Montag, 9. April 2007

Die lautlose Revolution

IdeaSpektrum 43/2006 17-19

Mann oder Frau? Eine neue Ideologie will die natürlichen Unterschiede nicht mehr wahrhaben

Ist es egal, ob man Mann oder Frau ist, weil es prinzipiell kaum Unterschiede gibt? Sind die Geschlechter also letztlich austauschbar?
Was in den 70er und 80er Jahren der sinnvollen Frage nach mehr Rechten für Frauen entsprang, ist inzwischen eine ideologische Bewegung geworden: Die gesellschaftliche Ungleichbehandlung von Männern und Frauen soll neuerdings dadurch überwunden werden, dass man generell alle Unterscheidungen zwischen männlich und weiblich abschafft.

„Gender-Mainstreaming" heißt diese Ideologie. Wer so etwas für abseitig halt, unterschätzt, wie weit diese Ideologie bereits Hochschulen, Politik, ja sogar die evangelische Kirche erobert hat. Behörden auf EU- und deutscher Bundesebene haben sich verpflichtet, ihre Projekte im Sinne des Gender-Mainstreaming zu gestalten. Das Bundesfamilienministerium finanziert in Berlin ein „Genderkompeten-Zentrum". Und beispielsweise die Evangelische Jugend im Rheinland hat bei ihrer Delegiertentagung im vergangenen Jahr beschlossen, ihre Bildungsarbeit künftig am „Gender-Mainstreaming" zu messen. Dominik Klenk (38), Letter der Kommunität Offensive junger Christen (OjC) in Reichelsheim (Odenwald), beleuchtet den Hintergrund dieser „ Ideologie der Vielgeschlechtlichkeit".

Nahezu lautlos und mit Erfolg haben Ideologen sowohl in den Wissenschaften als auch in der Politik ihr Konzept etabliert, nach der künftig nicht mehr das biologische Geschlecht (englisch: sex), sondern nur noch das soziale, erlernte Geschlecht (englisch: gender) entscheidend sei - dieses aber habe mit dem biologischen nichts zu tun. Entscheidend fur die Bestimmung des eigenen Geschlechts ist nur noch, wie man sich selbst empfindet. Das politische Programm des Gender-Mainstreaming, das uns verordnet werden soll, hat zum Ziel, die herkömmliche Geschlechterordnung von Mann und Frau aufzulösen.

Wenn „Er" eine „Sie" ist
Wie massiv der Gedanke bereits auf dem Vormarsch ist, geschlechtliche Identität lasse sich modellieren, wurde mir erst kürzlich wahrend einer gemeinsamen Wanderung mit meinem achtjährigen Sohn, meinem Schwager und dessen Jungen vor Augen geführt. Wir hatten an einem Grillplatz Würstchen und Steinpilzschnitzel geröstet und lagerten um die Feuerstelle, als sich zwei Frauen näherten, die offensichtlich auch grillen wollten. Wir boten ihnen unser Feuer an. Wahrend wir unsere Sachen packten, äußerten wir noch Bedenken, ob die abnehmende Glut ihre üppigen Steaks wirklich durchbraten würde. Ach, da sollte ich mir mal keine Gedanken machen, meinte eine der Frauen und wies beilaufig auf ihre Freundin: „ER isst sein Fleisch sowieso am liebsten medium." Ups! Zwei Frauen - laut Selbstaussage ein Er und eine Sie. Zu Hause angekommen, wollte ich meiner Frau die Geschichte erzählen, als sie mir zuvorkam. „Denk mal, was wir heute am See erlebt haben: Gleich neben uns lässt sich ein Männerpärchen nieder. Etwas später, wahrend einer der beiden schwimmt, klingelt das Handy. Der andere nimmt ab ... Ja, alles sei prima ... nein, sie kamen erst etwas später zum Kaffee, SIE sei nämlich noch im Wasser." Eine seltsame Doppelung am selben Tag - Zufall? Diese irritierenden Erfahrungen weisen auf ein größeres Szenario, auf eine neue Realität hin, mit der wir es zu tun haben. Wir könnten es eine Verwirrung der Geschlechter nennen oder einen schleichenden Realitätsverlust oder einen Angriff auf die Schöpfungsordnung Gottes - oder einfach die gesellschaftlichen Folgen der so genannten Gender-Perspektive.

