Die Bedeutung der Väter in Trennungs- und Scheidungsfamilien
Dr. Helmuth Figdor
Vortrag im Rahmen der Vortragsreihe „Väter“ des Förderkreises der Psychologischen Bara-tungsstelle Tübingen am 4. Oktober 2005 in Tübingen. - Dr. Helmuth Figdor ist Psychoanalytiker und Kinderpsychotherapeut sowie Universitätsdozent am Institut für Sonder- und Heilpädagogik der Universität Wien. Der nachstehende Text ist die vom Autor (geringfügig bearbeitete) schriftliche Fassung des Vortrages.
Er erscheint im 2. Band von H. Figdor, Praxis der psychoanalytischen Pädagogik. Vorträge und Aufsätze, im Oktober 2006 im Psychosozial-Verlag Gießen. Die Wiedergabe hier erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Psychosozial-Verlag, Gießen.
Copyright © 2006 by Dr. Helmuth Figdor und Psychosozial-Verlag, Gießen.
I.
Ich habe ein Problem.
Das wäre an und für sich nichts Besonderes und passiert mir wie Ihnen (leider) des öfteren, aber das Problem, das ich meine, hat mit meinem Vortrag zu tun: Auf den ersten Blick handelt es sich um einen Vortrag mit einem offenbar interessanten Thema, sonst wären Sie nicht so zahlreich erschienen. Aber ich liege wohl nicht falsch, dass sehr viele von Ihnen nicht aus einem bloß theoretischen Interesse heraus hierher gekommen sind, sondern weil Sie sich – aus verschiedenen Gründen – von diesem Thema persönlich betroffen fühlen. Das hat zur Folge, dass ich nicht einfach mit Ihrem Interesse oder Ihrer Neugier rechnen kann, sondern davon ausgehen muss, dass alles, was ich heute sage, Sie auch emotional berühren wird: Sie zuversichtlich stimmt oder traurig; zufrieden oder unglücklich; sie in Ihren bisherigen Ansichten und Ihrem Verhalten bestätigt oder – wenn das Gegenteil der Fall sein sollte – vielleicht auch spontanen Widerstand gegen meine Ausführungen provoziert.
Letzteres, der Widerstand, hat zwar vielleicht den unmittelbaren Vorteil, Sie vor jenen unangenehmen Gefühlen zu schützen, jedoch den Nachteil, dass er in gewisser Weise die Sinnhaftigkeit meines Vortrags in Frage stellen würde: Jene, die schon bislang so dachten, würden nichts Neues erfahren, und die anderen sich gegen die Auseinandersetzung mit Neuem, Abweichenden sperren.
Darum möchte ich Ihnen zu Beginn einen Vorschlag machen: Versuchen Sie, sich während meines Vortrages eine Frage nicht zu stellen: „Habe ich es (in der Vergangenheit bzw.
bisher) richtig oder falsch gemacht?“ Warum ich Ihnen diesen Vorschlag mache? Weil es sich um eine Frage handelt, die sich meiner Erfahrung nach bei Themen, die so eng mit dem eigenen Leben verknüpft sind wie unser heutiges Thema „Väter“, zwangsläufig immer einstellt, nichtsdestoweniger aber eine sinnlose und unnötige Frage ist:
• Erstens: Fast alle Mütter und Väter handeln – bewusst – nach bestem Wissen und Ge-
wissen. Moralische Verurteilungen oder Selbstbezichtigungen sind daher zumeist fehl am Platz! Aus welchen Gründen auch immer: Es ging (damals) wohl nicht anders. Sollten unter diesen Entscheidungen und Handlungen welche sein, die von einem pädagogischen Standpunkt und d.h. hier: vom Standpunkt einer gesunden psychischen Entwicklung aus gesehen1, als eher ungünstig zu bewer-
an dem, was geschehen ist, im nachhinein nichts mehr ändern, was aber keineswegs heißt, dass man gar nichts mehr machen kann. Es ist in der Pädagogik nie zu spät: Die Kinderseele ist in hohem Maß flexibel, sodass auch noch später negative Einflüsse oder Entbehrungen kompensiert bzw. nachgeholt werden können – und zwar bis ins Jugendlichen-Alter hinein. Und falls Sie da-
1 Zur „gesunden psychischen Entwicklung“ vgl. in: H. Figdor (2006b) die Einleitung, ferner darin Kap 1: Wieviel Erziehung braucht der Mensch? und Kap. 9: Das Unbewusste im Musizieren.
bei Hilfe benötigen sollten: Ich hatte die große Freude, den ganzen heutigen Tag mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der hiesigen psychologischen Beratungsstelle zu arbeiten und habe nicht nur ein überaus engagiertes, sondern ebenso hochkompetentes Team von Fachleuten kennen gelernt.
Es ist leicht möglich, dass einiges von dem, was ich Ihnen erzählen werde, auch schmerzliche Gefühle auslöst, die gar nichts mit Ihrer eigenen Mutter- oder Vaterschaft zu tun haben, sondern mit Wunden aus Ihrer längst vergangenen Kindheit, bzw. – es sind heute auch eine Reihe sehr junger Menschen hier – aus Ihrer Kindheit, die vielleicht noch gar nicht richtig zu Ende ist.
Natürlich tut es mir persönlich leid, wenn das geschehen sollte.
Allerdings: Es gehört zu den wichtigsten Voraussetzungen sowohl guter Elternschaft als auch professioneller pädagogischer Kompetenz, sich bewusst nicht nur mit den guten Seiten, sondern auch mit den Schattenseiten der eigenen Kindheit zu konfrontieren. Die Erinnerung ist Ihr Kapital, sich in Ihre oder die Ihnen anvertrauten Kinder einfühlen zu können, während die Verdrängung sehr oft dazu führt, unbewusst, also ohne es zu bemerken, an den eigenen Kindern zu wiederholen, woran man selbst in der Kindheit gelitten hat.
Kurz und gut: Hören Sie einfach zu, bewerten Sie nicht, was gewesen ist, fürchten Sie sich weder vor Einsichten noch eigenen Gefühlen. Benützen Sie vielmehr meinen Vortrag für die Frage: „Sollte ich in Zukunft etwas ändern?“ bzw., falls Sie noch gar nicht Mutter oder Vater sein sollten: „Worauf möchte ich später bei meinen Kindern achten?“
II.
Wozu also brauchen Kinder Väter?
Die Frage kann nach zwei Seiten hin ausgelegt werden.
Erstens: Wozu brauchen Kinder überhaupt Väter? Also: Brauchen sie sie eigentlich?
Und zweitens: Wozu genau brauchen Kinder Väter unbedingt?
Ich werde mich im Folgenden vor allem mit der 2. Frage (Wozu genau brauchen Kinder Väter unbedingt?) beschäftigen. Denn wenn sich herausstellen sollte, dass es sich bei den Funktionen, die dem Vater zukommen, um entwicklungspsychologisch bedeutsame Funktionen handelt, beantwortet sich die 1. Frage von selbst.
Beginnen wir also ganz von vorne.
Dass wir uns Fragen wie diese überhaupt stellen und darüber nachdenken, hängt mit zwei großen Entdeckungen Sigmund Freuds zusammen: dass die in der Kindheit gemachten Erfahrungen einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der späteren Persönlichkeit haben (seelische Probleme und Störungen miteingeschlossen); und dass dabei nicht nur das eine Rolle spielt, was wir bewusst denken, fühlen und erinnern, sondern an der Entwicklung wie auch an der Gestaltung unseres Alltags unbewusste Prozesse einen wesentlichen Anteil haben.
Wäre dem nämlich nicht so, wäre die Antwort ganz einfach: Wenn sich jemand anderer um die hinreichende Pflege und Förderung von Kindern kümmert, bedarf es nicht unbedingt eines Vaters (allerdings auch nicht unbedingt einer Mutter). Und wenn ein Kind nicht bewusst an seinen Vater denkt oder ihn gar vergessen hat, macht es ihm auch nichts aus. Für uns ist die Bedeutung der Kindheit und des unbewussten Seelenlebens eine Selbstverständlichkeit geworden, vor hundert Jahren waren das aber ganz revolutionäre Erkenntnisse.
