettstreit und
  • weibliche Wahl.

Männlicher Wettstreit leuchtete seinen Zeitgenossen sofort ein, aber weibliche Wahl war sogar Darwins enthusiastischen Anhängern suspekt. Es dauerte lange Zeit, bis in der Evolutionsbiologie akzeptiert wurde, dass tatsächlich sehr viele Eigenschaften von Männchen durch die Präferenzen der Weibchen geformt worden sind (Miller 2000). Wie konnten sexuelle Ornamente wie das Rad des Pfaus entstehen? Der Biologe Fischer fand darauf in den 30er Jahren eine Antwort: Er nahm einen Runaway-Prozess an, bei dem das männliche Ornament und die weibliche Präferenz sich in einem koordinierten Evolutionsprozess aufschaukeln. Wenn erst einmal eine Situation entstanden ist, in der einige Weibchen nur das Männchen mit dem jeweils prächtigsten Gefieder bevorzugen und dann von diesen Männchen Söhne bekommen, die ebenfalls ein prächtiges Gefieder haben und Töchter, die ihre Präferenz erben, dann wird die Entwicklung aufwendiger Ornamente nur noch begrenzt durch das Handikap, das sie ihrem Träger z.B. bei der Flucht vor Raubtieren auferlegen.

Dass solche Runaway-Prozesse tatsächlich als eine Ursache für die Entwicklung sexueller Ornamente in Frage kommen, konnte bisher jedoch nur an wenigen Fällen empirisch gezeigt werden (Sigmund 1993). Der zweite Prozess der Erklärung sexueller Selektion steht auf einer solideren Grundlage: Es sind die unmittelbaren Vorteile einer richtigen gegenüber einer falschen Wahl angesichts der kostbaren, nicht beliebig oft wiederholbaren Investition eines Weibchens (Birkhead 2000; Moller and Swaddle 1997). Dazu müssen jedoch die Signale glaubwürdig sein, sie müssen tatsächlich das ausdrücken, was ein Weibchen gebrauchen kann, vor allem gute Gene und männliche Ressourcen, die für ihre Nachkommenschaft nützlich sind. Die Glaubwürdigkeit von Werbesignalen im Tierreich basiert durchweg auf den hohen Kosten der Erzeugung dieser Signale. Ein Elch, dem in kurzer Zeit ein riesenhaftes Geweih wächst, muss sehr gesund und fit sein, sonst könnte sein Körper diese Verausgabung von Energie und Substanz nicht leisten. Ebenso steht es mit dem schimmernden, bunten Gefieder eines Vogelmännchens, das nur schön sein kann, wenn sein Träger fit ist und vor allem frei von Parasiten. Der israelische Biologe Zahavi (Zahavi 1997) hat als erster dieses Handikap-Prinzip beschrieben. In den 70er Jahren noch belächelt ist es heute ein akzeptierter Erklärungsgrund für viele Phänomene auch außerhalb der Partnerwerbung. Wenn z.B. eine Gazelle beim Anblick eines Löwen mehrfach steil in die Höhe springt, macht sie sich sichtbar, gibt sich also ein Handikap, zeigt aber gleichzeitig, dass es sich nicht lohnt sie zu verfolgen, weil sie ziemlich fit ist. Ihre Fitness kann sie nur zeigen, wenn sie sich das Handikap gibt.

Das demonstrative Vorzeigen der Fähigkeit zu verschwenden gehört auch zum menschlichen Werbeverhalten. Der amerikanische Soziologe Veblen hat in seiner Charakterisierung der amerikanischen Gesellschaft den Begriff conspiscious consumption dafür geprägt - man denke nur an die Sports Utility Vehicles mit ihren mächtigen Stoßstangen und Reifen, die sich selten im rauen Gelände bewähren müssen, dafür aber umso mehr die Robustheit und die Ressourcen des Besitzers signalisieren.

Auch wenn im Tierreich meist das Weibchen die Wahl hat, ist diese Rolle nicht automatisch an das Geschlecht gebunden. Generell gilt die Regel: Das Geschlecht mit der größeren Investition wählt und das Geschlecht mit der kleineren Investition rivalisiert. Wenn, wie beim Seepferdchen, das Männchen die größere Investition in die Brutpflege leistet, dann hat es auch die Wahl zwischen weiblichen Kandidaten. Unsere nächsten Vorfahren waren vermutlich überwiegend monogam, so wie Biologen den Begriff verstehen, nämlich als paarweise Kooperation beim Aufziehen des Nachwuchses, egal ob sexuelle Treue herrscht oder nicht. Polygynie war vermutlich immer möglich, aber nicht viele Männer konnten sich das leisten. In der heutigen Welt ist auch in Kulturen, die Polygynie erlauben, die Einehe das häufigste Modell. So gesehen ist die typische tatsächlich erbrachte Investition von Mann und Frau ungefähr gleich, wenn es um die langfristige Perspektive geht, denn beide Geschlechter sind mit ihren Ressourcen durch die lange Dauer der kindlichen Abhängigkeit gebunden. Daher ist sowohl männliche als auch weibliche Wahl zu erwarten und sowohl männlicher als auch weiblicher Wettstreit um die besten Partner. Zusätzlich gibt es jedoch eine Asymmetrie, die darin besteht, dass die minimale Investition einer kurzfristigen Paarung ohne anschließende Fürsorge, also ein Reproduktionsvorteil ohne viel Investition, für Männer leichter möglich ist als für Frauen. Allerdings zahlt es sich auch für Frauen unter dem Reproduktionsgesichtspunkt aus, für eine breite Palette genetischer Variation in der Nachkommenschaft zu sorgen und hier hilft eine weitere Asymmetrie: Mutterschaft ist sicher, Vaterschaft nicht.

Teleologische Kurzschrift

Ein Hindernis beim Verständnis evolutionsbiologischer Überlegungen ist oft die sprachlich saloppe sprachliche Formulierung der Zusammenhänge in einer Form, die man als animistisch, anthropomorph oder teleologisch bezeichnen kann. Beispiele: Ein Weibchen wählt Männchen danach aus, ob Anzeichen für gute Gene vorhanden sind, oder: ein Gen ist egoistisch. Richard Dawkins hat diese Redeweise als teleological shorthand bezeichnet. Sie ist in der Wissenschaft verbreitet, z.B. können Chemiker salopp sagen, dass ein Molekül hydrophob ist. Jeder Chemiker und auch die meisten Laien würden nicht wirklich glauben, dass Moleküle Angst vor Wasser empfinden. Ein Gen ist auch ein Molekül; doch in diesem Fall scheint es viel schwieriger zu sein, die metaphorische Natur des Attributs egoistisch zu erkennen. Viele nehmen die Behauptung, ein Gen könne seine eigenen Interessen verfolgen, tatsächlich ernst und damit ist für sie die ganze Theorie diskreditiert, denn es ist Unsinn, einem Gen Intentionen zuzuschreiben. Warum kann dieses Missverständnis entstehen?

Vielleicht liegt der tiefere Grund in der unterschiedlichen Behandlung der unbelebten und der belebten Welt, die in unserer Psyche tief vorgeprägt ist; man kann sie schon bei Kleinkindern beobachten (Lakoff 1987). Von einem Stein erwarten wir, dass er sich nicht von selbst fortbewegt. Bei einem Vogel ist es etwas anderes, wir werden nicht überrascht sein, wenn er plötzlich auffliegt, weil er zur belebten Welt gehört. Dinge, die zur belebten Welt gehören, können Intentionen haben, die erklären, warum sie sich so oder so verhalten. Vermutlich wird das Gen eher zur belebten Welt gerechnet als das hydrophobe Molekül, obwohl es ebenfalls ein Molekül ist. Doch es gehört irgendwie auch der belebten Welt an und damit wird scheinbar ein Interpretationssystem anwendbar, das die Frage aufwirft, ob das Gen nicht vielleicht tatsächlich von Intentionen angetrieben wird so wie andere belebte Wesen auch. In Wirklichkeit wird der Reproduktionserfolg oder –misserfolg von Genen jedoch durch Selektionsvorgänge geregelt, die dafür sorgen, dass Gene, die durch ihre Wirkungen ihre eigene Reproduktion begünstigen, in Zukunft häufiger werden, egal ob dadurch andere Gene, der Phänotyp oder die Art beeinträchtigt werden. Es ist dieser Umstand, der in dem metaphorischen Attribut egoistisch zum Ausdruck kommt.

The past explains the present

Der Titel eines einflussreichen evolutionspsychologischen Artikels lautet "The past explains the present" (Tooby and Cosmides 1990). Das ist eigentlich das Prinzip jeder Erklärung, sieht man einmal von den Besonderheiten des Zeitbegriffs ab, mit dem sich die Physik beschäftigt. Und doch ist diese Binsenwahrheit, wonach das Explanans dem Explanandum voranzugehen hat, keineswegs selbstverständlich. Im normalen Alltagsleben sind wir durchaus gewöhnt, Absichten und Ziele als Ursachen gelten zu lassen und somit scheinbar die Ursache in die Zukunft zu verlegen. Intentionen können Ursachen sein, wenn z.B. ein Mann eine Frau für sich gewinnen möchte und seine Handlungen durch dieses Ziel zu erklären sind. Im täglichen Umgang können also Pläne als Ursachen gelten, auch wenn das Wort Ursache dann nicht die gleiche Bedeutung hat wie in den Naturwissenschaften. Die Evolutionstheorie als Teil der Naturwissenschaften kann Pläne als Ursachen nicht gelten lassen und in der Tat hat die Evolution kein Ziel und keinen Plan. Alles, was sich entwickelt, ist nur aus der Gewordenheit heraus zu verstehen. Daher muss die Erklärung für evolvierte Motive in der Vergangenheit liegen und Motive, die früher einmal vorteilhaft waren, können in der Gegenwart einen Nachteil bedeuten, wie z.B. die Vorliebe für süße und fettreiche Nahrung.

Gibt es einen Fortpflanzungstrieb?

Ich komme nun zu der ersten Frage: Gibt es einen Fortpflanzungstrieb? In einem Tierfilm im Fernsehen war einmal zu sehen, wie ein Hirsch Rivalen verjagte und dann mit einer Hirschkuh kopulierte. Der Kommentar: "Der Hirsch wird jetzt für den Stress der Brunftzeit dadurch belohnt, dass er seine Gene weiter geben kann".

Dass der Hirsch eine Belohnung empfindet, ist ziemlich wahrscheinlich, denn als hoch entwickeltes Säugetier hat er gewiss ein ähnliches Belohnungssystem wie wir Menschen auch. Aber dass der Grund für sein Wohlgefühl in einer Genugtuung darüber liegt, seine eigenen Gene weiter gegeben zu haben, ist zu bezweifeln. Er wird vielleicht so etwas wie Befriedigung empfunden haben, als er den Rivalen vertrieb und sein sexuelles Belohnungssystem hat ihm vielleicht ähnliche Lustgratifikationen verschafft, wie wir sie in unserem Sexualleben kennen, doch die Genugtuung, etwas für seine Gene getan zu haben, bleibt ihm verschlossen, denn so weit reicht seine Repräsentation der Welt um ihn herum nicht. Er führt einzelne evolvierte Verhaltensprogramme aus, die an Belohnungssysteme gekoppelt sind und normalerweise so zusammenspielen, dass Fortpflanzung die Folge ist. Der Grund für dieses Verhalten ist nicht ein Interesse an der Vermehrung der eigenen Gene, sondern ein viele Generationen in die Vergangenheit zurückreichender, evolutionärer Selektionsprozess für motivationale Mechanismen, die auf bestimmte Situationen zugeschnitten sind.

Wahrscheinlich hat der Hirsch eine Art von Verständnis dafür, was es bedeutet, wenn ein Rivale am Rande der Lichtung auftaucht, ein Verständnis, das wir als Menschen nachvollziehen können. Immerhin können diese Tiere sich selbst und ihre Rivalen gut einschätzen und sie treffen normalerweise eine der eigenen Stärke angemessene Entscheidung über Angriff oder Rückzug. Der mentale Apparat, der die Wechselfälle des Konkurrenzkampfes kontrolliert, kann nicht aus einem rigiden Reiz-Reaktionsprogamm bestehen, er ist flexibel und lernfähig - gerade diese Qualität trägt zum Fortpflanzungserfolg bei.

Zwar gehört ein solches Programm zu den Voraussetzungen dafür, dass am Ende die Fortpflanzung gelingt, man kann es aber kaum als Fortpflanzungstrieb bezeichnen, denn es richtet sich nicht konkret auf Fortpflanzung, sondern auf möglichen Kampf. Überdies muss das Tier, um überhaupt die Bühne des Fortpflanzungsgeschehens betreten zu können, schon zuvor motiviert gewesen sein, sich gut zu ernähren und Gefahren aus dem Wege zu gehen. Auch diese Motive müssten zu einem Fortpflanzungstrieb hinzugerechnet werden, wenn ein solches Konzept überhaupt einen Sinn ergeben soll. Am Ende wäre jeder Antrieb zum Fortpflanzungstrieb zu rechnen, denn vererbbare Antriebe, egal welcher Art, die den individuellen Reproduktionserfolg letztlich nicht steigern, sondern vermindern, müssen zwangsläufig, ebenso wie körperliche Merkmale, für die diese Aussage gilt, im Genpool seltener werden und schließlich verschwinden. Der Reproduktionserfolg ist also das letzte Kriterium für den Bestand eines genetisch vererbbaren motivationalen Mechanismus. Daraus folgt jedoch nicht, dass die Evolution Perfektion hervorbringt, denn weder kann sie die
Anpassungserfordernisse zukünftiger Umwelten antizipieren, noch erlauben die Mechanismen der Vererbung das völlige Verschwinden von Merkmalen, die die Fitness vermindern, z.B. wenn, wie im Fall der Sichelzellenanämie, der heterozygote Typ den beiden homozygoten Typen überlegen ist.

Motivationale Mechanismen können sich nur in konkreten Situationen auf konkrete Verhaltensalternativen richten. Das Ziel, die eigenen Gene weiterzugeben, ist nicht konkret genug, als dass sich dafür in der Evolutionsgeschichte ein spezielles Motiv hätte entwickeln können. Tatsächlich kommt die Natur sehr gut ohne ein Globalmotiv zur Fortpflanzung aus, ähnlich wie man eine Reise antreten kann, ohne das Ziel zu kennen, nur mit dem Wissen, zunächst einmal von A nach B zu fahren, wo man den Wunsch verspürt, C zu erreichen und so weiter, bis man irgendwann, ohne es zu Anfang intendiert zu haben, in Z ankommt.

Kinderwunsch

Nach dem bisher gesagten, wird in der Biologie die Existenz eines eigenständigen Fortpflanzungsmotivs bestritten. Auf das menschliche Verhalten bezogen folgt daraus, dass der Motivkomplex, der das Sexualverhalten regelt, nur die Anweisungen für eine einzelne Phase im Fortpflanzungsgeschehen gibt. In evolutionärer Zeit hatten vermutlich nur jene Individuen gute Fortpflanzungschancen, die Ressourcen erwerben und Status erringen konnten. Er oder sie musste sich auch attraktiv machen für das andere Geschlecht durch Besitz, Schmuck, einfallsreiche und ansprechende Kleidung, die Beherrschung von Kulturtechniken wie Redegewandtheit oder durch andere kostspielige Signale, die bei der Werbung die Chancen verbessern. Die Motivation zu diesen Verausgabungen ist an ein Belohnungssystem gekoppelt, das uns für die Erreichung solcher Ziele eine Befriedigung verschafft. Der motivationale Komplex, der Partnerwahl und Bindung umgibt, hat wieder andere Ziele und Gratifikationen. Hier geht es um den Wunsch, beachtet und geliebt zu werden, um die Höhen und Tiefen von Bindung, Rivalität und Trennung. Dieses motivationale System verdankt seinen Ursprung vermutlich per Funktionswandel dem System, das ursprünglich die Mutter-Kind-Beziehung regulierte (Eibl-Eibesfeldt; Zeifman and Hazan 1997). Entwicklungsgeschichtlich noch älter ist das System der sexuellen Motive, die mit dem Bindungssystem in der Regel, aber nicht zwangsläufig koordiniert sind. Auch dieses System hat seine eigenen Gratifikationen. Schließlich besitzen wir noch angeborene Motive zur Fürsorge für Kinder und Heranwachsende. Auch hier kann man von einem relativ selbstständigen Motivkomplex sprechen, dessen Befriedigungsquellen nicht leicht durch irgendeine andere zu ersetzen sind. Man könnte jetzt noch weitere, relativ autonome Motivkomplexe beschreiben, doch für eine grobe Skizzierung reichen die genannten aus. Wenn im Laufe der Lebensgeschichte diese Motive zusammenwirken, ist Fortpflanzung fast unvermeidlich, es sei denn, die Sequenz wird an irgendeiner Stelle unterbrochen. In moderner Zeit ist das leicht möglich, besonders beim Übergang von Sex zu Elternschaft. Unsere Vorfahren in evolutionärer Zeit brauchten kein eigenständiges Motiv, Nachkommen zu haben. Es gab zwar ein Motiv, Kinder zu schützen, für sie zu sorgen und freundlich zu ihnen zu sein, der Wunsch nach Nachkommen aber lag vermutlich schon immer auf einer höheren Ebene der kognitiv-emotionalen Steuerung, jedenfalls nicht auf der gleichen basalen Ebene wie sexuelles Begehren oder die Reaktion auf das Kindchenschema. Da häufiger Sex noch bis in die jüngere geschichtliche Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Schwangerschaft führte, gab es in der Evolutionsgeschichte vermutlich nie den Selektionsdruck, der einen gezielten und eigenständigen Antrieb, Nachkommen zu erzeugen, hätte hervorbringen können. Das motivationale System, das die Fürsorge für die Kinder steuert und auch die Befriedigungen vermittelt, die diese Fürsorge mit sich bringt, wurde mit der Schwangerschaft automatisch wachgerufen und musste nicht schon in der Phase der Partnersuche und der Bindung antizipiert werden. So war es kaum möglich, die Befriedigungsquellen aus der Welt der Partnersuche und des sexuellen Erlebens zu genießen, ohne irgendwann auf die Freuden der Elternschaft zu stoßen. Anscheinend sind die emotionalen Gratifikationen elterlicher Fürsorge schwer zu antizipieren: erstgebärende Mütter berichten oft, sie hätten nicht vorausgesehen, wie gut sie in ihre Rolle hineinwachsen und wie viel Freuden ihnen ihr Muttersein verschaffen würden (McMahon 1995).Natürlich haben viele Paare den Wunsch, Kinder zu haben und dieser Wunsch kann auch eine alles beherrschende Kraft entfalten, doch diese Kraft scheint eher auf Fürsorgemotiven zu basieren, die auf Ausübung drängen oder deren Untätigkeit auf schmerzliche Weise empfunden wird. Solange der Kinderwunsch noch aufgeschoben werden kann, ist seine handlungsleitende Kraft oft zu gering, als dass er sich regelhaft gegen die Suche nach Status und Macht, Liebe und sexuelle Lust durchsetzen könnte. Das explizite Motiv, eigene Nachkommen zu haben, kommt anscheinend nicht aus den tieferen Quellen unseres Antriebssystems, sondern ist gleichsam ein Nachgedanke jener Teile des Gehirns, die evolutionsgeschichtlich relativ neu sind, in denen durch das Erwägen von Optionen und den von ihnen erwarteten Befriedigungen die eigene Lebensgeschichte geplant wird. Hätten wir ein genuines Fortpflanzungsmotiv, dann würde unsere Welt anders aussehen. Niemand würde Verhütungsmittel benutzen, jede Frau würde, wenn es nur irgend ginge, die volle Spanne ihrer reproduktiven Zeit nutzen, um eine große Kinderschar zu bekommen, Männer würden alle ihre Ressourcen dafür einsetzen, große Familien zu gründen und Samenbanken wären ein umkämpftes Politikum.

Dient Sexualität der Fortpflanzung?

Die zweite Frage lautete: Dient Sexualität der Fortpflanzung? die Antwort ist: Ja, wenn damit gemeint ist, dass sexuelle Rekombination bei vielen Arten die Voraussetzung dafür ist, dass es überhaupt zu einer Fortpflanzung kommt. Um zu verstehen, warum Sexualität sich entwickelt hat, muss man verstehen, warum nicht die einfachere asexuelle Fortpflanzung das Feld dominiert. Das setzt voraus, dass eine Spezies überhaupt zu dieser Alternative zurückkehren kann. Bei manchen Reptilien und vielen niederen Arten ist das der Fall, bei Säugetieren und Vögeln gibt es jedoch so viele sekundäre Anpassungen an die sexuelle Reproduktion, dass kein evolutionärer Weg zur asexuellen Reproduktion zurück führt. Eine dieser Anpassungen ist das genetische Imprinting, das Phänomen, wonach bestimmte Gene zwingend vom Vater stammen müssen und andere zwingend von der Mutter, um eine ungestörte Embryonalentwicklung zu gewährleisten. Daher ist es auch mit Techniken des Klonens nicht möglich, dass zwei Männer oder zwei Frauen gemeinsame Nachkommen haben.

Die Frage muss mit jedoch mit nein beantwortet werden, wenn gemeint ist, ob mit Sexualität die Fortpflanzung leichter ist als ohne, also die Sexualität der Fortpflanzung im gleichen Sinne dient, in dem wir das Wort dienen sonst verwenden, nämlich als ein Helfen, für etwas arbeiten, etwas unterstützen. Einen Diener, der mehr Probleme macht, wenn er da als wenn er nicht da ist, kann man nicht wirklich als Diener empfinden. Genauso verhält es sich mit der sexuellen Rekombination: sie addiert zu der an sich einfachen asexuellen Fortpflanzung ein kostspieliges komplizierendes Element.

Nachteile der Sexualität

Bei Tieren und Pflanzen, die sich sexuell fortpflanzen, beginnt jedes Individuum mit einer einzigen Zelle, der Zygote, die aus der Verschmelzung zweier Geschlechtszellen, der Gameten, hervorgeht. Auch wenn man von sexueller Reproduktion spricht, ist der sexuelle Prozess nicht auf Vermehrung angelegt, sondern im Gegenteil auf Verminderung: aus zwei Zellen wird eine einzige. die Vermehrung hat schon vorher stattgefunden, nämlich als Zellteilung der Stammzellen für die Eizellen und die Samenzellen.

Geht es allein um Vermehrung, dann ist Sexualität nicht nur entbehrlich, sondern sogar hinderlich, denn die Hälfte der Population, die Männchen, sind vom direkten Fortpflanzungsgeschehen ausgeschlossen und sie tragen meist auch nicht indirekt durch Brutpflege dazu bei (was der Biologe Fischer den zweifachen Nachteil der Sexualität genannt hat). Weiterhin kann man zu den Nachteilen der Sexualität auch den enormen Aufwand für Werbung und Wettkampf zählen: Riesige Geweihe, üppiger Gefiederschmuck, komplizierte Tänze und Gesänge, fortdauernder Kampf mit Rivalen. Diese Energie zehrenden Verausgabungen sind bei asexueller Reproduktion überflüssig. Tatsächlich gibt es Spezies, z.B. die in Wüsten lebenden Renneidechsen, bei denen immer wieder Subspezies entstehen, die sich asexuell reproduzieren können. Die Weibchen brauchen für die Fortpflanzung keine Männchen, weil ihre Eizellen schon diploid sind (Parthenogenese). Diese Arten verdrängen gewöhnlich die sexuellen Arten, von denen sie abstammen; sie halten sich meist aber nur wenige Jahrtausende.
Gene arbeiten wie eine Mannschaft zusammen, um einen Organismus zu bauen, der ihnen in der gegebenen Umwelt ermöglicht sich zu reproduzieren. Gene, die einen Phänotyp bauen, der sich überdurchschnittlich reproduziert, vermehren sich im Genpool und sorgen so dafür, dass ihresgleichen häufiger wird. Das gilt allerdings nur für asexuelle Reproduktion. Bei sexueller Reproduktion geschieht etwas auf den ersten Blick unzweckmäßiges: erfolgreiche
Mannschaften werden durch Crossover und Rekombination während der Meiose auseinander gerissen und neu zusammengesetzt. Wo immer auch die Erklärung dafür liegen mag, warum es Sexualität gibt - es kann nicht die Effektivierung der Fortpflanzung sein, sondern es muss Vorteile geben, die alle Nachteile mehr als aufwiegen.

Vorteile der Sexualität

Der Unterschied zwischen männlich und weiblich ist für Biologen der Unterschied zwischen großen und kleinen Geschlechtszellen. Es gibt aber auch sehr primitive Lebewesen wie Schleimpilze, bei denen die Gameten alle gleich groß sind, so dass es keinen Sinn hat, von zwei Geschlechtern zu sprechen. Wenn jeder Organismus gleich viel beisteuert, dann kann es den zweifachen Nachteil der Sexualität nicht geben und daraus folgt, dass dieser Nachteil nicht das ursprüngliche Entstehen sexueller Rekombination behindern konnte. Nun ist aber auch für die isogame Verschmelzung gleich großer Gameten die Frage zu stellen, warum sich dieses System in der Evolution durchgesetzt hat, obwohl es die Fortpflanzung verkompliziert, denn auch primitive Gameten müssen Partner finden und sie müssen durch den aufwändigen Prozess der Meiose produziert werden. Es muss also Vorteile sexueller Reproduktion geben, die auch diese Kosten mehr als ausgleichen. Solche Vorteile können in großer Zahl aufgezählt werden, doch genügen Vorteile allein nicht, die Existenz eines Phänomens zu erklären. Es wäre z.B. für Schweine vorteilhaft fliegen zu können, um ihren Verfolgern zu entkommen, doch die Evolution hat diese Eigenschaft nicht schon deshalb hervorgebracht. Man weiß bis heute nicht genau, welche Selektionsvorteile die Evolution der Zweigeschlechtlichkeit angetrieben haben. Maynard Smith sagt dazu: "If you find the story confusing, welcome to the club" (Maynard Smith and Szathmary 1999). Die meisten Vorteile beziehen sich auf die Population, weniger auf das einzelne Individuum, und werfen damit die Probleme der Gruppenselektion auf. Die frühere Biologie akzeptierte bis in die 50er Jahre noch die Vorstellung der Arterhaltung oder des Wohls der Art als kausales Agens. Da dies ein teleologisches Prinzip ist, hat es in den Naturwissenschaften keinen Platz, weil eine Wirkung der Ursache nicht vorausgehen kann. Sex könnte ohne direkten Vorteil für das Individuum sein, aber von langfristigem Vorteil für die sich sexuell reproduzierende Gruppe gegenüber der asexuellen. Doch wenn die kurzfristigen Vorteile für Individuen die langfristigen Vorteile für die Population übertreffen, können Verhaltensweisen, die für die Gruppe als Ganze günstig wären, sich nicht entwickeln, es sei denn andere Faktoren verhindern diese Dynamik. Ein Beispiel: in großen Vogelkolonien wäre es eigentlich praktisch, Kindergärten zu bilden, die von einigen Brutpaaren behütet werden, während andere nach Nahrung suchen. Ein solches System scheint jedoch nicht etablierbar, weil es nicht gegen egoistische Trittbrettfahrer gesichert werden kann, die mehr Nahrung suchen und dafür das Aufpassen anderen überlassen. Ebenso sind Individuen, die sich asexuell reproduzieren, im Vorteil, auch wenn sexuelle Reproduktion der Art insgesamt nützen würde. Zwar ist Gruppenselektion für die Evolution der Zweigeschlechtlichkeit nicht ausgeschlossen, doch wahrscheinlicher ist, dass Vorläufer sexueller Rekombination schon in der Lebensspanne eines Individuums für dessen Reproduktionserfolg direkt vorteilhaft waren, z.B. wenn damit genetische Reparaturmechanismen effektiver wurden oder wenn ein Weibchen mit einer großen Variation unterschiedlicher Nachkommen die Chance vergrößerte, in der ungewissen zukünftigen Umgebung das eigene Genom wenigstens in einigen erfolgreichen Phänotypen weiterzureichen (Maynard Smith 1978).

Unter den zahlreichen Vorteilen sexueller Rekombination möchte ich die drei wichtigsten hervorheben: Genetische Reparatur, Elimination ungünstiger Mutationen und Wettlauf mit Parasiten.

Wenn alle Gene doppelt vorhanden sind, kann für ein defektes Allel immer noch ein eventuell unversehrtes vorhanden sein, um das erforderliche Protein herzustellen. Zwar sind auch die meisten asexuellen Arten diploid, doch wenn beide Allele beschädigt sind, gibt es keine Reparaturmöglichkeit mehr, denn die Rekombination mit einem an der fraglichen Stelle unbeschädigten Chromosomensatz ist ausgeschlossen.

Asexuelle Arten sammeln unweigerlich ungünstige Mutationen an, die sie auch bei starkem Selektionsdruck schwer loswerden können. Sexualität ist ein Weg diesem Prozess entgegenzuwirken, da durch Crossover und zufällige Rekombination ungünstige Mutationen konzentriert und der natürlichen Selektion exponiert werden, wodurch sie langsam wieder aus dem Genpool verschwinden (Mullers ratchet). Umgekehrt können besonders günstige Mutationen, die unabhängig voneinander in verschiedenen Individuen entstanden sind, durch
sexuelle Kombination auf einem einzigen Individuum zusammenkommen, und dort für besonders gesteigerte Fitness sorgen.

Die größte Bedrohung für die Reproduktionschancen kommt für die meisten Organismen nicht aus den Widernissen des Klimas, des Nahrungsangebots oder den Nachstellungen durch Raubtiere, sondern von Parasiten. Der Biologe George W. Hamilton stellt den Wettlauf mit Parasiten in das Zentrum seiner Theorie der Entwicklung der Sexualität (Hamilton 2001; Seger and Hamilton 2001). Parasiten wie Viren, Bakterien, Pilze, Würmer haben eine kürzere Generationsdauer als die Organismen, die sie befallen und sind daher in der Lage, sich auf die Immunabwehr ihrer Wirte relativ schnell einzustellen. Sie befallen bevorzugt den am meisten verbreiteten Typ von Immunsystem, gegen den sie bisher am besten Gelegenheit hatten Abwehrmaßnahmen zu evolvieren. Sexuelle Rekombination sorgt im Gegenzug dafür, dass immer wieder neue Typen von Immunsystemen entstehen, die den Parasiten immer wieder neuen Widerstand entgegensetzen. Daher sind die Teile des Genoms, die das Immunsystem kontrollieren, bei den meisten Arten, auch beim Menschen, genetisch besonders polymorph. Es gibt viele Belege für diese Fokussierung auf den Wettlauf mit Parasiten, z.B. die Beobachtung, dass Organismen, z.B. manche Schnecken, die zu sexueller wie zu asexueller Reproduktion in der Lage sind, sich sexuell fortpflanzen, wenn viele Parasiten anwesend sind und zu asexueller Fortpflanzung übergehen, wenn der Parasitendruck nachlässt. Der Widerstand gegen Parasiten spielt auch eine Rolle bei den Signalen der Partnerwahl, die vielfach die Funktion haben, zuverlässige Hinweise auf ein effizientes Immunsystem zu geben oder dabei helfen, einen Typ von Immunsystem zu finden, dessen Kombination mit dem eigenen zu einem neuartigen Resultat führt (Grammer et al. 2003).

Ursprünge der Zweigeschlechtlichkeit

Ich skizziere nun ganz knapp die Theorie John Maynard Smiths zu den Ursprüngen der Zweigeschlechtlichkeit (Maynard Smith and Szathmary 1997, 1999). Die ersten Lebewesen besaßen nur einen einzigen Chromosomensatz, sie waren haploid. Der erste Schritt zur sexuellen Rekombination, die ja einen diploiden Chromosomensatz voraussetzt, war vermutlich die Endomitose, ein Vorgang, bei dem eine haploide Zelle ihren Chromosomensatz verdoppelt und damit unempfindlicher gegen DNA-Schäden wird. Die nächsten Schritte betreffen die Meiose, die aus dem diploiden Chromosomensatz wieder haploide Chromosomensätze erzeugt. Die Meiose ist ein komplexer, sehr genau choreographierter Prozess, dessen Evolution noch immer schwer zu erklären ist. Der wichtigste Schritt war dann vermutlich die Ersetzung der Endomitose durch die Fusion von Zellen mit unterschiedlichen Chromsomensätzen. Da hierdurch der Effekt rezessiver Mutationen überdeckt werden konnte, war diese DNA-Reparaturmethode der endomitotischen Verdopplung des gleichen Chromsomensatzes überlegen. Es ist der gleiche Mechanismus, den man auch als hybrid vigor bezeichnet, die erhöhte Vitalität der heterozygoten gegenüber der homozygoten Form. Der Anstoß zu dieser Entwicklung kam möglicherweise von einem Zellparasiten, einem Plasmid oder einem egoistischen Transposon, das ursprünglich die Zellfusion bewirkte um von einer Wirtszelle zur nächsten zu gelangen, weil seine eigene Verbreitung davon abhing. So ist zu vermuten, dass die Zweigeschlechtlichkeit mit einem aus ganz anderen Gründen evolvierten Mechanismus zur Zellfusion begann, der später, wie viele andere ursprünglich parasitäre Einwirkungen, von der Wirtszelle für ihre eigenen Zwecke genutzt werden konnte.

Rekombinationsrate und Inzestvermeidung

Wir haben gesehen, das sexuelle Populationen zwei potentielle Vorteile gegenüber asexuellen haben: Sie können sich schneller evolvieren und sie können ungünstige Mutationen schneller loswerden. Das ist besonders günstig, wenn sich die Umwelt schnell ändert und wenn die Wahrscheinlichkeit von Mutationen groß ist. Nun hat jede sexuelle Population eine charakteristische Rate der Rekombination, die selbst genetisch gesteuert ist. Man kann finden, dass diejenigen Umstände, die sexuellen Populationen einen Vorteil gegenüber asexuellen verschaffen auch jene Gene favorisieren, die eine höhere Rate der Rekombination bewirken. Es gibt also innerhalb der sexuellen Reproduktion noch ein Kontinuum der Intensität der Rekombination, das durch die gleichen Faktoren angetrieben wird wie der Unterschied zwischen Sex und nicht Sex überhaupt. Asexualität wäre praktisch der Zustand von Null-Rekombination. Daher ist es auch verständlich, dass alle Organismen irgendwelche Vorkehrungen gegen die Möglichkeit des Inzests entwickelt haben. Die einfachste besteht darin, dass sich genetisch ähnliche Nachkommen in alle Winde zerstreuen, andere Methoden funktionieren über Pheromone oder über das individuelle Erkennen der Individuen, die beim Aufwachsen im gleichen Nest zugegen waren. Inzest macht praktisch die Idee der Sexualität wieder rückgängig. Wenn es keine Mechanismen gäbe, das zu verhindern, dann wäre die Evolution der sexuellen Rekombination wohl schon in den Anfängen stecken geblieben.

Mating types und sexuelle Differenzierung

Es ist nicht selbstverständlich, dass es genau zwei Geschlechter gibt. Tatsächlich existieren primitive Organismen mit mehreren mating types, auch wenn, selbst bei Gameten gleicher Größe, das Zweiersystem mit mating type + und mating type - dominiert. Nach dem heutigen Stand liegt die Erklärung darin, dass Mitochondrien, und bei Pflanzen auch Chloroplasten, nur von einem einzigen Elternteil vererbt werden. Die Regel der einelterlichen Vererbung intrazellulärer Organellen gilt fast universell. Der Grund liegt vermutlich darin, dass im anderen Fall, wenn nämlich Mitochondrien von beiden Eltern vererbt werden würden, die Bühne für einen evolutionären Wettlauf eigennütziger Organellen eröffnet wäre. Ein Mitochondrium, das sich schneller vermehrt, dafür aber weniger ATP für den Wirtsorganismus produziert, würde einen Selektionsvorteil haben, auch wenn es dem Wirtsorganismus weniger nützte. Aus diesem Grunde wirkte vermutlich ein Selektionsdruck gegen eine Geschlechterzahl größer als zwei. Es blieb nur eines übrig, das die Organellen weiterreichte und ein anderes, das dies nicht tat.

Anisogamie

Der evolutionäre Pfad zu Arbeitsteilung zwischen einer beweglichen Gamete mit wenig Zellmaterial (Spermium) und einer nicht beweglichen Gamete mit Nahrungsvorräten (Eizelle) führte vermutlich über die Größe der Kolonie, die aus der Keimzelle entstand. Wenn bei heutigen koloniebildenden Organismen nur kleine Kolonien gebildet werden, sind die Gameten isogam, also alle von gleicher Größe. Werden große Kolonien gebildet (z.B. bei Grünalgen), dann taucht die Differenzierung in kleine bewegliche und große unbewegliche Keimzellen zum ersten Mal auf. Das weist auf eine disruptive Evolution hin, in der die spezialisierten Extremformen (groß vs. beweglich) bessere Reproduktionschancen hatten, als die intermediären Formen. Diese Differenzierung, zusammen mit der Spezialisierung auf die Weiterreichung von Organellen, ist die Basis des Geschlechtsunterschieds.

Sexuelle Konflikte

So beginnt die Geschichte Sexualität mit der Konkurrenz von Gameten und dieses Thema gewinnt mit der Höherentwicklung der Organismen immer neue Gestalt. In teleologischer Kurzschrift: Die Eizelle, deren Interesse darin besteht, zu wählen, mit welchen genetischen Partnern sie ihre kostbare Investition eingeht kommt in Konflikt mit den Spermien, die eine Wahl erzwingen möchten und dabei mit Spermien anderer Organismen wetteifern. Der erste Konflikt führt zur sexuellen Selektion durch weibliche Wahl, die bei manchen Arten als kryptische Wahl noch im weiblichen Körper darüber entscheidet, von welchen Spermien eine Eizelle befruchtet wird (Eberhard and Krebs 1996), der zweite Konflikt führt zu einer Vielzahl von Anpassungen an die Möglichkeit der Spermienkonkurrenz, z.B. Verhaltensweisen zur Bewachung von Weibchen (mate guarding), ein großes Ejakulat, häufiger Koitus. Auch in der menschlichen Sexualpsychologie haben Spermienkonkurrenz (Smith 1984) und mate guarding (Buss 2002) ihren Platz, ganz im Sinne des Ausspruchs von Nietzsche: "Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm."

Literatur

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