Ist das Geschlecht undefinierbar?
Den Forderungen des „Gender-Mainstreaming" liegt die Behauptung zugrunde, jegliches Geschlechterverhal-ten sei lediglich erlernt. Weiblichkeit und Mannlichkeit seien nur Folge psychischer und kultureller Aneignung. Der Satz von Simone de Beauvoir (1908-1986), einer Vordenkerin des radikalen Feminismus, man werde nicht als Frau geboren, zur Frau werde man gemacht, soll jetzt im Umkehrschluss zum Zuge kommen und politisch durchgesetzt werden: Jeder soll zukünftig gemäß seiner subjektiven Empfindung bestimmen, ob er oder sie Mann oder Frau ist. Auf der Internetseite des "Gender-kompetenzZentrums", einer Forschungseinrichtung der Berliner Humboldt-Universitat, die vom Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanziert wird, war am 10. August zu lesen: „Der Mensch wird mit bio-logischen Merkmalen geboren, die entlang eines Spektrums zwischen männlichen und weiblichen Merkmalen angesiedelt sind." Das heiBt, es gibt keine biologischen Grundanlagen, die die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht festlegen. Im Gegenteil: Primare und sekundäre Geschlechtsmerkmale sind individuelle Ausprägungen verschiedener biologischer und psychischer Faktoren.

Keine getrennten Toiletten mehr
Mittlerweile werden von den Gender-Ideologen im Umfeld der Universitäten Modelle entwickelt und gelehrt, bei denen zwischen fünf verschiedenen Geschlechtern - statt biologisch zwei - unterschieden wird. Andere Lobbygruppen aus diesem Umfeld wiederum legen nahe, jeder habe sein eigenes Geschlecht. Zu Ende gedacht, hieße das, es gibt über sechs Milliarden Geschlechter auf der Erde. Immer aber geht es darum, das Diktat der „zweigeschlechtlichen Matrix" zu sprengen. Durch die Selbstverpflichtung der Behörden auf EU- und Bundesebene, im öffentlichen Dienst, im Bildungswesen und in vielen Landeskirchen, die Arbeitswelt und ihre Projekte im Sinne des Gender-Mainstreaming zu gestalten, sickert die dem Konzept zugrunde liegende Sicht auf die Geschlechter lautlos, aber wirksam vom Parlament bis in die Kindergarten.

Was schon alles praktiziert wird
Einige konkrete Auswirkungen lassen sich anhand einschlägiger Beispiele verdeutlichen:
• Damit Kinder und Jugendliche in ihrer geschlechtlichen Identitätsentwicklung durch gesellschaftliche Vorgaben nicht frühzeitig beeinflusst werden, haben z. B. in Oakland (USA) und in Kristiansand im Süden Norwegens die ersten Grundschulen „unisex bathrooms" - gemeinsame Toiletten - eingeführt.
• An der Universität Hamburg gab es schon 1999 und danach Ringvorlesungen zu „queer-studies" („Homo-Studien"). Erklärtes Ziel dieser Vorlesungen war „eine Destabilisierung der Zwei-Geschlechter-Ordnung". Hier wird darauf hingearbeitet, im Rahmen der „Vervielfältigung der Geschlechter" auf die Kategorie Geschlecht in offiziellen Dokumenten (z.B. Personalausweis!) ganz zu verzichten.
• An der Medizinischen Fakultät derselben Hamburger Uni wird zur Zeit ein 13jähriger biologisch normaler Junge mit weiblichen Hormonen behandelt - weil er unbedingt als Mädchen leben mochte.
• In Berlin und Brüssel fordern Vertreter der Gender-Perspektive die Parlamentarier mit Nachdruck auf, die bisher erforderlichen Voraussetzungen für eine Änderung des juristischen Geschlechts entfallen zu lassen. Ein „Selbstbestimmungsrecht" solle zukünftig ausreichen, um eine Geschlechts- und Vornamensänderung in amtlichen Dokumenten durchsetzen zu können.
• Das deutsche Antidiskriminierungsgesetz (inzwischen Gleichstellungsgesetz genannt) ist ein Schritt, der andere „Identitäten" (homosexuelle, transsexuelle etc.) rechtlich anerkennt und ihnen Rechte einräumt. Dadurch wird das polare Geschlechterspektrum (Mann-Frau) aufgeweicht und beliebig erweitert.
• Lettland hat im Dezember 2005 in seiner Verfassung die Ehe als exklusive Beziehung nur zwischen Mann und Frau verankert. Nun droht die EU, dieses Land und alle anderen Staaten, die der Homo-Ehe keinen entsprechenden gesetzlichen Rahmen zusprechen, finanziell zu benachteiligen.