Interessanterweise stand in der Frühzeit der Psychoanalyse, also vor dem 2. Weltkrieg, zu Freuds Lebzeiten, die Mutter-Vater-Kind-Triade im Zentrum der theoretischen Aufmerksamkeit, vor allem jene von inneren Konflikten geprägte Beziehungskonstellation zwischen dem 4. und 7. Lebensjahr, die unter dem Namen „ödipale Phase“ bzw. „Ödipuskomplex“ in den Wortschatz der Umgangssprache Eingang gefunden hat. Unter dem Einfluss einer Reihe von entwicklungspsychologischen, seelischen und gesellschaftlichen Faktoren kommt es etwa im vierten Lebensjahr zu einer geschlechtsspezifischen Akzentverschiebung in den emotionalen Beziehungen der Kinder.
Die Buben richten den größeren Teil ihrer zärtlichen und besitzergreifenden Strebungen (weiterhin) auf die Mutter, die Mädchen dagegen (von der Mutter weg) auf den Vater.
Angesichts der Liebesbeziehung zwischen den Eltern wird im Erleben des Kindes der gleichgeschlechtliche Elternteil somit zum Rivalen. Die gleichgeschlechtliche Objektbeziehung wird dadurch zu einem Feld massiver psychischer Konflikte, welche für die narzisstischen Bedürfnisse des Kindes (groß sein zu wollen) und seine Sicherheitsbedürfnisse (geborgen zu sein) eine eminente Gefahr bilden: denn der Bub liebt seinen Vater dennoch weiterhin und das Mädchen seine Mutter. Unter günstigen Umständen gelingt es den Buben schließlich, in einen Prozess zunehmender Identifizierung mit dem Vater, dem inneren Konflikt zwischen Liebe und Eifersucht und damit einem großen Teil der ödipalen Ängste zu entgehen. In gleicher Weise lösen die Mädchen den Ödipuskomplex durch die Identifizierung mit der Mutter. An die Stelle der Frage „Wen von uns beiden liebt die Mama bzw. der Papa mehr?“ tritt dann die Feststellung des Buben „Wir beide (Papa und ich) lieben die Mama und werden von ihr geliebt“ bzw. des Mädchens „Wir beide (Mama und ich) lieben den Papa und werden von ihm geliebt.“
Diese Identifizierung mit dem ödipalen Rivalen macht es den Kindern möglich, die Beziehung zum ödipalen Liebesobjekt zu sichern, freilich um den Preis einer mehr oder weniger vollständigen Verdrängung der die Liebesregungen der ödipalen Zeit begleitenden sexuellen Wünsche und Phantasien2. Mit dieser (post-)ödipalen Identifizierung geht eine entscheidende Weichenstellung in der Entwicklung der sexuellen Identität von Mädchen und Buben einher sowie die Verinnerlichung von Werten und Normen (das sogenannte „Über-Ich“), also der Kern dessen, was wir umgangssprachlich als Gewissen bezeichnen.
Etwa ab den 1940er Jahren verschob sich das Forschungsinteresse auf das erste Lebensjahr, wodurch die Mutter-Kind-Beziehung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Die Entdeckungen über das, was sich vom ersten Lebenstag an zwischen der Mutter und ihrem Baby abspielt3, waren so reichhaltig und zum Teil sensationell, dass in Laien-, aber teilweise auch in Fachkreisen4 allmählich die Ansicht Verbreitung fand: „Es wäre natürlich begrüßenswert, wenn ein Kind mit Mutter und Vater aufwachsen kann. Für eine gesunde psychische Entwicklung bedarf es jedoch in allererster Linie einer gute Mutter-Kind-Beziehung!“
Diese Ansicht blieb nicht ohne gesellschaftspolitische Auswirkungen: Das Sorgerecht unehelich geborener Kinder wurde automatisch den Müttern übertragen; die alleinige Sorge eines Elternteils – fast immer der Mutter – wurde zum Standardmodell pflegschaftsgerichtlicher Entscheidungen bei der Scheidung der Eltern; und das Besuchs- bzw. Umgangsrecht wurde als Recht der Väter, nicht aber als pädagogische Notwendigkeit, also als Recht der Kinder, definiert.
Die Folgen waren beträchtlich: Gut 40% der Kinder, deren Eltern sich scheiden ließen, hatten drei Jahre nach der Scheidung überhaupt keinen Kontakt mehr zu ihren Vätern, 75% (!) keinen regelmäßigen.
Die Auswirkungen blieben aber nicht auf den
2 Der Ödipuskomplex ist ein überaus komplexes psychisches Geschehen, von welchem ich hier nur den „Hauptstrom“ skizziert habe. Daneben existiert noch der, üblicherweise schwächer ausgebildete „negative Ödipuskomplex“, d.h., das Kind betrachtet auch den gegengeschlechtlichen Elternteil als Rivalen in seiner weiter bestehenden Liebe zum gleichgeschlechtlichen Elternteil. Schließlich finden die ödipalen Wünsche der Kinder eine Ergänzung in (unbewussten) ödipalen Phantasien der Eltern. Diese erotischen Übertragungen der Eltern auf ihre Kinder werden besonders bedeutungsvoll, wenn der Partner als Liebes- und Sexualobjekt wegfällt. Zu den sexuellen Wünschen und Phantasien der Kinder vgl. H. Figor (2006a), Kap. 4: Über die Sexualität der Kinder.
3 Vgl. dazu H. Figdor (2006a), Kap. 2: Die ersten drei Jahre.
4 Vgl. z.B. Goldstein/Freud/Solnit (1979).
Bereich Scheidung/Trennung beschränkt. Die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts war durch einen spürbaren Rückzug der Väter von erzieherischer Verantwortung geprägt. Kinder und Erziehung galt für beide Geschlechter als unbestrittene Kompetenz der Mütter, und das ausgerechnet in einer Zeit, in welcher die Frauen um Emanzipation im öffentlichen Bereich kämpften, wodurch sich ihre Belastung noch erhöhte.
Dass dieser Rückzug der Väter nicht nur in einer (traditionellen) familiären Arbeitsteilung – für das Geldverdienen sind die Väter, für Haushalt und Erziehung die Mütter zuständig – wurzelte, sondern mit einem geschlechtsspezifischen Rollenverständnis zu tun hat, zeigt sich unter anderem auch daran, dass dieser „Rückzug von den Kindern“ auch im professionellen Bereich stattfand. Wo gibt es heute noch männliche Volks- bzw. Grundschullehrer? Auch die Lehrer in den Hauptschulen und Gymnasien sind überwiegend weiblich. Bilden die Männer bei den Ärzten immer noch die stattliche Mehrheit, sind die meisten Kinderärzte Frauen. Und – zumindest in Österreich – stößt man auf größte Probleme, sucht man für ein Kind einen männlichen Kinderpsychotherapeuten. In meiner Einführungsvorlesung für Studierende der Erziehungswissenschaft sitzen etwa 400 Hörer, unter ihnen weniger als 20 männliche.
Nun hat sich freilich in den letzten 15 bis 20 Jahren diesbezüglich einiges geändert. Den sichtbarsten Ausdruck fand diese Veränderung in der Familiengesetzgebung zahlreicher Länder. Das gängige Modell des alleinigen Sorgerechts eines Elternteils wich dem Modell der gemeinsamen Sorge: In Deutschland teilen sich 5 Jahre nach der Einführung des neuen Kindschaftsrechts 1970 mehr als 70% der Eltern, die sich heute scheiden lassen, das Sorgerecht; die Rate der Beziehungsabbrüche zwischen Kindern und Vätern, die auch nach der Scheidung sorgeberechtigt bleiben, ist in Scheidungsfamilien mit gemeinsamer Sorge sensationell auf etwa 15% zurückgegangen5.
Jüngere Forschungen lassen erkennen, dass sich immer mehr Väter aufgerufen fühlen, am Leben und an der Erziehung ihrer Kinder größeren Anteil zu nehmen – auch wenn man Quantität und Tempo dieser Neuorientierung nicht überschätzen sollte.
Diese Veränderungen haben ihre Grundlage in einer bedeutsamen Neuorientierung der psychologischen und pädagogischen Forschung. Die Systemtheorie (Familientherapie) machte uns darauf aufmerksam, dass das Schicksal von Zweierbeziehungen nicht nur von der Begegnung dieser beiden Menschen, sondern auch vom umgebenden Beziehungssys-
5 Vgl. Proksch (2002); Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich auch in Österreich ab (vgl. Fig-dor/Barth-Richtarz (2006), Barth-Richtarz (2006))
tem geprägt wird; Psychoanalytiker, die sich mit der frühen Mutter-Kind-Beziehung beschäftigten, erkannten, dass für die Entwicklung, aber auch für die Güte dieser Beziehung dem Vater als „drittes Objekt“ eine wesentliche Funktion zukommt6, schließlich verdanken wir der Scheidungsforschung zahlreiche Einsichten über die Folgen des Vaterverlustes und dadurch indirekt wiederum über die Bedeutung von Vätern, die für ihre Kinder verfügbar sind7.
