Prof. H. Geser: Seminar ‚ sozialer Evolution’ 28. April 2006
Handout von Matthias Näf:
Soziobiologie und SoziologieZusammenfassung und zusätzliche Anmerkungen zum Seminartext:
Franz M. Wuketits, 1997: Soziobiologie, Kapitel 3: Die sozialen Lebewesen, S. 25-49.
Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
In Anlehnung an den Text von Wuketits sollen im Folgenden einige grundlegende Beiträge der Verhaltensbiologie zum Verständnis menschlichen Sozialverhaltens skizziert werden.
Gegenstandsbereich der Soziobiologie
Der Gegenstandsbereich der Soziobiologie ist das Sozialverhalten von Tieren. Dieses beschreibt und deutet sie strikte aus einer evolutionsbiologischen Perspektive, das heisst unter dem Aspekt biologischer Angepasstheit. Die Soziobiologie ist durch Radikalisierung der genselektionistischen Betrachtungsweise aus der klassischen vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie) hervorgegangen. Sowohl klassische Ethologie als auch Soziobiologie gehen von der Grundvorstellung aus, dass nicht nur die organische Ausstattung der Lebewesen durch Selektionsdrücke im Verlaufe der Stammesgeschichte im Sinne ökologischer Anpassung geformt worden ist, sondern auch deren Verhalten. Unterschiedliche
Verhaltensweisen haben unterschiedlichen Anpassungswert, das heisst tragen in unterschiedlichem Mass zu Selbsterhaltung und Fortpflanzungserfolg eines Individuums bei.
In der klassischen Ethologie ging es vor allem darum, natürliches Verhalten (und das heisst in vielen Fällen sehr komplexes Verhalten) in natürlichen Lebensräumen zu beobachteten und unter evolutionsbiologischen Gesichtspunkten zu beschreiben, obwohl auch hier schon Experimente zum Einsatz kamen (vor allem Isolationsexperimente mit Neugeborenen und systematisches Variieren von Reizkonfigurationen zur Aufklärung Angeborener Auslösemachanismen und Erbkoordinationen, vgl. unten).
Im Gegensatz zur Soziobiologie wurde bei der Deutung des Beobachtungsmaterials noch mit der Vorstellung der Arterhaltung gearbeitet. Man versuchte Verhaltensweisen, die keinen Vorteil für das Individuum erkennen liessen, als Mittel des übergeordneten Ziels der Arterhaltung zu interpretieren. Neben dem Individuum und den Genen, deren Träger und materiale Umsetzung es ist, galt in dieser Sicht auch die Art als Einheit der Selektion.
Im Gegensatz dazu wird in der Soziobiologie noch mehr mit Laborexperimenten gearbeitet und vor allem aber wird oft versucht, mathematische Modelle zu entwerfen, die unter möglichst sparsamen Annahmen das beobachtete Verhalten in seinen wesentlichen Zügen abzubilden vermögen. Es werden Differentialgleichungssysteme und spieltheoretische Ansätze herangezogen.
Dabei wird Verhalten als Strategienwahl und als Optimierungsprozess im Sinne einer Kosten- Nutzen-Rechnung verstanden. Diese ökonomistische Perspektive geht von der Annahme aus, dass jene Verhaltensweisen sich unter Selektionsdruck in einer Population erhalten, die im Vergleich mit anderen sparsamer sind, das heisst mit weniger Aufwand gleich viele fortpflanzungsfähige Träger des eigenen Erbgutes in der nächsten Generation zu erzeugen
vermögen.
Eine Nebenbemerkung zur verbreiteten Kritik am soziobiologischen Ansatz: Die Modelle der Soziobiologie mit ihrer Fitnessbuchhaltung bieten kein sehr romantisches Bild von Tieren, weshalb sie von vielen Tierliebhabern, die ‚’ Tiere gewissermassen als bessere Menschen sehen möchten, nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen wurde. Im Hinblick auf den Menschen wurde und wird sie aber vor allem von Leuten abgelehnt, die im Sinne politischer Fortschrittsideale den Menschen als ein Wesen sehen möchten, das (fast) beliebig durch Milieu und Erziehung geformt und verbessert werden kann. Sie sehen die Soziobiologie als ein Denkmodell, das politischem Konservatismus nahe steht und zuarbeitet.
Diese zumeist oberflächlichen Rundumschläge verkennen allerdings, dass die Soziobiologie die weiten Verhaltensspielräume des Kulturwesens Mensch nicht leugnet, sondern ganz im Gegenteil sie als Spezifikum des menschlichen Verhaltensrepertoires erkennt und deren stammesgeschichtliche Entstehung und Nutzen zu verstehen versucht. Wird menschliches Verhalten aber als stammesgeschichtlich gewachsene Anpassungsleistung unter den Selektionsdrücken einer Abfolge bestimmter ökologischer Lebensverhältnisse verstanden, so zeigt sich, dass im menschlichen Verhaltensrepertoire zwar nur noch wenige bewusstseinsfrei ablaufende Verhaltenszwänge bestehen, dass aber sehr wohl genetisch gestützte Verhaltensneigungen da sind, die einer erzieherischen Umformung unterschiedlich starke
Widerstände entgegensetzen – mehr dazu aber weiter unten.
Was ist Verhalten aus Sicht der Verhaltensbiologie?
Bevor die verschiedenen Formen von Sozialverhalten und sozialer Organisation bei Tieren thematisiert werden, sollen einige allgemeine Konzepte der Verhaltensbiologie bereitgestellt werden, die auch bei der Betrachtung von Sozialverhalten bedeutsam sind.