"Gott schuf sie als Mann und Frau"
Geschlecht - ob man also Mann oder Frau ist - findet demnach nur noch im Kopf statt. Man mag hier das Wort „verrückt" für angemessen halten, aber vielleicht wird in dieser Bewegung ja nur radikal zu Ende gedacht, was der Zeitgeist langst in sich tragt: Wenn die freie, individuelle und subjektive Wahl höchstes Gut ist, wer will dann das Recht eines anderen einschränken, sich selbst und die eigene Geschlechtlichkeit täglich neu zu erfinden?
Auch aus geistlicher Perspektive scheint die Richtung dieser Bewegung nur folgerichtig: Im 20. Jahrhundert haben die „Gott-ist-tot"-Kräfte das autonome Individuum erfolgreich zum Zentrum des Denkens gemacht. Gottfern und autark sollte der Mensch seine Identitat bilden und behaupten. Man meinte, die Spuren der alten „Kränkung", auf einen Schöpfer verwiesen zu sein, endlich beseitigt zu haben. Was weiterhin blieb, war das unwiderlegbare Verwiesensein jedes Individuums auf das jeweils andere Geschlecht. Gerade in der Polarität von Mann und Frau ist jedoch die auf Gott hinweisende Ebenbildlichkeit des Menschen verkörpert. Diese Spur zu tilgen, die Ebenbildlichkeit jetzt durch die Auflösung der Zweigeschlechtlichkeit abzuschaffen, scheint da nur ein konsequenter Schritt zu sein.

„Mutter" wird zum Unwort
Der Machtkampf zwischen den Geschlechtern soll mit der Neuformulierung der Genderidentitäten beendet werden. Der Schmerz der Ungleichheit der Geschlechter gebiert den Wahn der Gleichheit der Geschlechter. Die Gleichheit ist hier aber nicht mehr geschöpflich polar und ergänzend, sondern gewissermaßen abstrakt geschlechtslos. Wer genauer hinsieht, erkennt darin weniger einen beherzten Kampf fur die Rechte der Frau als viel-mehr eine tiefe Ablehnung des Weiblichen und alles Mutterlich-Empfangenden. Das ist mit den männlichen „Herrschaftstugenden" Starke, Macht und Unabhängigkeit nicht vereinbar. Nach dieser Ideologie darf nicht gebaren, wer stark und unabhängig sein will - „Mutter" ist zum Unwort geworden.
Menschsein ist immer zugleich Mann-Sein oder Frau-Sein. Das Unterschieden-Sein in Mann und Frau ist anthropologisch gesehen der zentrale Hinweis darauf, dass ein jeder über sich hinaus auf einen anderen verwiesen ist - letztlich an den ganz anderen, auf Gott. Das Erleben der Zweigeschlechtlichkeit ist somit „Urbild aller Transzendenzerfahrung" (so der 1928 geborene katholische Theologe und Churer Weihbischof Peter Henrici).