Will man die Erkenntnisse der jüngeren Forschung im Hinblick auf die leitende Frage meines heutigen Vortrages – Wozu brauchen Kinder Väter? – zusammenfassen, so ließe sich formulieren: Eine gute Vater-Kind-Beziehung bietet zwar ebenso wenig eine Garantie für eine gesunde psychische Entwicklung wie eine gute Mutter-Kind-Beziehung. Schließlich gibt (und gab es immer) auch bei Kindern, die in sogenannten intakten Familien aufwuchsen, seelische Probleme; schließlich entdeckte Freud die Mechanismen der Neurosenentstehung nicht an Patienten, die aus Scheidungsfamilien kamen.
Aber eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Ohne eine gute Beziehung zu Mutter und Vater ist eine gesunde psychische Entwicklung nicht denkbar. Oder anders ausgedrückt: Ein funktionierendes Beziehungsdreieck zwischen Mutter, Vater und Kind ist – selbst wenn sich Mutter und Vater als Paar getrennt haben sollten – zwar noch keine hinreichende, jedenfalls aber eine notwendige Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung der Kinder.
Ich traue mich zu behaupten, dass unter allen gegenwärtigen Fachleuten, die sich mit der „Väter-Frage“ wissenschaftlich seriös auseinandergesetzt haben, über diesen Befund Übereinstimmung herrscht.
Ich werde versuchen, in der Kürze der Zeit, die mir zur Verfügung steht, Ihnen wenigstens einen Eindruck von den vielfältigen Funktionen des Vaters zu vermitteln, sodass Sie meiner Behauptung von der Wichtigkeit der Väter nicht nur mehr oder weniger Glauben schenken müssen, sondern vielleicht auch etwas von dem spüren können, was „der Papa“ für das heranwachsende Mädchen und den heranwachsenden Buben bedeutet.
III.
Zunächst ist es sinnvoll, zwei Arten von Funktionen des Vaters zu unterscheiden:
• die Bedeutung des Vaters als „drittes Objekt“, also als zweiter (andersgeschlechtlicher) Erwachsener, der die ursprünglich na-
6 Vgl. z.B. H. Figdor (2006b), Kapitel 2: Die ersten drei Jahre.
7 Vgl. z.B. Fthenakis (1988), Grieser (1998), Petri (1999).
hezu exklusive Diade (= Zweierbeziehung) zwischen Mutter und Kind allmählich zu einer Triade (= Drei-Personen-Beziehung) erweitert. Ich bezeichne sie als die strukturelle Bedeutung des Vaters.
• die Bedeutung des Vaters als (bewusst erlebte) Bezugsperson des Kindes, die Bedeutung der „Objektbeziehung“ zum Vater.
Die „frühe Triangulierung“
Eine Mutter sucht mich in meiner Praxis auf. Sie berichtet von nicht enden wollenden Kämpfen mit ihrem 4jährigen Sohn Ricki, der keinerlei Grenzen akzeptiert, Wutanfälle bekommt, wie man sie höchstens von Zwei- bis Dreijährigen („Trotzalter“) kennt. Sie wirkt völlig überlastet und verzweifelt. Ich frage sie, ob es auch Probleme mit der Sauberkeit gäbe – ein häufiges Begleitsymptom derartiger Beziehungsschwierigkeiten – und sie bestätigt, dass er fast jede Nacht das Bett nass mache.
Wenn ich von Problemen dieser Art höre, ist meine erste Assoziation: Diesem Kind stand (spätestens ab dem 2. Lebensjahr) kein emotional und einigermaßen kontinuierlich erreichbarer Vater zur Verfügung. In geschätzten sieben von zehn Fällen trifft sie zu8. (Häufig kommt hinzu, dass es sich um Kinder handelt, die übermäßig lang von ihren Müttern gestillt wur-den.9) So auch diesmal. Die Mutter hatte sich schon vor der Geburt vom Vater getrennt und die spärlichen Kontakte zwischen Vater und Sohn rissen kurze Zeit nach dem ersten Geburtstag ab. Wie aber ist dieser Zusammenhang zu erklären? Das Kind hat doch seinen Vater nie richtig kennen gelernt, verlangt auch nicht nach ihm!
Die Antwort darauf ist in der strukturellen Bedeutung des Vaters für die Entwicklungsaufgaben, vor die sich das Kind in den ersten drei Lebensjahren gestellt sieht, zu suchen. Als drittes Objekt ist er ein unerlässlicher Unterstützer und Katalysator der allmählichen Loslösung des Kindes aus der symbiotischen Verschmolzen-
8 Nimmt man sich der emotionalen Probleme dieser Kinder nicht an – etwa im Rahmen einer Erziehungsberatung – entwickeln übrigens viele von ihnen, ganz besonders Buben, eine Symptomatik, die später von Psychologen als „ADS“ oder „ADHS“ (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Stö-rung) diagnostiziert wird. Das Verhalten dieser Kinder wird heute vorschnell genetischen Ursachen angelastet, also als „Krankheit“ betrachtet und in überaus bedenklicher Weise zunehmend mit Psychopharmaka („Ritalin“) behandelt. (Vgl. dazu u.a. Bo-vensiepen/Hopf/Molitor 2002)
9 Vgl. H. Figdor (2006b), Kapitel 2: Die ersten drei Jahre.
heit mit der Mutter (in den ersten drei Lebensmonaten) bis hin zu dem Bewusstsein, in der Mutter zwar ein Liebesobjekt zu haben, aber als „Ich“ eine von ihr unabhängige Existenz zu führen (etwa mit 3 Jahren). Das bedeutet unterscheiden zu können, zwischen dem, was ich (als Kind) will und dem was du (die Mutter) willst; was meine Gefühle sind und welche Gefühle zu dir gehören; was auch heißt, auf meine Illusion meiner Macht über dich (bzw. das sym-biotische „uns“) zu verzichten, weil du ebenso unabhängig von mir bist wie ich von dir; und mir sicher zu sein, dass du weiterhin in Liebe zu mir existierst, auch wenn du gerade nicht hier, also von mir getrennt bist. Rickis Verhalten macht ganz deutlich, dass er diese Entwicklungsstufe noch nicht erreicht hat.
Um besser zu verstehen, wieso für diese Entwicklung der Vater so wichtig ist, eignet sich ein Bild, das der englische Psychoanalytiker Abelin von dieser Zeit der Loslösung aus der MutterKind-Symbiose zeichnete, besser als jede theoretische Erklärung.
Er vergleicht die Mutter mit einem sicheren Hafen, in dem man alles hat, was man zum Leben braucht und zudem von der Unbill des Wassers und der See geschützt ist. Jeder Seemann aber wird mit der Zeit unruhig, denn die Weite des Meeres, der Welt übt einen immer größeren Reiz aus. Doch ist die eigene Ausstattung – vielleicht ein Ruderboot – viel zu gering und der Ozean viel zu weit und unberechenbar. Wenn nun aber der Bucht, in welcher sich der Hafen befindet, eine Insel vorgelagert wäre – nicht allzu weit entfernt, mit ähnlicher Vegetation, voraussehbarem Wetter – dann könnte ich es wagen, hinzurudern, ohne allzu große Angst haben zu müssen. Und ich kann jederzeit, wenn mir danach ist, wieder zurückrudern. Als solch eine Insel müssen wir uns den Vater vorstellen. Auf diese Weise, „ganz al-lein“ zwischen Mutter und Vater hin- und her„rudernd“, vermag ich mich schon als richtiger (See)Mann zu fühlen. Fehlt hingegen diese Möglichkeit, diesen ersten Schritt in die Welt zu wagen, bleibe ich im Hafen = Mutterschoß gefangen, während mein Wünschen und Streben hinausgerichtet ist. Und so kann es leicht geschehen, dass ich beginne, gerade jenen Ort, der mir immer alles geboten hat und noch bietet, nicht nur zu lieben, sondern zugleich (oder abwechselnd) zu hassen.
Die ödipale Triangulierung
Es versteht sich von selbst, dass bei den meisten ganz kleinen Kindern, die (im Vergleich zur Mutter) zum Vater noch keine intensive Objektbeziehung aufgebaut haben – es gibt aber hier von Familie zu Familie sehr große Unterschiede –, jene strukturellen Funktionen im Vordergrund
stehen. Diese spielen aber auch in der Folge eine große Rolle. Von der ödipalen Phase war vorhin schon kurz die Rede. Zu ergänzen wäre, dass diese Zeit zwischen dem 4. und 7. Lebensjahr für die Kinder nicht nur durch schwierige innere Konflikte und daraus resultierende Ängste geprägt ist, sondern diese Phase, mit all ihren Belastungen, für die künftige Persönlichkeitsentwicklung der Kinder von großer Bedeutung ist. Mit ca. 6 Jahren – also noch vor dem Schulbesuch – hat das Kind gelernt,
- wie man mit den Konflikten, die sich ergeben, wenn man zu mehr als einer Person eine Liebesbeziehung unterhält, umgehen kann;
- dass man nicht untergeht, wenn die geliebten Personen auch untereinander eine Liebesbeziehung haben, ich mich also vorübergehend ausgeschlossen fühle;
- dass ich an Stärke, Selbstvertrauen und Autonomie gewinne, indem ich mich mit den Großen identifiziere;
- wodurch die Überzeugung „Auch ich werde eines Tages so groß, schön, gescheit, unabhängig und frei von Angst sein wie die Mama bzw. der Papa“ zu einem Teil des Selbstbildes wird;
- mit dem Ergebnis, dass nicht nur die Gegenwart, die ja primär durch meine Unterlegenheit gekennzeichnet ist, zählt, sondern die Zukunft, also das, was ich einmal sein werde, zu einem wichtigen Teil auch meines gegenwärtigen Lebens wird, woraus sich bedeutsame emotionale Konsequenzen ergeben: dass ich Zukunft habe tröstet über die Gegenwart; dass ich groß sein werde, verringert den inneren Zwang, hier und jetzt mit aller Kraft gegen die überlegenen Erwachsenen kämpfen zu müssen; schließlich richtet sich auch mein Ehrgeiz auf alles, was mit Zukunft und Großwerden zu tun hat – und dazu gehört nicht zuletzt das schulische Lernen.
Es bedarf wohl kaum einer weiteren Argumentation, um sich vorstellen zu können, dass diese wichtigen Schritte der Persönlichkeitsreifung dem Kind bei Abwesenheit des Vaters weit schwerer fallen10.
Die Entlastung der mütterlichen Objektbeziehung
Eine weitere strukturelle Funktion des Vaters möchte ich nicht unerwähnt lassen. Die Entlastung der Mutter-Kind-Beziehung von Konflikten auch über den Individuationsprozess der ersten Jahre hinaus.
Eine Szene, die alle, die mit Kindern zu tun
10 Zur ödipalen Entwicklung bei real abwesenden Vätern vgl. H. Figdor (1991).
haben kennen: Die Tochter – nennen wir sie Mara, 9 Jahre alt – ist mit ihrer Mutter zusammengekracht. (So etwas passiert, Gründe dafür gibt es hunderte: Die Welt, die wir unseren Kindern bieten (müssen), gerät mehrmals täglich in Konflikt mit dem, was Kinder gerne hätten oder täten.) Warum auch immer, Mara ist stinksauer auf ihre Mutter und zwar (aus ihrer Sicht) zurecht. Die Mutter sieht das natürlich anders, will sich das Aufbegehren ihrer Tochter nicht länger gefallen lassen und schickt sie (aus ihrer Sicht) zurecht in ihr Zimmer, andernfalls könne sie das morgige Fest bei ihrer Freundin in den Wind schreiben. Brüllend und Türen knallend verschwindet Mara in ihrem Zimmer. Dort schmiedet sie Rachepläne: Sie wird mit ihrer Mutter kein einziges Wort mehr reden, sie wird schon sehen! Sie wird auch nichts mehr anrühren, was ihre Mutter gekocht hat! Vielleicht geht sie einfach nicht mehr in die Schule, und dann kommt die Mutter ins Gefängnis, weil sie der Schulpflicht für ihre Tochter nicht nachkommt. Oder aber sie steigt der Mutter das nächste Mal auf den Fuß, was ihr besonders weh tut, weil sie Hühneraugen hat…. Von Idee zu Idee wird Mara größer und mächtiger, bis es ihr so richtig gut geht. Sie beschließt, ein Bild zu malen, von einer mächtigen, bösen Prinzessin, die alle, die ihr Böses wollen, in Bäume verzaubert. Nach einer halben Stunde ist sie fertig. Allerdings gerät ihr die Prinzessin inmitten eines freundlichen Waldes ganz lieblich, was Mara inzwischen aber gar nichts ausmacht. Sie findet ihr Bild überaus gelungen und tut, was sie immer tut, wenn sie etwas Schönes gezeichnet oder gemalt hat: Sie zeigt es ihrer Mutter. Diese – auch ihre Wut ist inzwischen verraucht – ist froh, dass ihre Tochter „nicht mehr spinnt“, bewundert das Bild, worauf Mara es ihr zum Geschenk macht…
So weit, so gut. Aber was hat das mit dem Vater zu tun? Nun, Mara hat sich für eine begrenzte Zeit ihrer Mutter emotional völlig entledigt, jedenfalls als Objekt ihrer zärtlichen Zuneigung. Ja, sie ist in ihrer Wut sogar gewillt, sie ins Gefängnis zu schicken. Wenn man bedenkt, wie abhängig Mara von ihrer Mutter ist, wie sie sie eigentlich liebt, sind diese aggressiven Phantasien, psychologisch betrachtet, eine enorme Leistung. Dazu war jedoch Mara nur in der Lage, weil alle ihre Rachephantasien von einem entscheidenden Gedanken getragen waren, den ich Ihnen bei der vorhergehenden Schilderung verschwiegen habe: „Ich brauch die Mama überhaupt nicht, ich hab ja den Papa! Und der liebt mich wirklich!“ Ohne diesen tröstlichen Gedanken, hätte sie die Verstimmung mit der Mutter, die ja dann „der einzige Mensch auf der Welt ist, den ich habe“, zutiefst bekümmern und ängstigen müssen.
Das aber ist genau die emotionale Konfliktsituation, die früher oder später dazu führt, Konflikte aus Angst vor Beziehungsverlust zu vermeiden, Enttäuschung und Ärger hinunterzuschlucken (zu „verdrängen“, wie wir das psychoanalytisch ausdrücken). Das führt entweder zu einer Überanpassung der Kinder11 oder zu einem Wechselbad zwischen harmonischer Zärtlichkeit zwischen Mutter und Kind und zeitweisen, besonders heftigen Explosionen, wenn dem Kind die Verdrängung nicht mehr gelingt. Man kann sich das wie einen Druckkochtopf vorstellen, dessen Ventil nicht spontan auf den Druck reagiert, sodass immer wieder ein bisschen Dampf abgelassen werden kann, sondern zugedreht ist, dann aber von Zeit zu Zeit der Deckel in die Luft fliegt.
Mara hingegen kann ihre Wut unterbringen (Dampf ablassen): zuerst durch reales Aufbegehren, dann in der Phantasie (in ihren Rachegedanken) und schließlich – in einem Zustand von Autonomie und angstfreiem Stolz – symbolisch durch kreatives Gestalten (Malen). Und das alles durch die bloße Existenz des Vaters, der gar nicht anwesend sein muss und von all dem überhaupt nichts weiß. Übrigens erfüllt er diese Funktion wahrscheinlich nicht nur für Ma-ra: Nachdem Mara türenknallend in ihrem Zimmer verschwunden war, kann sich die Mutter ausmalen, wie sie abends ihrem Mann ihr Leid klagen würde, wie dieser ein ernstes Wort mit der Tochter spricht usw. Auch für sie funktioniert der Vater als eine Art emotionales Ausweichgleis, als konfliktmilderndes „drittes Ob-jekt“, das ihr wie auch Mara ermöglicht, mit ihrer liebevollen Beziehung dort fortzufahren, wo sie vor einer halben Stunde unterbrochen wurde.
Der Vater als Liebes- und Identifizierungsobjekt
Ihrem Empfinden vertrauter werden wohl jene Bedeutungen des Vaters sein, die sich aus der unmittelbaren Beziehung des Kindes zu ihm ergeben. Spätestens ab dem 4. Lebensjahr nimmt die Attraktivität des Vaters rasant zu. Besonders die Mädchen entwickeln gegenüber den Vätern eine zärtliche, zumeist leidenschaftliche Zuneigung. Wenn einige meiner weiblichen Zuhörerinnen sich an jene frühe Liebe zu ihrem Vater nicht erinnern können, so heißt das keinesfalls, dass sie nicht stattgefunden hat: denn gerade die Gefühle und Phantasien der ödipalen Zeit verfallen etwa ab dem 6., 7. Le-
11 Zu den Gefahren einer aus Angst geborenen Anpassung vgl. H. Figdor (2006b), Kap. 1: Wieviel Erziehung braucht der Mensch?
bensjahr der Verdrängung. Wenn Sie sich heute (hoffentlich!) als Frau erleben, die Männern gegenüber zärtliche und erotische Gefühle entwickeln kann, die über bloße sexuelle Anziehung hinausgehen, dann schöpfen sie unbewusst aus dieser ödipalen Quelle. (Freilich wäre es auch denkbar, dass Ihr „Reservoir zärtlicher Liebe“ ausschließlich aus Ihrer frühen MutterBeziehung stammt. Ich komme auf diese Variante gleich zu sprechen.)
Für Mütter ist dieser Wechsel der Bevorzugung oft schwer zu verkraften, und sie suchen irrtümlicherweise nach einer Störung in der Beziehung zur Tochter, reagieren gekränkt, und/oder mit Rückzug oder Aggression. Aber keine Angst: Es ist ganz normal und mit 6 oder 7 Jahren kommt Ihr Töchterchen wieder „zu-rück“! Allerdings kommt es auch vor, dass Mädchen ihre ödipale Liebe nicht offen zeigen, speziell dann, wenn die Väter selten anwesend sind oder ihrerseits nicht offensiv auf ihre Töchter zugehen.
Solch ein Verhalten sollte uns eigentlich gar nicht so besonders befremden. Mir fällt dazu ein Jugenderlebnis ein. Ich war ca. 16 Jahre alt und verfiel einem Mädchen aus der Parallelklasse, mit der ich zweimal pro Woche in einer freiwilligen musikalischen Übung zusammentraf. Ich „schaffte“ es ein ganzes Jahr lang, jedes Mal schräg hinter ihr zu sitzen, sie die ganze Stunde hindurch begehrlich anzusehen – natürlich so, dass sie es nicht bemerkte –, ohne jemals ein Wort an sie zu richten. Dann war sie eines Tages verschwunden, weil sie in eine andere Schule wechselte. Sie hat nie erfahren, dass sie monatelang der Gegenstand der Träume eines Schulkameraden war…
Auch Buben lieben ihre Väter, doch ihre Liebe ist weit weniger von der zärtlich-leidenschaftlichen Art der Mädchen – diese Gefühle richtet der Bub weiterhin auf die Mutter –, sondern ist vielmehr von der Sehnsucht und dem Ehrgeiz geprägt, so zu werden wie der Vater. (Zwar habe ich vorhin davon gesprochen, dass die Identifizierung der Buben mit ihren Vätern, wie auch die Identifizierung der Mädchen mit den Müttern, die ödipale Phase im 6., 7. Lebensjahr abschließt, doch ist das, was wir in der Psychoanalyse mit „Identifizierung“ bezeichnen, natürlich kein punktuelles Geschehen – etwa in dem Sinn, dass die Buben/Mädchen abends „unidentifiziert“ ins Bett gingen und am nächsten Morgen mit ihren Vätern/Müttern identifiziert aufwachen würden.
Vorläufer von Identifizierungen finden wir schon in den ersten zwei Lebensjahren. Es handelt sich um einen allmählichen Prozess, der im 6., 7. Lebensjahr lediglich seinen Abschluss findet.) Wie furchtbar, in dieser Situation vom Vater „verlassen“ zu werden. Dabei besteht die Tragik, wie wir gleich sehen werden, nicht nur im Verlust des wichtigsten oder zweitwichtigsten Menschen.
Der Vater als Teil der geschlechtlichen Identitätsfindung
Was heißt „sexuelle Identitätsfindung“? Darunter ist die Gesamtheit der bewussten wie unbewussten Vorstellungen darüber zu verstehen, was es heißt, „ein Bub“ oder „ein Mädchen“ zu sein, was es heißt „ein Mann zu werden“, „eine Frau zu werden“. Dass Väter für die sexuelle Identitätsfindung ihrer Söhne bedeutungsvoll sind, hat sich zum Teil schon herumgesprochen. Aber sie sind für jene der Mädchen nicht minder wichtig. Denn das, was man mit Erik E. Erikson Identitätsgefühl nennt12, also auch das sexuelle Identitätsgefühl, setzt sich aus drei Komponenten zusammen:
Zum einen sind da die vom Kind an einem geliebten Objekt wahrgenommenen Eigenschaften. Das Kind möchte also so aussehen, reden, sich bewegen, sein wie die Mama oder Papa. Es möchte einmal so groß, so schön, so gescheit werden wie Mama oder Papa und „arbeitet“ schon jetzt daran. Psychoanalytisch gesprochen identifiziert sich das Kind mit seinen Eltern. Und ab dem Eintritt in das ödipale Alter gewinnt der gleichgeschlechtliche Elternteil als „Identifizierungsobjekt“ immer größere Bedeutung, also der Vater für die Buben und die Mutter für die Mädchen.
Daneben gibt es jedoch – wenngleich meist unbewusst – auch eine gegengeschlechtliche Identifizierung. Mit anderen Worten: Buben nehmen immer auch Eigenschaften ihrer Mutter und Mädchen Eigenschaften ihrer Väter in sich auf. Eine einigermaßen gut funktionierende Mutter-Vater-Kind-Triade gewährleistet unter anderem auch ein gewisses Gleichgewicht von „männlichen“ und „weiblichen“ Persönlichkeitsanteilen.
An die dritte Komponente des Identitätsgefühls wird seltener gedacht: Das Kind identifiziert sich nicht nur mit wahrgenommenen Eigenschaften seiner Eltern, sondern auch mit der Beziehung, die die Eltern ihrerseits zu ihm haben oder richtiger ausgedrückt: mit der Vorstellung, die sich das Kind von der Beziehung seiner Eltern zu ihm macht:
• Wenn ich als Kind das Gefühl habe, Mama oder Papa liebt mich, fühle ich mich liebenswert und mag mich auch selbst.
• Wenn ich das Gefühl habe, die Mama oder Papa ist stolz auf ihre Tochter/ihren Sohn, dann fühle ich mich als „richtiges Mädchen“, als „richtiger Bub“ und bin selbst auf mich und mein Geschlecht stolz.
Ebenso verhält es sich, wenn sich diese Eindrücke nicht auf mich, als „ganzes“ Kind, sondern selektiv auf bestimmte Seiten meiner Person beziehen. Wenn ich also das Gefühl habe,
12 Erik H. Erikson (1959).
Mama oder Papa lieben mich nur, wenn ich „brav“, „anschmiegsam“, „selbständig“, „stark“, „männlich“, „weiblich“, „vernünftig“, „emotional“, „vergnügt“, „leidend“ usf. bin,
• werde ich entweder mich nicht mögen können, wenn ich „nicht brav“, „nicht an-schmiegsam“, „nicht selbständig“ usw. bin und diese Seiten meiner Persönlichkeit allmählich verlieren (verdrängen);
• oder ich kämpfe beständig dagegen an, weil ich sein und immer geliebt werden will, wie ich bin. Wenn sich die Erwartungen der Eltern bzw. meine Vorstellung von ihren Erwartungen dann nicht ändern, besteht die Gefahr, dass ich das Gefühl, geliebt und willkommen, also liebenswert und attraktiv zu sein, völlig verliere.
Man könnte auch sagen, die Eltern fungieren als eine Art Spiegel meiner selbst, und da ich keinen anderen Spiegel zur Verfügung habe, muss ich annehmen, dass das, was ich in diesem Spiegel sehe, tatsächlich „Ich“ bin. D.h., ich identifiziere mich mit diesem Spiegelbild. Sie können sich nun unschwer vorstellen, was es bedeutet, wenn mir als Bub oder Mädchen der Vater als positives Identifizierungsobjekt, aber auch als „Spiegel“ fehlt.
Als Bub
• vermisse ich das männliche Modell, an dem ich mich orientieren könnte, und zwar sowohl für die Gegenwart als auch im Hinblick darauf, dass aus mir einmal „ein richtiger Mann“ wird;
• das erschwert mir aber auch die Identifizierung mit mütterlichen Anteilen, denn die Mutter ist ja (sexuell) das Andere, das Nicht-wie-ich. Männlich kann ich mich demnach nur fühlen, wenn ich anders bin, was auch das Nichtbefolgen der von ihr ausgehenden Regeln und Grenzen betrifft (übrigens der Hauptgrund, warum unter den sogenannten „verhaltensauffälligen“ Kindern hauptsächlich Buben sind, werden doch die Regeln, gegen die sie verstoßen, in der überwiegenden Mehrzahl von Frauen (Erzieherinnen, Lehrerinnen) repräsentiert. 13)
• Es fehlt mir der Vater als „Spiegel“, als Versicherung, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Aber nicht nur das: Sollte der Vater nicht bloß nicht existieren, sondern verloren worden sein – z.B. im Zuge einer Trennung oder Scheidung der Eltern – wird die Sache noch schlimmer: Kinder, ja selbst noch manche Jugendliche, erleben die Trennung der Eltern auch oder sogar in erster Linie so, dass dem Elternteil, mit dem man nicht mehr lebt, also zumeist dem Vater, an mir nicht mehr genug gelegen wäre, ich also nicht hinreichend liebenswert bin, nicht genüge;
13 Vgl. dazu auch H. Figdor (2006a), Kap. 11: Mythos Verhaltensstörung: Wer stört wen?
• schließlich wirkt sich seine Abwesenheit aber auch auf mein Bild aus, das ich vom weiblichen Geschlecht bzw. von heterosexuellen Beziehungen in mir aufbaue. Stellen Sie sich vor, was es für den künftigen Mann bedeutet, mit der Beziehung zwischen Mann und Frau nur die Beziehung zwischen dem kleinen Bub und der mächtigen Mutter zu assoziieren: Bin ich mit meiner Partnerin in gutem Einvernehmen, komme ich ihren Wünschen entgegen, fühle ich mich (zumeist natürlich unbewusst) klein, machtlos, unmännlich, „impotent“ (manchmal freilich im wörtlichen Sinn). Männlich hingegen fühle ich mich nur, wenn es mir – wie seinerzeit als „verhaltensauffälliges“ Kind – gelingt, die Frau zu dominieren. (Keine gute Voraussetzung für partnerschaftliche, emanzipierte Beziehungen!)
Und die Mädchen? Dem Mädchen, das ohne lebendige, intensive Beziehung zu seinem Vater aufwächst,
• fehlt die Möglichkeit, sich auch mit Eigenschaften, die man gemeinhin als „männlich“ bezeichnet, und eher von Vätern als Müttern repräsentiert werden, zu identifizieren;
• es geht ihnen aber auch das alltägliche Vertrautsein mit „dem Männlichen“ ab, was leicht dazu führt, dass später Männer zwar sexuell und als „das Andere“ durchaus attraktiv sein können, eigentlich aber exotische Wesen bleiben. Wie wir wissen, kann das Exotische sehr anziehen, aber es macht zugleich angst und unsicher;
• schließlich fehlt auch ihnen der Vater als Spiegel. Und das bedeutet bei Mädchen, dass ihnen unter Umständen die selbstverständliche Gewissheit, als Mädchen (Frau) für den Vater (Mann) liebenswert und attraktiv zu sein, abgeht. Und auch bei Mädchen wirkt sich in dieser Hinsicht die Scheidung bzw. Trennung der Eltern – die Kinder, wie erwähnt, als Verlassenwerden erleben – nachhaltig aus: Welch eine emotionale Hypothek hat die (künftige) Frau mit sich herumzuschleppen, wenn die Erinnerung an den ersten Mann, dem sie in zärtlicher Liebe zugetan war, durch das Erlebnis geprägt ist, von ihm verlassen worden zu sein. So wie bei den Buben das Gefühl „nicht genug (liebenswerter) Mann zu sein“ zu einem Bestandteil des lebenslangen Identitätsgefühls werden kann, ist das bei Mädchen – bewusst oder unbewusst – nicht selten das Gefühl „Ich bin als Frau nicht liebenswert und attraktiv genug, (von einem Mann) nicht verlassen zu werden.“ Woraus sich zwangsläufig eine starke Neigung zur Anpassung bzw. Unterwerfung ergibt, also das „ideale“ Gegenstück zur (ebenso angstgesteuerten) Dominanzneigung der Männer.
Von allem anderen abgesehen führen diese Auswirkungen der Vaterentbehrung auch auf Seiten der Mädchen zu tief verinnerlichten, großteils unbewussten Vorstellungen, die eine Fortschreibung traditioneller Beziehungsmuster zwischen Männern und Frauen begünstigen. Ohne provozieren zu wollen: In (i.w.S.) feministischen Kreisen ist oft die Vorstellung anzutreffen, die Frauen tendenziell als Träger der Emanzipation und die Männer eher als Repräsentanten traditioneller, repressiver Beziehungsmuster zu betrachten. Das mag auf der gesellschaftspolitischen Ebene, wo es um bewusste Werthaltungen geht, vielleicht auch stimmen. Was hingegen die Erziehung der Kinder betrifft, ist die Dominanz der Frauen in Kindergarten, Schule und Familie, zusammen mit der Entbehrung des Vaters wohl der bedeutsamste konservative Faktor. Kinder, die mit Mutter und Vater aufwachsen konnten – das geht natürlich auch trotz Scheidung oder Trennung der Eltern14 – haben eine größere Chance, auf eine „weiblich-männlich“ ausgeglichene Persönlichkeit, eine bessere narzisstische Ausstattung (Selbstvertrauen), größere Chancen auf einen gelingenden Bildungsweg: So bringen sie auch am ehesten die psychischen Voraussetzungen mit, emanzipatorische gesellschaftspolitische Einstellungen – die auf bewusster Ebene heute ja von den meisten Jugendlichen geteilt werden – auch in eine neue Art gelebter Mann-Frau-Beziehungen umzusetzen, die dann mehr Befriedigung schenken und besser funktionieren können – was schließlich einen bedeutsamen Mosaikstein dessen, was wir als „Glück“ bezeichnen, ausmacht.
Die väterliche Objektbeziehung als Stärkung der progressiven Anteile des Heranwachsenden
Wir alle sind nicht zu jedem Zeitpunkt „gleich alt“ oder „gleich reif“: Sie mögen 7 Stunden im Beruf ihren ganzen Mann, ihre ganze Frau stellen, abends jedoch eine Schulter benötigen, an die Sie sich anlehnen können; Sie mögen sich Ihrer Fähigkeiten und Ihres Rechts gewiss sein, dann aber wieder darauf angewiesen sein, dass Ihnen jemand versichert, dass Sie nicht alles falsch gemacht haben; Sie können sich bereit fühlen, für Ihre Lieben gegen die ganze Welt zu kämpfen und dann wieder ganz glücklich sein, wenn man Ihnen die Pantoffel bringt, Ihnen etwas kocht oder schenkt, sie also verwöhnt.
Diese Hin- und Herpendeln zwischen „Pro-
14 Vgl. dazu H. Figdor (1991) und (1997), ferner ders., (2006a), Kap. 5: Trennung und Scheidung: Katastrophe oder Chance für die Kinder und der., (2006b), Kap. 4: Worauf soll man bei Trennung und Scheidung besonders achten?
gression“ und „Regression“ ist bei Kindern noch viel auffälliger ausgeprägt. Was bei Kindern jedoch dazukommt ist, dass ihre progressiven und regressiven Anteile nicht nur zeit-, situations- und stimmungsabhängig, sondern auch davon abhängig sind, mit welchem seiner Elternteile das Kind gerade in Beziehung steht: Geht man von der für unsere Gesellschaft typischen Rollenverteilung aus, bleibt die Mutter (als erstes Liebesobjekt) auf der Ebene der unbewussten Erwartungen ein Leben lang eine „Brust“, die dazu da ist, zu geben und zu nähren, während der Vater – als „Insel“ (Sie erinnern sich!) – für die Welt da draußen, die es zu erobern gilt, steht. Aus diesem Grund tun sich Mütter zumeist schwerer als Väter, Grenzen durchzusetzen, vom Kind etwas zu verlangen, es dazu zu bringen, Trennung und Alleinbleiben zu akzeptieren, es zum Lernen und Hausübung-Machen zu motivieren, es mit Vernunftgründen zu Verhaltensänderungen zu bewegen usw. Die Kinder sind bei der Mutter weinerlicher, beim Vater mutiger; bei der Mutter trotziger, beim Vater kooperativer; bei der Mutter emotionaler, beim Vater vernünftiger. Das ist normal und keineswegs in erster Linie eine Sache „pädagogischen Geschicks“!
Nun ist es ja so, dass Beziehungen nicht zu Ende sind, wenn die betreffende Person abwesend ist. Wenn Sie unter Ihrem engstirnigen oder ungerechten Chef leiden, wird es Sie stärken, wenn Sie sich vorstellen, abends, gemeinsam mit Ihrem Partner, Ihrer Partnerin über ihn schimpfen oder lachen zu können. Und bei Mara haben wir gesehen, wie die Beziehung zu ihrem Vater wirkt, obwohl sie gerade nur mit der Mutter zusammen ist. Hält man sich das vor Augen, wird klar, wie sehr sich die mütterliche und väterliche Objektbeziehung ergänzen und kompensieren. Es gibt eine Art Fernwirkung der die progressiven Tendenzen des Kindes fördernden Vaterbeziehung auch dann, wenn das Kind bei der Mutter ist, und eine ebensolche Fernwirkung der zur Regression einladenden Mutterbeziehung, wenn das Kind beim Vater ist. Das heißt, das Kind wird bei der Mutter, zumindest hin und wieder, auch ein wenig vernünftig sein können, wenn es (bewusst oder unbewusst) an seinen Vater denkt. Und es wird sich, zumindest hin und wieder, auch beim Vater trauen, Gefühle zu zeigen und aufzubegehren. Fehlt hingegen einer der beiden Elternteile als emotional verfügbares Objekt, als selbstverständlicher Teil der Welt, drohen auch die zugehörigen Selbstanteile verloren zu gehen oder zu kurz zu kommen.
Ein Alter, in dem solche Einseitigkeiten typischerweise sichtbar werden, ist die Pubertät. Wenn ich z.B. von einer Mutter Klagen höre, dass ihre 13 oder 14jährige Tochter oder ihr ebenso alter Sohn nichts für die Schule lernt, keine Hausübungen macht, disziplinär auffällig
ist, keinerlei Grenzen akzeptiert, nur mit (zumeist älteren) Freunden herumhängt, abends nicht nach Hause kommt, ist meine erste Assoziation – wie früher beim vierjährigen Ricki –, dass dem/der Jugendlichen wahrscheinlich der Vater fehlt – real oder als aktiver und erreichbarer Teil des Lebens.
Und wie bei Ricki habe ich auch hier meistens recht, allerdings liegt die „Trefferquote“ noch höher: Es stimmt fast immer! Warum? Ich denke, die Antwort fällt nach dem bisher Gesagten nicht mehr allzu schwer: Schule und Leistung wird von diesen Jugendlichen als Teil der mütterlichen Anforderungen erlebt, weshalb die regressiven Widerstände gegen die Mutter, die im Unbewussten des Heranwachsenden „doch geben und nicht fordern sollte“, auf Lehrer, Schule, ja auf die Erwachsenenwelt überhaupt übertragen werden, während die Befriedigung der progressiven Bedürfnisse – etwas zu können, unabhängig zu sein, soziale und sexuelle Anerkennung zu gewinnen – ausschließlich außerhalb des (mütterlichen) Systems Familie-Schule und in Opposition zu ihm gesucht wird.
Aber nicht nur das: Die permanenten Konflikte mit der Mutter bringen unter Umständen mit sich, dass der/die Jugendliche auch „einen Teil seiner Mutter“ verliert, nämlich jenen immer noch wichtigen Ort, an dem man sich zu Hause, verwöhnt und geborgen fühlen kann. Wird aber bei den gleichaltrigen oder älteren Freunden unbewusst auch die verlorene Mutter gesucht, ist er oder sie in hohem Ausmaß gefährdet, weil von der Zuwendung der Gruppe abhängig. Dann kann es passieren, dass Vernunft oder Gewissen kapitulieren, nur um nicht ausgeschlossen zu werden. Solche Jugendliche werden dann höchst anfällig, in kriminelle oder antisoziale Kreise, in eine Drogenszene oder in die Fänge obskurer Interessensgemeinschaften oder Sekten zu geraten.
IV.
Es wird Zeit, dass ich nicht nur Sie auffordere, sich in das Fühlen und Denken der Kinder einzufühlen, sondern auch ich mich wieder der Frage zuwende, was meine Ausführungen bei Ihnen an Gefühlen und Gedanken ausgelöst haben könnten. Ich hatte Sie zu Beginn meines Vortrages eingeladen, die eventuell auftauchende Frage „Habe ich es richtig gemacht?“ bzw. „Was habe ich falsch gemacht?“ durch die Frage „Was wäre sinnvoll, in Zukunft zu tun bzw. zu verändern?“ zu ersetzen. Wenn ich mir nun vorstelle, ich würde nicht hier vorne als Referent stehen, sondern hätte mein Plädoyer für eine intensive Kind-Vater-Beziehung als Zuhörerin, als betroffene Mutter, verfolgt, kommen mir sofort drei Einwände, oder vielleicht besser: drei skeptische, kritische Fragen in den Sinn:
1. Verliert nicht das Plädoyer für eine fortgesetzte und möglichst intensive Vater-KindBeziehung seine Gültigkeit, wenn vom Vater nachgewiesenermaßen Gefährdungen oder schlechte Einflüsse ausgehen, z.B. Gewalt, Gefahr sexuellen Missbrauchs, charakterliche Defizite, divergierender Erziehungsstil (der das Kind dann hin- und herreißt und verunsichert)?
2. Was tue ich als Mutter, wenn der Vater nicht mitspielt, also seinerseits an einer solchen intensiven Beziehung nicht interessiert zu sein scheint oder gar aus dem Leben der Kinder verschwunden ist? Beide Fragen laufen auf eine dritte Frage hinaus:
3. Was hier über die entwicklungspsychologische Bedeutung des Vaters gesagt wurde, mag ja durchaus stimmen. Aber muss diese Funktion unbedingt der leibliche Vater einnehmen? Könnten nicht andere männliche Bezugspersonen, zu denen das Kind eine enge Beziehung unterhält, wie etwa Großväter oder Stiefväter, das Gleiche bieten wie (in einer intakten Kernfamilie) der Vater? Wäre das nicht in vielen Fällen sogar die bessere Lösung?
Wenn ich mir andererseits vorstelle, ich wäre einer der – hier doch bemerkenswert zahlreichen – Väter, würden mir vielleicht folgende Fragen durch den Kopf gehen:
4. Ich würde ja gerne ein solcher Vater sein, aber die Mutter verhindert es. Soll ich mich zurückziehen oder weiter um mein Recht, das Kind zu sehen, und um das Recht des Kindes, einen Vater zu haben, kämpfen?
5. Schließlich: Was soll ich tun, wenn ich den Kontakt zu meinem Kind völlig verloren habe? Gibt es irgendetwas, was ich noch für mein Kind tun kann?
Ich hatte eigentlich die Absicht, der Besprechung dieser Fragen einen größeren Raum zu geben. Allerdings habe ich meinen Zeitrahmen schon fast erschöpft, und muss mich mit ein paar Hinweisen begnügen15.
Lässt sich der leibliche Vater ersetzen?
Die Antwort lautet: Ja und Nein! Männliche Bezugspersonen wie Großväter kommen als männliche Identifizierungs- und Liebesobjekte durchaus in Frage. Wenn der Großvater aber nicht im selben Haushalt lebt, vermag er in den ersten drei Lebensjahren kaum als Triangulie-rungsobjekt dienen, weil dafür das Kind die regelmäßige gleichzeitige Anwesenheit von zwei Erwachsenen benötigt. Diese Funktion könnte allerdings ein Stiefvater, zu dem das Kind eine
15 In meinem 2007 Buch Patient Scheidungsfamilie gehe ich auf diese Fragen ausführlicher ein.
sichere und gute Beziehung aufgebaut hat, erfüllen. Weder Großvater noch Stiefvater können hingegen die Enttäuschung und den Trennungsschmerz, den ein Kind in der Beziehung zum Vater erlebt, ungeschehen machen. Und das betrifft den ganzen Bereich des sexuellen und narzisstischen Identitätsgefühls. Funktionen lassen sich vielleicht ersetzen. Liebesobjekte können weder wir Erwachsene und erst recht nicht die Kinder einfach austauschen.
Aber ist ein solcher Austausch nicht unerlässlich, wenn ich als Mutter gar nicht will, dass sich mein Sohn mit dem, was er am Vater wahrnimmt, identifiziert; ich gar nicht will, dass sich meine Tochter von „solch einem Mann“ geliebt erlebt und gespiegelt wird, wenn diese Beziehung möglicherweise sogar gefährlich ist? Wenn dem so ist, ist es für Sie als Mutter und möglicherweise für das Kind schlimm.
Nur: Zu hoffen, dass mit der Beendigung der realen Beziehung der Einfluss des Vaters zu Ende sei, wäre ein großer psychologischer Irrtum. Das Gegenteil ist der Fall: Wenn ich als Kind keine realen Erfahrungen mehr machen kann, bleibt mein gegenwärtiges Bild vom Vater und mit ihm jener Teil meines Selbstbildes, das mit dem Vater (über dessen Spiegelfunktion) verknüpft ist, unbewusst mein ganzes Leben lang lebendig.
Für immer trage ich dann in mir
• einen Vater zu haben, der nichts wert, ein böser oder verachtenswerter Mensch ist, für den man sich schämen muss. Was aber noch schlimmer ist: vielleicht trage ich seine Eigenschaften in mir und bin ebenso wertlos und werde dann von der Mutter verlassen. Jeder Streit mit der Mutter, jede Kritik aktiviert bewusst oder unbewusst diese Phantasie;
• einen Vater (gehabt) zu haben, der mir, seinem Kind, das ihm restlos vertraute, Gewalt angetan hat; oder der mich verlassen hat, wo ich doch an seiner Liebe nicht zweifelte usw.
• ein Mensch zu sein, dem andere, selbst die, die man liebt, Gewalt antun; ein Mensch zu sein, der verlassen wird, nicht liebenswert genug ist usw.
Je älter und reifer ein Kind wird, desto eher ist es in der Lage, diese Vater- und Selbstbilder zu differenzieren: dass der Vater nicht nur aus bösen Eigenschaften besteht; dass er zwar weg ist , aber mich (auf seine Art) dennoch liebt. Und vor allem: dass all das mit mir als Kind nichts zu tun hat, ich nicht schuld bin. Eine solche Differenzierung ist aber nur innerhalb einer lebendigen Auseinandersetzung möglich, und sei es – bei Vorliegen realer Gefahren – über Einrichtungen wie „Besuchsbegleitung“ bzw. „Begleiteter Umgang“. Verfallen die einseitig-„bösen“ Bilder hingegen der Verdrängung, können sie sich nicht verändern.
Im Gegenteil: Je verdrängter diese Vorstellungen sind, desto größer ist paradoxerweise die Gefahr, dass sich die Kinder unbewusst damit identifizieren. Es gibt nur einen einzigen Grund, warum man ein Kind von seinem Vater fernhalten sollte: wenn dieser aufgrund einer schweren psychischen Pathologie seinem Kind ausschließlich Erlebnisse beschert, abgelehnt, unerwünscht oder gehasst zu sein. Das aber ist nur ganz, ganz selten der Fall.
Mit anderen Worten: Selbst unvollkommene oder auch in gewissen Bereichen pädagogisch schädliche Väter lassen sich – ebenso wenig wie solche Mütter – austauschen. Mit einem solchen Versuch nimmt man dem Kind lediglich die Chance, dass diese problematischen Einflüsse im Zuge seines Reiferwerdens an Bedeutung verlieren. Ist eine Beziehung gar nicht möglich, z.B. weil der Vater seinerseits verschwunden ist, bleibt nur zweierlei: Alles versuchen, um einen (Neu-) Anfang zu ermöglichen, und wenn auch das nicht geht, den Vater bzw. die Erinnerung an ihn dem Kind gegenüber durch Geschichten aus der Vergangenheit und (wenn vorhanden) durch Fotografien „am Leben erhalten“ und dem Kind Erklärungen für seine Abwesenheit zur Verfügung stellen, die ihm ermöglichen, zumindest ein ambivalentes, also aus negativen wie auch guten Elementen zusammengesetztes, Bild zu entwickeln.
Was tun, wenn die Kinder verloren zu gehen drohen oder schon verloren sind?
Ein trauriges Kapitel, das ich mir da als Schlusswort ausgesucht habe. Denn für diese Väter scheint das Motto, unter welchen ich meinen Vortrag zu Beginn stellte – „Was sollte ich in Zukunft verändern?“ – nicht zu gelten, weil sie sich gegenüber den Müttern, manchmal auch den Kindern, die sie ablehnen, oder den Gerichten in einer Position der Ohnmacht erleben. Und traurig auch deshalb, weil ich Ihnen kaum etwas zu bieten habe außer den schwachen Trost, dass Ihre Einschätzung, dass Sie als Väter für Ihre Kinder wichtig wären, heute von mir bestätigt wurde. Und über die Möglichkeiten, die die Gesellschaft bereithält – Familientherapie, Erziehungsberatung, Mediation oder der neuerliche Gang zum Gericht – brauche ich Sie nicht aufzuklären: Das haben Sie aller Voraussicht nach bereits alles hinter sich.
Aber vielleicht gibt es für manche von Ihnen doch einen kleinen Hoffnungsschimmer, etwas, worüber Sie sich möglicherweise noch nicht genügend Gedanken gemacht haben, mithin einen Bereich, in dem Sie noch nicht alle Chancen, von Ihrer Seite her eine Veränderung zu initiieren, genützt haben: Ich habe im Laufe der Jahre viele Mütter kennen gelernt, die – mehr oder weniger aktiv – die Beziehung ihrer Kinder zum Vater ablehnten, zu minimieren versuchten oder gar verhinderten.
Fast alle von ihnen taten das aus zwei Gründen:
• weil sie im Zusammenhang mit der Trennung schwere emotionale Verletzungen davongetragen hatten, sich als Frau gekränkt, als Mutter im Stich gelassen fühlten und aus Stolz oder psychischem Selbsterhaltungstrieb ihrem Hass freien Lauf ließen;
• und/oder weil sie zu große Angst haben, das Kind an den Vater zu verlieren – emotional oder gar real (Entführung).
Versuchen Sie einmal – trotz des Hasses, der möglicherweise inzwischen auch von Ihnen Besitz genommen hat – die Geschichte Ihrer Trennung aus der Perspektive Ihrer früheren Frau zu betrachten, sich in sie einzufühlen. Vielleicht entdecken Sie dann etwas, was diese möglicherweise besänftigen oder ihr ihre Angst nehmen könnte. Mir ist klar, dass das von vielen Vätern, die selbst inzwischen psychisch schwer verletzt sind, einen emotionalen Kraftakt verlangt. Darum sollte man sich auch nicht scheuen, dafür die Unterstützung einer Beraterin oder eines Beraters in Anspruch zu nehmen. Es kommt vor, dass auch diese letzte Anstrengung nicht hilft. Sehr oft aber hat dieses aktive Bemühen um Versöhnung mit der Frau weit mehr Erfolg, als sie immer nur als (verantwortungslose) Mutter zu kritisieren oder zu beschimpfen.
Lese-Empfehlungen:
Helmuth Figdor (1991), Kinder aus geschiedenen Ehen. Zwischen Trauma und Hoffnung, Gießen, Psychosozial-Verlag, Neuauflage 2004.
Helmuth Figdor (1997), Scheidungskinder. Wege der Hilfe, Gießen, Psychosozial-Verlag, 4. Auflage 2003.
Helmuth Figdor (2006a): Praxis der psychoana-lytischen Pädagogik I, Vorträge und Aufsätze 2006 199 Seiten 19,90 Euro ISBN: 3-89806-511-1 ISBN: 978-3-89806-511-5;
Helmuth Figdor (2006b): Praxis der psychoana-lytischen Pädagogik II, Vorträge und Aufsätze Oktober 2006 ca. 250 Seiten 24,90 Euro ISBN: 3-89806-559-6 ISBN: 978-3-89806-559-7.
Vgl. auch den Beitrag von Helmuth Figdor im Internet, Wege der Hilfe im Online-Familienhandbuch, www.familienhandbuch.de.
Anschrift des Verfassers:
Universitäts-Dozent Dr. Helmuth Figdor
Mariahilferstr. 53/15, A-1060 Wien / Österreich
Tel. 0043-1-5868566.