Definition: Unter Verhalten versteht man in der Verhaltensbiologie „ Kontrolle und Ausübung von Bewegungen oder Signalen, mit denen ein Organismus mit Artgenossen oder anderen Komponenten seiner belebten und unbelebten Umwelt inteagiert" (Kappeler 2006, S. 5)
Verhalten wird in der Verhaltensbiologie auf vier analytisch gut unterscheidbaren Ebenen untersucht und erklärt:
Proximate Ursachen (Wirkursachen): Welche internen und externen Faktoren veranlassen ein bestimmtes Verhalten und welches sind die im Organismus wirksamen psychischen und organischen, insbesondere neuronalen Mechanismen, die das Verhalten ermöglichen und steuern?
Ontogenese (Lebensgeschichtliche Entwicklung): Wie entwickelt sich eine Verhaltensweise im Lebenslauf eines Individuums? Welche inneren und äusseren Faktoren beeinflussen die Entwicklung eines Verhaltens? Wie wirken genetische Faktoren, organische Reifungsprozesse und externe Reizangebote zusammen?
Ultimate Ursachen (Zweckursachen): Was ist der Anpassungswert eines Verhaltens?
Was trägt eine bestimmte Verhaltensweise zum Überlebens- und Fortpflanzungserfolg eines Individuums bei? Was macht eine Verhaltensweise gegenüber Alternativen evolutionär stabil?
Phylogenese (Stammesgeschichtliche Entwicklung): Wie ist eine Verhaltensweise im Laufe der Stammesgeschichte einer Art entstanden? Welches könnten die – lebbaren! – Zwischenstufen dieser Entwicklung gewesen sein? Welche Verhaltensweisen bei verwandten Arten haben dieselbe stammesgeschichtliche Wurzel (Homologien) und welche ähnlichen Verhaltensweisen bei nichtverwandten Arten sind unabhängige, aber gestalt- und funktionskonvergente Entwicklungen unter ähnlichen Selektionsdrücken (Analogien)?
Zur Veranschaulichung seien die entsprechenden Antworten auf die Frage „ singt ein Amselmännchen?" gegeben:
Proximate Ursache: Das Amselmännchen singt, weil seine Larynxmuskulatur durch daran ansetzende Motoneurone aktiviert wird oder es singt, weil es im Frühling einen besonders hohen Testosteronspiegel hat.
Ontogenetische Ursache: Das Amselmännchen singt so wie es singt, weil es diese Gesangsstrophen als Jungtier während einer sensiblen Phase von einem männlichen Artgenossen gelernt hat. Ultimate Ursachen: Das Amselmännchen singt, weil es damit paarungsbereite Weibchen anlocken und Rivalen aus seinem Territorium fernhalten kann.
Phylogenetische Ursachen: Das Amselmännchen singt, weil es von Singvögeln abstammt, deren Männchen gesungen haben.
Arteigenes Verhalten
Eine der wichtigsten Grundbeobachtungen der Verhaltensbiologie besteht darin, dass sich das Verhalten eines Tieres aus Verhaltenselementen zusammensetzt, die immer wieder in ähnlicher Form gezeigt werden und die für eine Art, eine Population oder ein Individuum charakteristisch sind. Erst diese Tatsache, dass sich auch komplizierte Verhaltensabläufe aus ziemlich formkonstanten, immer wieder wiederholten Elementen zusammensetzen, ermöglicht erst eine wissenschaftliche Erfassung.
Die Menge der unterscheidbaren Verhaltensweisen einer Art wird Verhaltensrepertoire der Art genannt, wobei nicht alle Teilpopulationen und Individuen einer Art das ganze Verhaltensrepertoire zeigen müssen. Wichtig für ein vertieftes Verständnis von Verhalten ist aber nicht nur die Kenntnis der einzelnen unterscheidbaren Verhaltenselemente, sondern auch die Häufigkeitsverteilung und die Abfolge der Elemente in Abhängigkeit von Lebensalter, Geschlecht, Körperzustand, Jahreszeit, Tageszeit sowie sozialen und ökologischen Randbedingungen.
Die Aufzeichnung der genauen zeitlichen Abfolgen von Verhaltensweisen wird Ethogramm genannt. Wie stark sich die Ethogramme zwischen Individuen einer Art unterscheiden, hängt neben der Variabilität der ökologischen Faktoren der besiedelten Lebensräume auch stark von der Lernbereitschaft und Lernfähigkeit der Individuen und der Fähigkeit zur Traditionsbildung der Gruppen ab.
Angepasstheit und Eignung (Fitness)
Das letztlich entscheidende Mass für die Angepasstheit von Lebewesen an ihre Umwelt ist die relative Häufigkeit der eigenen Gene im Genbestand der nachfolgenden Generationen. Das Vermögen eines Lebewesens, für den Fortbestand seiner Gene zu sorgen, wird seit Darwin Fitness oder eingedeutscht Eignung genannt.
Die Chromosomen enthalten die Baupläne der Lebewesen und sie sind das einzige, was bei Verschmelzung der Keimzellen physisch an die Nachkommen weitergegeben wird.1 Wie gut diese Weitergabe einem Tier gelingt, hängt aber stark von dessen Verhalten ab.
Um sich vermehren zu können, muss ein Lebewesen mit seinem Verhalten zunächst für das eigene Überleben sorgen. Dann kann es sich um eigenen Nachwuchs bemühen (direkte Eignung) oder aber Verwandten bei der Aufzucht ihres Nachwuchses helfen (indirekte Eignung). Die Summe aus direkter und indirekter Eignung ergibt die Gesamteignung (inclusive fitness). Mit Verwandten teilt ein Tier einen Teil seiner Gene und zwar einen Anteil, der statistisch vom Verwandtschaftsgrad abhängt.
Mit den Eltern und den eigenen Kindern teilt ein Tier genau die Hälfte der Gene (bei Diploidie), mit Geschwistern durchschnittlich ein Viertel, mit Nichten und Neffen ein Achtel, mit Cousins und Cousinen ein Sechzehntel usw. Eine bestimmte Menge an Aufwand, der für Nichten oder Neffen betrieben wird, trägt also statistisch ein Viertel so viel zur eigenen Eignung bei, wie der 1 Dass die Eltern und Verwandten je nach Art – bei Säugetieren insbesondere die Mutter während der Schwangerschaft – dem Jungtier sehr unterschiedlich viel Nährstoffe und Energie zur Entwicklung zur Verfügung stellen, ändert nichts an der Tatsache, dass eine Art, die sich sexuell fortpflanzt, in jeder Generation physisch durch das ‚’ der Reduktion auf Keimzellen geht (Keimbahn). gleiche Aufwand für eigene Kinder.
Es gibt (Lebens-)Zeiten, zu denen ein Tier nicht in eigene Nachkommen investieren kann, sei es, weil es noch zu jung oder schon zu alt ist, sei es, weil die eigene Sozietät nur Vermehrung der Hochrangigen zulässt, sei es, weil kein Territorium erobert oder kein Geschlechtspartner gefunden werden konnte usw. In all diesen Fällen kann es sich für ein Tier lohnen, sich an der Aufzucht von Verwandten zu beteiligen (Verwandtenaltruismus). In solchen Situationen gilt es abzuwägen, ob es sich eher lohnt, in die Vorbereitung künftigen eigenen Nachwuchses zu investieren, oder aber in gegenwärtige Verwandte.
Natürlich fängt ein Tier nicht zu rechnen an, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Die Herausforderung für die Soziobiologie besteht in solchen Fällen darin, die proximaten Mechanismen zu finden, die die – zumeist bewusstseinsfrei ablaufende – Entscheidungsfindung steuern. Ferner gilt es abzuschätzen, ob die gewählten Verhaltensstrategien gegenüber Alternativen, die sich bei anderen Individuen beobachten lassen, mehr Eignung erzeugen oder aber suboptimal sind – zumindest in der gegebenen Situation.
Neben dem Verwandtenaltruismus gibt es auch sogenannten reziproken Altruismus zwischen nichtverwandten Tieren.
Diese Erscheinung gibt es vor allem bei Tieren, die in grösseren, aber dauerhaften Sozietäten zusammenleben, in denen nicht alle miteinander näher verwandt sind. So helfen sich beispielsweise Vampirfledermäuse, die schon nach einem Tag verhungern, wenn sie in der Nacht kein Blut haben saugen können, wechselseitig aus, indem die erfolgreichen Jäger einen Teil ihrer Nahrung erbrechen und damit die Erfolglosen füttern, und zwar unabhängig vom Verwandtschaftsgrad. Bei Graufischern (einer Eisvogelart) gibt es nichtverwandte Bruthelfer. Das sind junge Männchen, die noch kein eigenes Brutterritorium haben erobern können und die nun einem nichtverwandten Brutpaar bei der Aufzucht ihrer Jungen helfen. Der Vorteil für sie liegt darin, dass sie fast immer die Erben dieses Territoriums – und auch oft des Weibchens – werden, wenn über den nächsten Winter der Territoriumsinhaber stirbt, was bei dieser
kurzlebigen Art oft der Fall ist.
Das heisst es handelt sich nicht um echte Selbstlosigkeit im Sinne des Verlustes von Eignung, was dann das wäre, was echter Altruismus, genetischer Altruismus oder Fitness-Altruismus genannt wird. Hilfsbereitschaft gegenüber Nichtverwandten kann nur dann als fester Bestandteil des Verhaltensrepertoires entstehen, wenn aufgrund der (proximaten) Mechanismen, die das Verhalten der Beteiligten steuern, gewährleistet ist, dass im Durchschnitt das gebende Tier oder seine Verwandten in der Zukunft vom Hilfe empfangenden Tier oder seinen Verwandten wieder ungefähr gleich viel zurückerhält. Wenn eine Verhaltensweise von Trittbrettfahrern, die sich und die eigenen Verwandten bevorzugen, unterlaufen werden kann, dann wird dieses Verhalten wieder verschwinden, es ist dann keine Evolutionär Stabile Strategie (abgekürzt ESS, einer der Leitbegriffe der Soziobiologie).
Da Umwelten nie unveränderlich sind, sondern immer auch (Zufalls-)Schwankungen aufweisen, kann es keine ideale Anpassung geben. Zudem ist es oft unmöglich, die Anpassung an alle ökologischen Faktoren gleichzeitig zu maximieren. So mag zum Beispiel ein grosses Gewicht in Rivalenkämpfen von Vorteil sein, ein grosser Körper braucht aber auch mehr Nahrung für den Unterhalt und wird von Fressfeinden leichter entdeckt.
Angepasstheit ist immer relative Angepasstheit in dem Sinne, dass sich ein Einzeltier nur in Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Artgenossen, Feinden und abiotischen Herausforderungen zu bewähren hat und eine Art nur in Auseinandersetzung mit den stammesgeschichtlich je gegenwärtigen anderen Arten und ökologischen Bedingungen. So müssen beispielsweise heutige Grossstadtbewohner in Europa nicht mehr Hunger aushalten können, dafür aber erhöhten innerartliche Rangkonkurrenz und Dichtestress. Oder eine Urfledermaus von vor 50 Millionen Jahren würde angesichts heutiger Nachtfalter wahrscheinlich verhungern, weil diese im Zuge einer Koevolution gelernt haben, mit chaotischen Schwirrflügen vor Fledermäusen zu fliehen, die mit ihrem heute hochdifferenzierten Echolotsystem Jagd auf sie machen.
Was die Makroevolution von Organen und Verhaltensweisen anlangt, d.h. die Veränderung von Grundbauplänen, so gilt es zu bedenken, dass alle Zwischenstufen gradueller Veränderung in ihrer jeweiligen Umwelt überlebensfähig sein müssen.
Die besten Voraussetzungen für Makroevolution sind gegeben, wenn ökologische Drücke nachlassen, die ein bestimmtes Verhalten oder Organ gestaltet haben. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn das Klima milder wird und sich damit die Ernährungslage entspannt, oder weil Fressfeinde oder konkurrierende Arten selten werden oder gar aussterben, oder weil ökologisch begünstigende Arten sich neu entwickeln.
Lässt ein Selektionsdruck nach, so können die von ihm getrimmten Organe oder Verhaltensweisen wieder mehr Variabilität zeigen, ohne dass damit ein Eignungsverlust einherginge (Exaptation). Diese Organe und Verhaltensweisen werden gleichsam als Ausgangsmaterial zur Entwicklung neuer biotischer Funktionen frei (Funktionswandel).
Die Angepasstheit von Organen und Verhalten schwankt also mit den Umweltbedingungen, die ein Lebewesen bzw. eine Art zu meistern hat – und sie wird oft überschätzt. Denn sowohl Individuen als auch Arten überstehen längere Phasen suboptimaler Angepasstheit, solange die ungünstigen Wirkungen ein gewisses Mass nicht übersteigen. Das Individuum wird dann längere Zeit geschwächt sein und der Bestand der Art schrumpfen, aber nicht gleich aussterben.
Die höchste Verhaltensflexibilität und damit Anpassungsfähigkeit hat unter allen Tieren der Mensch erlangt, und zwar hauptsächlich aufgrund der quantitativ und qualitativ
herausragenden Leistungsfähigkeit seines Gehirns (vgl. unten).
Formen der Gruppenbildung im Tierreich
In der Tierwelt gibt es unterschiedliche Formen der örtlichen Ansammlung von Tieren der gleichen Art und verschiedener Arten. Je nachdem, ob diese Tiere kooperieren oder nicht, wird von sozialen Gruppen oder Sozietäten (im eigentlichen Sinne) gesprochen, oder aber nur von Tieransammlungen.
Bei der Untersuchung der verschiedenen sozialen Lebensformen lässt sich die Soziobiologie von zwei Fragen leiten:
Welche Anpassungsvorteile kann das Leben in kooperierenden Gruppen gegenüber solitärer Lebensweise allgemein haben?
Welchen Anpassungswert hat eine bestimmte Form sozialer Gruppenorganisation innerhalb einer Art, insbesondere gegenüber anderen möglichen Organisationsformen?
Im Folgenden werden die wichtigsten Typen sozialer Gebilde, die es im Tierreich gibt, kurz skizziert, wobei sie in der Abfolge dargestellt werden, wie sie in der Stammesgeschichte vermutlich entstanden sind. Dabei nehmen insbesondere die kognitiven Voraussetzungen der Gruppenbildung zu.
Biofilme und Bakterienrasen: Durch ständige Zellteilung können Einzeller sich zu dichten Zellverbänden zusammenschliessen und eine feste Unterlage mit einem Film überziehen. Es wird angenommen, dass sich aus solchen Biofilmen, die ja aus genetisch identischen Zellen bestehen, durch funktionale Ausdifferenzierung mehrzellige Lebewesen gebildet haben. So lassen sich auch heutige Vielzeller als hochorganisierte Kolonien genetisch identischer Einzelzellen auffassen und darauf die selektionistischen Modelle der Soziobiologie anwenden. Erst diese Betrachtungsweise ermöglicht es beispielsweise zu verstehen, wie Phagozyten haben stammesgeschichtlich entstehen können, also jene Zellen des Immunsystems, die eingedrungene Mikroorganismen schlucken und dabei selbst kaputt gehen. Wären sie nicht mit den davon profitierenden Körper- und Keimzellen genetisch identisch, wäre dieses Verhalten evolutionär nicht stabil.
Schon in Bakterienrasen ist eine der Voraussetzungen aller weiteren stammesgeschichtlichen Entwicklung von Sozialverhalten gegeben, nämlich die dauerhafte Nähe von Individuen, die aufProf. grund dieser Nähe miteinander zunehmend komplexer interagieren können. Erst mit der Entwicklung von Post, Telefon usw. ist diese Voraussetzung für soziale Interaktion überwunden worden.
Tierstöcke: Verschiedene niedere Tiere bilden Kolonien im Meer und – weit seltener – im Süsswasser. Am bekanntesten sind Korallen. Die Stöcke wachsen zumeist durch Sprossung, also vegetative Vermehrung. Jeder Stock geht auf ein Gründertier zurück, das selbst sexueller Vermehrung entsprungen ist. Die sexuelle Vermehrung von Korallen vollzieht sich durch massenhaften gleichzeitigen Ausstoss von Keimzellen beider Geschlechter ins Wasser, wobei die zeitliche Koordination ganz von äusseren Faktoren (Wassertemperatur, Jahreszeit und Mondphase) abhängt.
Viele niedere Tiere kommen in verschiedenen, nämlich geschlechtlichen und ungeschlechtlichen Gestalten vor, es findet in den Stöcken also bereits eine einfache Form der funktionellen Differenzierung zwischen Individuen statt. Die niederen Tiere sind aber so einfach gebaut, dass die Möglichkeiten ‚ Wahrnehmung’ bei vielen Arten noch ganz auf chemische Wechselwirkungsprozesse eingeschränkt sind. Manchmal kommt es beispielsweise zu einer Massenvermehrung von Quallen, sodass Tier an Tier im Wasser schwimmt. Was auf den ersten Blick wie eine Analogie zu einem Fischschwarm aussieht, ist im Gegensatz zu diesem aber kein soziales Gebilde, denn die Quallen können einander nicht wahrnehmen und entsprechend mit ihrem Verhalten auch nicht wechselseitig aufeinander Bezug nehmen – jede zieht mit ihren Glockenzügen allein in der Weite des Ozeans.
Schwärme: Verschiedene Arten von Insekten (z.B. Heuschrecken), Fischen und Vögeln bilden grosse Schwärme. Die Tiere erkennen einander als Artgenossen, kennen sich aber nicht individuell. Das Sozialverhalten beschränkt sich zumeist darauf, dass die Tiere wechselseitig physische Nähe suchen. Jedes Tier richtet seine Bewegungskoordination an einem arteigenen (niedrigen) Abstandssollwert in Bezug auf seine nächsten Artgenossen aus, wodurch im Aggregat der Schwarm entsteht. Komplexere Interaktion als diese Abstandsregulation gibt es zwischen den Tieren meistens nicht.
Insektenstaaten: Gewisse Arten von Hautflüglern (Bienen, Ameisen) bilden grosse Staaten mit straffer Arbeitsteilung zwischen verschiednen Kasten steriler Arbeiterinnen, einer Königin, die zumeist keine andere Funktion hat, als Eier zu legen und Männchen, die manchmal nur Geschlechtsfunktion haben, manchmal aber auch ähnlich wie Arbeiterinnen spezifische Aufgaben übernehmen (Termiten). Die Mitglieder eines Insektenvolks erkennen einander nicht nur als Artgenossen, sondern als ‚’ aber nicht individuell. Fremde werden heftig bekämpft und vertrieben. Die Männchen dieser Insekten entspringen ungeschlechtlicher Vermehrung und sind haploid, d.h. tragen nur einen einfachen Chromosomensatz, den sie ganz ihren Nachkommen, den Arbeiterinnen mitgeben. Die Arbeiterinnen teilen daher untereinander durchschnittlich ¾ ihrer Gene, sind also untereinander näher verwandt, als ihnen eigene Kinder verwandt wären. Darin wird der Hauptgrund dafür gesehen, dass sich der Verzicht auf eigene Nachkommen überhaupt als evolutionär stabile Strategie hat herausbilden können, denn die Arbeiterinnen tun mehr für ihre ‚ Gene’ wenn sie ihrer Mutter bei der Aufzucht von ¾ verwandten Geschwistern helfen, als wenn sie eigene Junge aufziehen.
Vögel: Einige Vogelarten bilden Brutkolonien. In den Steilwänden von Brutfelsen am Meer brüten oft Kolonien mehrer Arten auf engem Raum, da gut geschützte Felssimse knapp sind. Bei Seevögeln erkennen einander die Nachbarn individuell, die Mitglieder der übrigen Kolonie aber nur als Artgenossen. Die meisten, vor allem kleineren, kurzlebigen Vogelarten brüten in Einzelpaaren, die nur für eine Brutsaison zusammenbleiben. Zwischen den Brutzeiten schrumpfen bei den meisten Singvögeln die Geschlechtsdrüsen so stark, dass sie in dieser Zeit praktisch geschlechtsneutrale Wesen sind und in dieser Zeit meistens auch ein anderes Sozialverhalten zeigen, z.B. Schwärme bilden. Einige grössere Vogelarten mit grösserer Lebenserwartung, wie zum Beispiel Graugänse, Kolkraben und Albatrosse bilden monogame Paare, die sich ein Leben lang Prof. H. Geser: Seminar ‚ sozialer Evolution’ / Matthias Näf 7 treu bleiben und ein grosses Repertoire an sozialen Verhaltensweisen zeigen, insbesondere zur Bezeugung und damit Festigung der Paarbeziehung.
Säugetiere: Die komplexesten Sozietäten finden sich bei Säugetieren, insbesondere bei Primaten und schliesslich beim Menschen. Bei den grösseren sozialen Säugetieren kennen sich alle Mitglieder der – zumeist kleinen – Sozietät persönlich. Was die kognitiven Fähigkeiten anlangt, die der sozialen Organisation zugrundeliegen, so haben Primaten eine neue Komplexitätsstufe erreicht, indem sie nämlich nicht nur ihre eigenen Beziehungen kennen, sondern auch die Beziehungen zwischen anderen Gruppenmitgliedern und diese nach Beziehungskategorien wie ‚ mit eigenem Kind’ im Gegensatz zu ‚ mit fremdem Jungtier’ einteilen können, wie in Versuchen mit Makaken hat gezeigt werden können, denen entsprechende Photographien vorgelegt wurden (Kummer 1975). Ähnlich hohe sozialkognitive Fähigkeiten lassen sich allenfalls noch bei Elefanten und Walen finden.
Der Mensch ist dadurch ausgezeichnet, dass er in Abhängigkeit ökologischer Randbedingungen unter allen Tieren mit Abstand die grösste Vielfalt an sozialen Organisationsformen hervorzubringen und kulturell zu stabilisieren vermag. Dies gilt sowohl für die kleinen sozialen Einheiten (Monogamie, Polygynie, Polyandrie, serielle Partnerschaft, Gruppenehe usw.), als auch für die grösseren Einheiten (Sippe, Stamm, formale Organisation, Staatsgesellschaft usw.). Es findet eine ständige Koevolution zwischen technischer Kultur, mit deren Hilfe Menschen ihre ökologischen Randbedingungen verändern, und den sozialen Organisationsformen statt, mit denen sich die Menschen an die von ihnen selbst veränderte Umwelt anpassen.
Tieransammlungen: An Orten, wo eine für viele Tierarten wichtige Ressource konzentriert vorhanden ist, können sich viele Individuen verschiedener Arten auf engem Raum zusammenfinden, z.B. an Wasserlöchern in trockenen Gebieten oder an mineralienreichen Felsabbrüchen in Regenwäldern oder die Wasservogelansammlungen auf Seen im Winter. Schlafplätze, Überwinterungsplätze und Nistplätze können ebenfalls knapp sein, sodass dann an geeigneten Stellen sich viele Individuen einer Art zusammenfinden können, obwohl sie dabei kaum kooperieren. In diesen Fällen werden Tiere allein durch äussere Faktoren an einem Ort zusammengebracht. Daneben gibt es aber auch koevolutiv stabilisierte Kooperation zwischen Tieren verschiedener Arten, sogenannte Symbiosen. In diesen Sozialgebilden profitieren die beteiligten Tiere beider Arten im Sinne der Steigerung ihrer Eignung – dies im Gegensatz zu Parasitismus, bei dem nur die eine Seite profitiert, die andere sich aber (noch) nicht gegen das Ausgenütztwerden zu wehren vermag.
In den nächsten drei Abschnitten wird nun noch näher auf verschiedene Aspekte des (Sozial-)Verhaltens des Menschen eingegangen.
Ontogenese – Zusammenhang zwischen Vererbung und Erfahrung
Die wohl wichtigste Frage der frühen Verhaltensforschung war das Verhältnis von angeborenen und erlernten Verhaltenselementen. Den Ausgangspunkt bildete die Beobachtung, dass die Jungtiere gewisser Tierarten gewisse für ihr Überleben wichtige Umweltsituationen ohne vorherige Erfahrung erkennen und darauf mit einem angepassten, das heisst überlebensförderlichen Verhalten reagieren. So picken Hühnerküken gleich nach dem Schlüpfen, also vor jeder Lernmöglichkeit zielgerichtet nach Nahrungsteilchen, und zwar nach geniessbaren und sie fliehen unter die Fittiche ihrer Mutter oder in ein Versteck, wenn über ihnen der Umriss eines fliegenden Habichts – oder im Versuch auch nur eine grobe Attrappe – vorüberzieht. Stammesgeschichtlich erworbene Erfahrung ist also derart in die organische, insbesondere neuronale Ausstattung der Küken eingeschrieben, dass sie mit fertigen Verhaltensprogrammen zur Welt kommen.
Die zur Deutung solchen Instinktverhaltens entwickelten Konzepte waren Schlüsselreiz, Angeborener Auslösemechanismus (AAM) und Erbkoordination: Beobachtet wurde, dass auf bestimmte ReizkonfiProf. Hgurationen ohne vorgängige Lernmöglichkeit von Jungtieren mit einem vorhersagbaren Verhalten reagiert wird (starres Reiz-Reaktionsmuster), postuliert wurde folglich, dass das Nervensystem mit angeborenen Programmen2 ausgestattet sein muss, die diese überlebensadäquate Wahrnehmung bestimmter Umweltsituationen und die dazugehörigen, immer gleichgestaltigen Bewegungen ermöglichen und steuern (das, was der Behaviorismus als ‚ Box’ ausklammerte).
Die Neurowissenschaften sind dabei, diese von der klassischen Ethologie rein hypothetisch postulierten Zusammenhänge aufzuklären, wobei sich die Verschränkung von Vererbung und Lernen bei der Reifung des Gehirns und der Reifung des Verhaltens in der Ontogenese als viel komplizierter herausstellt, als ursprünglich angenommen.
Wichtig im Hinblick auf menschliches Verhalten ist die Feststellung, dass ein Verhalten nicht entweder vererbt oder durch Lernen erworben ist. Vielmehr besteht ein Kontinuum zwischen dem einen Extrem weitgehend erblich fixierter Verhaltenselemente (Reflexe) und dem anderen Extrem von Verhaltensinnovation als Ergebnis einsichtsvollen Nachdenkens und freien Willens. Dazwischen liegt ein weiter Bereich von Verhaltensweisen, die auszubilden und durch Sammeln von Erfahrung und Üben zu verfeinern ein ererbter innerer Drang besteht, wobei sich diese Verhaltensreifungen beim Menschen an kulturell vorgegebenen Mustern ausrichten.
Weil in der Zwischenzeit erkannt worden ist, dass selbst die neuronalen Verschaltungen, die Reflexe steuern, durch die Art und Häufigkeit ihrer Betätigung adaptiv verändert werden, ist der Instinktbegriff der klassischen Ethologie, der erblich (weitgehend) fixiertes Verhalten meinte, aufgegeben worden. Wichtig ist aber eine Verallgemeinerung des Instinktkonzeptes geblieben (das allerdings nicht mehr so genannt wird), nämlich die Frage, welche für ein Tier wahrnehmbaren Reize bzw. Reizkonfigurationen dessen Aufmerksamkeit binden und in ihm den Drang erzeugen, mit einem gerichteten Verhalten darauf zu reagieren, also nicht gleichgültig zu bleiben und die Aufmerksamkeit nicht wieder anderen Dingen zuzuwenden.
In dieser Hinsicht ist der Mensch dadurch ausgezeichnet, dass er dasjenige Tier ist, das auf die grösste Vielfalt von Reizkonfigurationen sich motiviert fühlt, mit gerichtetem Verhalten Bezug zu nehmen. Kein Tier reagiert auf so viele Reize wie der Mensch. Dieser Überschuss an Aufmerksamkeit für seine Umwelt im Vergleich zu anderen höheren Tieren zeigt sich vor allem in lebenslänglichem Neugierverhalten und Spiel. Selbstverständlich streut die Neugierde und die Bereitschaft zu spielerischem Ausprobieren von Neuem stark zwischen verschiedenen Menschen und nimmt bei den meisten Personen mit dem Alter ab. Aber sowohl das mittlere Niveau an Neugierverhalten als auch die individuellen Spitzen lebenslangen Experimentierens, Forschens und Lernens übertreffen bei Weitem die entsprechenden Phänomene selbst bei Menschenaffen.
Funktionskreise menschlichen Verhaltens
Die vielen Verhaltensweisen, die Lebewesen und somit auch Menschen zeigen, können als Antwort auf bestimmte innere und äussere Herausforderungen verstanden werden. Jedes Verhalten lässt sich so einem bestimmten ‚’ zuordnen, einem Funktionskreis wie man in der Ethologie sagt. Die folgende Graphik zeigt die wichtigsten Antriebsthematiken des Menschen. 2 Der in der klassischen Ethologie übliche Ausdruck ‚’ wird heute in der Verhaltensbiologie kaum noch gebraucht, sondern durch kompliziertere Umschreibungen ersetzt, die den verfeinerten Erkenntnissen über neuronale Reifungsvorgänge entsprechen.
Die Fitness oder Eignung ist das letzte Ziel, woraufhin die Verhaltensweisen von Lebeswesen hingeordnet sind. (Selbstverständlich gab und gibt es bei allen Arten immer wieder Individuen, die sich nicht um Nachkommenschaft bemühten bzw. bemühen. Diese geben dann aber ihre Gene nicht (direkt) weiter, insbesondere nicht die Gene, die diese Fortpflanzungsfaulheit begünstigen. Wenn sie allerdings statt eigenen Nachwuchses kulturelle Innovationen hervorbringen, dann werden sie damit auch ihren eigenen Verwandten nützen und somit indirekte Eignung für sich verbuchen können.) Damit ein Tier sich vermehren kann, muss es sich selbst am Leben erhalten – daher sie zwei getrennten grossen Blöcke. Alle aufgezeigten Thematiken kommen nicht nur beim Menschen, sondern auch bei anderen höheren Lebewesen vor, wobei der Themenblock ‚’ die grössten qualitativen Unterschiede zwischen Mensch und übrigen Tieren aufweist.
Die Verwirklichung dieser durch die Biologie vorgegebenen Thematiken beim Menschen unterscheidet sich in einigen Punkten erheblich von derjenigen bei anderen höheren Tieren: Menschen haben eine kulturelle Vielfalt entwickelt, die auch diejenige der Menschenaffen bei weitem übersteigt. Die funktionell äquivalenten Verhaltensweisen, die zu jeder der genannten Thematiken gehören, haben beim Menschen in Auseinandersetzung mit den jeweiligen lokalen ökologischen Randbedingungen viele verschiedene kulturelle Ausprägungen erfahren: Diese kulturellen Ausformungen der biotisch nötigen Verhaltensweisen variieren zwischen den Teilpopulationen des Menschen so stark wie bei keiner anderen Tierart.
Zudem gibt es für fast alle diese Tätigkeitsfelder anerkannte soziale und nichtsoziale alternative Formen des Handelns, nämlich Formen der Hilfe, der Arbeitsteilung mit spezialisierten Rollen und des geselligen Verrichtens einer Tätigkeit mit gleichen Rollen oder aber Formen des Alleinemachens. Die kulturelle Vielfalt kommt insbesondere durch individuelles Lernen und daran anschliessende Traditionsbildung zustande: Wie schon oben erwähnt sind Menschen ein Leben lang neugierig und spielfreudig, wodurch sie ihr Handlungsvermögen und ihren sozialen, thematischen und geographischen Aktionsradius erweitern (in der Abbildung oben Selbsterweitung genannt). Individuelles Lernen dient zunächst der (Fein-)Anpassung jeder einzelnen Person an ihre Lebensumstände. Einzelne Individuen finden aber auch für bestimmte lebenspraktische Probleme besonders geeignete Lösungen, die von anderen Individuen durch Nachahmung und Vorzeigen übernommen und nach und nach fester Bestandteil des Verhaltensrepertoires der Teilpopulation werden, das heisst fortwährend den heranwachsenden Kindern mittels Erziehung weitervermittelt werden (Traditionsbildung).
Im folgenden Abschnitt sollen die wichtigsten Ereignisse der Evolutionsgeschichte des Menschen dargestellt werden, die diese vergleichsweise riesigen Verhaltensspielräume erst ermöglicht haben.
Hominisation und die Kulturfähigkeit des Menschen
Um das Sozialverhalten des modernen Menschen besser verstehen zu können, lohnt es sich, jene Besonderheiten seiner Evolutionsgeschichte zu vergegenwärtigen, die dessen Kulturfähigkeit begründen. Nach heutigem anthropologischem Wissenstand hat die Menschwerdung (Hominisation) in Afrika stattgefunden, und zwar in zwei Phasen ökologisch sehr unterschiedlicher Lebensraumbedingungen. Bis vor etwa vier Millionen Jahren waren unsere Vorfahren weitgehend auf Bäumen lebende Primaten tropischer Regenwälder. Danach wurde das Klima langsam trockener und der Lebensraum wurde zur immer offeneren Baumsavanne.
Dieser Abfolge sehr unterschiedlicher Selektionsdrücke dürfte sich die besondere anatomische Ausstattung des Menschen verdanken, aus der durch Funktionswechsel das heutige Kulturwesen hat entstehen können. Die Augen des Menschen sind parallel ausgerichtet und erlauben damit Tiefenschärfe. Dies dürfte ein Erbe aus der Zeit des Lebens auf Bäumen sein, denn bei Fortbewegung im Geäst ist es überlebenswichtig, Abstände genau abzuschätzen zu können.
Die parallele Augenstellung ist aber auch eine der unverzichtbaren Voraussetzungen für die Entwicklung einer handwerklichen Kultur, da es nur so möglich ist, Gegenstände, die in die Hände genommen werden, sehr genau zu fokussieren und fein zu bearbeiten.
Die langen, wendigen Arme mit weitem Ausgreifwinkel dank nach hinten, zur Wirbelsäule gedrehten Schulterblättern und die Greifhände des Menschen mit ihren langen Fingern, Kuppennägeln und freien Fingerkuppen, dem allen anderen Fingern gegenüberstellbaren Daumen, der hohen Haftfestigkeit dank Hautleisten (Dermatoglyphia) und Haftschweisssekretion und dem sehr feinen Tastsinn dank dichter Innervation sind ein Erbe des Lebens auf Bäumen als Klettrer – alles Eigenschaften, die die Entwicklung einer Handwerkskultur erleichtert haben. Schon bei Primaten haben die Hände eine Funktionserweiterung erfahren, da sie auch zum Nahrungserwerb, zur eigenen und sozialen Körperpflege, zum Halten und Betreuen von Jungen, beim Nestbau, beim Transport von Gegenständen und bei der einfachen Werkzeugbenutzung eingesetzt werden.
Der aufrechte Gang ist wahrscheinlich in offenen Savannenlandschaften entstanden. Aufrechter Gang erlaubt bessere Übersicht über das Gelände, das heisst früheres Erspähen von Fressfeinden und schnellere Flucht. Vor allem aber wurden die Hände frei. So konnte insbesondere Jagdbeute schnell in Sicherheit getragen werden, bevor sie von grösseren Raubtieren abspenstig gemacht werden konnte. Werkzeuggebrauch konnte stark erweitert und verfeinert werden, vor allem aber konnten Werkzeuge, Waffen und insbesondere Fackeln mitgetragen werden – was auch eine Voraussetzung für die Entstehung des sozialen Phänomens des Eigentums ist.
Im Prozess der Menschwerdung sind die Eckzähne immer kleiner geworden und der Mund verlor seine vorspringende Schnauzenform. Diese Entwicklung dürfte damit zusammenhängen, dass Eckzähne als Waffe gegen Raubfeinde dank Ersatz durch hergestellte Waffen (Speere, Fackeln usw.) und als ‚’ zur Zerkleinerung von Nahrung dank Ersatz durch Steinklingen und Kochen nicht mehr nötig waren. Diese Umgestaltungen sind aber eine anatomische Voraussetzung für die differenzierte Lautsprache des Menschen, denn viele Laute heutiger Sprachen könnten mit der Zahnlücke im Unterkiefer, die mit grossen Eckzähnen verbunden ist, nicht gebildet werden. Aber all diese Entwicklungen gewannen ihren vollen Wert erst in Verbindung mit der rasanten Entwicklung des Gehirns, dessen Gewicht in vier Millionen Jahren von etwa 400 g bei Australopithecinen auf 1200-1400 g beim modernen Menschen anwuchs.
Die für die Kulturentwicklung des Menschen wohl wichtigste Leistung des Gehirns ist die sogenannte geistige Probebühne: Menschen können nicht nur die unmittelbar sinnlich gegebene Welt und Erinnerungen in ihrem Bewusstsein vergegenwärtigen, sondern in ihrer Vorstellung auch Gegenentwürfe zur erfahrenen Wirklichkeit machen, und zwar unabhängig von ihrer je gegenwärtigen Bedürfnislage.
Insbesondere kann ein Mensch sich in seiner Vorstellung von sich selbst distanzieren und sich vor dem inneren Auge als Mensch unter anderen Menschen sehen. Diese Dezentrierungsfähigkeit ist einerseits die Grundlage für die Einfühlung in andere Menschen (Perspektivenübernahme und Empathie) und somit auch eine der wichtigsten Voraussetzungen für komplexes Sozialverhalten. Andererseits ermöglicht die Fähigkeit zur geistigen Distanzierung von sich als gegenwärtiger Person mit gegenwärtigen Bedürfnissen Selbstentwürfe in die Zukunft hinein: Menschen entwerfen mit dieser Fähigkeit einerseits gezieltes Handeln in der Gegenwart, also unmittelbar bevorstehende Handlungen – im Gegensatz zu einsichtslosem Versuchsverhalten, das sich durch ständige Beobachtung der Handlungsergebnisse langsam zum Ziel tastet.
Aber Menschen machen auch langfristige Zukunftspläne für sich selbst und ordnen dann ihr gegenwärtiges Handeln diesen langfristigen Zielen unter, was Verzicht auf gegenwärtige Annehmlichkeiten zu Gunsten künftiger Belohnung bedeuten kann (Belohnungsaufschub) – und diese Leistung des menschlichen Gehirns bzw. seiner Psyche ist wohl die wichtigste Grundlage für die Entwicklung der immer komplexeren menschlichen Kulturen und sozialen Gebilde. Von daher kann nun auch die herausragende Stellung der Lautsprache unter den Kommunikationskanälen verstanden werden: Im Gegensatz zu allen anderen – urtümlicheren – Kommunikationskanälen, die der Mensch sehr wohl auch noch nutzt, hat die Lautsprache den Vorteil, dass sie eine schier unbegrenzte Differenzierung des Mitteilungspotentials durch Ausweitung des Zeichenbestandes und komplexen Satzbau und eine sehr schnelle Abfolge von Zeichen während des Kommunikationsvorganges zulässt und nicht auf Berührung der Kommunizierenden angewiesen ist.
Mit taktilen Reizen, Gerüchen, Geschmäcken und optischen Signalen, liesse sich das alles nicht verwirklichen. Diese haben beim Menschen vor allem noch die Funktion emotionaler und allgemeiner sozialer Mitteilung, nämlich von Stimmungen, Sympathie/Antipathie, Rangansprüchen und Gruppenzugehörigkeiten durch Mimik, Körperhaltung, Berührungen, Kleidung, (offerierte) Speisen, Getränke und Gerüche.