Was man jetzt tun sollte
Was also ist zu tun, damit diese schleichende Revolution die „Landkarten in unseren Köpfen" - die Schöpfung, wie Gott sie vorsieht - nicht einfach umschreiben kann? Es ist zuallererst wichtig, das Verwirrspiel der Gender-Aktivisten zu durchschauen. Wo immer wir ihren Forderungen begegnen, ob an Schulen, in Kirchen, im gesellschaftlichen oder im politischen Kontext, gilt es wach zu sein, nachzufragen und eine klare Position zu beziehen: Unsere Kinder sind kein Experimentierfeld für abwegige Ideologen. Kultur basiert auf der schopferischen Span-nung zwischen Männern und Frauen, nicht auf der Auflösung dieser Spannung durch einen „Multi-Sexismus". Es kann vernünftig und angemessen sein, wenn wir den politischen Vertretern unserer Wahlkreise ein klares persönliches Signal geben und sie zu einem wachsamen Umgang mit der Thematik ermutigen.

Der schwerste Schritt
Dann folgt der nächst liegende, oft aber schwerste Schritt: eine Alltagskultur der gegenseitigen Achtsamkeit entwickeln. Sich als Männer von Frauen - und umgekehrt - ergänzen und korrigieren lassen, vergeben, vertrauen und lieben, das heißt, die Stimme des anderen zu hören und ernst zu nehmen. So arbeiten wir ganz konkret an der Harmonie zwischen den Geschlechtern mit und machen unserem Schöpfer Ehre.
Ein gutes und hoffnungsvolles Gegengewicht zu den Absurditäten der Gender-Programme bilden die bewegenden Erfahrungen, die Männer und Frauen - zum Beispiel „gescheiterte" Ehepaare, Menschen mit seelischen Verletzungen, ehemalige Homosexuelle - gemacht haben und wie sie durch ihre Verletzungsgeschichte hindurch den Weg zu ihrer von Gott geschenkten Bestimmung gefunden haben. Ihren Berichten gebührte weit mehr Aufmerksamkeit in christlichen Veranstaltungen und Publikationen, denn sie führen die Dringlichkeit einer klaren Stellungnahme und eines mutigeren Eintretens für das biblische Menschen- und Weltbild vor Augen.

Christen, passt euch nicht an!
Vor allem aber dient die biblische Botschaft als zentraler Orientierungsrahmen, der Hoffnung gibt. Denken wir an den Römerbrief (12,2): Angesichts der Gender-Perspektive bekommt die Mahnung des Paulus neue Aktualität: „me syschematizeste!" heißt es da auf griechisch. Lasst euch nicht schematisieren, passt euch den Schemata dieses Zeitalters nicht an! Bleibt Originale! Bleibt Mann oder Frau! Wickelt die Würde und das geschöpfliche Geheimnis eures Lebens behutsam aus. Bleibt wach und ändert euren Denksinn - lernt, biblisch zu denken. Das wird trainiert, wenn wir in Beziehung mit den biblischen Texten leben und im Austausch mit anderen bleiben.

Gott setzt sich durch
Die Gender-Frage berührt die Grundpfeiler unseres menschlichen Lebens. Und sie stellt mit Macht die Frage an eine Kultur, die alles für machbar und alles für austauschbar halt. Ganz sicher ist in unserer Zeit in Europa ein Geist der Unfruchtbarkeit wirksam. Ganz bestimmt lohnt es sich darum, wieder gemeinsam zu beten für Klarheit und Wahrheit im Denken und im Tun der Verantwortlichen. „Im Angesicht der Luge gibt es keinen Fortschritt", bemerkte ein kluger Kopf schon vor einem halben Jahrhundert. „Im Angesicht der Liebe gibt es keinen Rückschritt", ergänzen wir in der Gewissheit, dass die Liebe am Ende starker sein wird als Lüge und Tod. Gottes Heilsplan mit uns wird sich durchsetzen, aber falsches Denken kann ein paar Generationen erheblichen Schmerz bereiten.
H

Keine Kommentare: