Sonntag, 31. Januar 2010

Stunde der Liebe

FAMILIE

Stunde der Liebe

Israels Kibbuz-Frauen wollen nicht emanzipiert sein. Sie zeigen sich wenig interessiert an beruflichem Aufstieg, sind putzsuchtig und wünschen sich viele Kinder.

Frühmorgens klopft der Nachtwächter mit einem "boker tov" (Guten Morgen) an viele Türen. Bald darauf fahren die Männer hinaus aufs Feld und in die Fabriken. Die Frauen finden sich im Kinderhaus cm, stillen und füttern ihre Kleinsten. Um acht Uhr treffen sich alle zum großen Frühstück im Speisesaal.

So beginnt, üblicherweise, der Tageslauf für etwa 110 000 Israelis in rund 250 Kibbuzim. Doch der Höhepunkt in diesem Alltag kommt für die Mütter irgendwann nach neun Uhr.

Dann schlägt die "scheat haahava", die "Liebesstunde", in der sie ihre Kinder aus den Kinderhäusern zu sich holen, mit ihnen spielen oder spazierengehen.

Es ist eine erkämpfte halbe Stunde, denn Kindererziehung ist im Kibbuz eigentlich Sache der Gemeinden. Auf eigene Faust haben die Frauen, etwa von 1964 an, begonnen, ihre Kinder zu sich zu nehmen, wenn Schichtdienst oder Urlaub es zuließen.

Bald ließen sich viele Mütter -- 88 Prozent aller Kibbuz-Frauen sind erwerbstätig -- ihre Arbeitszeit so einteilen, daß sie sich ihre Sehnsucht nach den Kindern jeden Vormittag erfüllen konnten. Dann gab es in den Kinderhäusern Reibungen, weil nicht alle Mütter kamen. Also legitimierte das Erziehungskomitee die Vormittagspause, gab ihr den Namen "scheat haahava" und erhob sie zur Pflicht.

Ganz ähnlich entwickelt sich -- treibende Kraft: die Frauen -- die Familie überall in den Kibbuzim aus ihrem anfänglichen Schattendasein wieder zu der wichtigen "Primärgruppe", als die sie Wissenschaftlern in aller Welt schon immer galt.

"In jedem zehnten Kibbuz", konstatiert der Bremer Sozialpädagoge Gunnar Heinsohn, der seit 1976 die Familienentwicklung in den Kibbuzim beobachtet, haben es die Frauen "bereits durchgesetzt", daß ihre Kinder nicht mehr in den Kinderhäusern schlafen, sondern zu Hause.

Heinsohn sammelte Beweise für den neu erstandenen Familiensinn der Jüdinnen, vorgelegt in einem demnächst bei Suhrkamp erscheinenden Aufsatz "Frauen und Mütter im israelischen Kibbuz". Besonders auffällig fand der Bremer Wissenschaftler die "frappierende Kinderproduktion" bei der zweiten und dritten Kibbuz-Generation.

Auch das amerikanisch-israelische Autoren-Team Lionel Tiger und Joseph Shepher fand die Einstellung der Frauen "zur Familie weit positiver als die der Männer"*.

Dies überrascht, weil im Kibbuz von Anfang an geschlechtsneutral erzogen wurde und Mädchen immer jene Chancengleichheit hatten, um die sie in den Industrienationen noch kämpfen.

Vollendete Gleichberechtigung aller war das Ziel, als jüdische Männer und

* Lionel Tiger, Joseph Shepher: "Women in the Kibbutz". Penguin Books Ltd., Middlesex, England; 352 Seiten: 1.95 Pfund.

Frauen in den zwanziger Jahren aus der Diaspora in Palästina zusammenkamen und die ersten -- zunächst rein agrarisch arbeitenden -- "Kevuzot" (Gruppen) und "Kibbuzim" (Genossenschaftssiedlungen) gründeten. Die Familie sollte ins Kollektiv überführt, die Fron des Kochens, Putzens und Kinderhütens von den Frauen genommen werden.

Beide Geschlechter arbeiteten in der Produktion und aßen in Gemeinschaftsräumen das in Großküchen Bereitete. Alle erhielten gleich hohes Taschengeld. Ausgebildete Erzieherinnen betreuten rund um die Uhr die Kinder. Eltern und Kinder sahen einander nur in den Mußestunden nach der Arbeit und an Feiertagen. Allein für den Sex gab es noch Privaträume, später Appartements.

Küche und Kinderhaus blieben zwar Domäne der Frauen -- was einigen Theoretikern heute als Erklärung für deren Rückzug von der Emanzipation gilt -, doch war hausfrauliches Verhalten verpönt. Als die Pionierin und spätere israelische Premierministerin Golda Meir es nicht lassen konnte, an Freitagabenden den Tisch des Kibbuz mit weißen Tüchern und "einer Vase mit Wildblumen" zu zieren, wurde sie ""bürgerlicher" Schwäche" geziehen, ebenso wenn sie ihre Blusen bügelte.

Doch Golda ließ sich Blusen und Blumen -- wie sie später in ihren Erinnerungen ("Mein Leben für mein Land") mitteilte -- nicht nehmen: "Ich bestand darauf." Und mit der Zeit entwickelten mehr und mehr Kibbuz-Mädchen solche weiblichen Züge: 96 Prozent stimmten schon Mitte der sechziger Jahre für die Einrichtung von Schönheitssalons. Später setzten sie durch, daß ihnen ein höherer Kleider-Etat zugestanden wurde als den Männern -- und durchbrachen damit, wie Gunnar Heinsohn meint, das ansonsten "wirklich geheiligte Prinzip absolut gleicher Konsumtionsmittel" für alle.

Frauen auch nutzten die Nachmittagsstunden zu gemütlichen Familientreffs mit Kaffee und Kuchen. Auch die schon erwachsenen Kinder kommen mitunter dazu -- ins immer aufwendiger gestaltete Familienheim. Teppichboden und Gardinen erfordern Pflege, der Ehemann beteiligt sich am Hausputz.

"Fünf oder sechs Sprößlinge", berichtet Heinsohn, seien in den wiederauferstandenen Familien "keineswegs die sensationelle Ausnahme". So werde das Wiederaufleben einst überwunden geglaubter Geschl echterrollen unumgänglich -- so wenig das den Kibbuzgründern und den Ideologinnen der Frauenbewegung ins Konzept passen mag.

Auch eine Rückkehr zur Arbeitsteilung nach Geschlechtern fanden Tiger und Shepher, die fast zwei Drittel der erwachsenen israelischen Kibbuz-Bevölkerung befragt und beobachtet haben: Acht von zehn der jüngeren Frauen arbeiten in typisch weiblichen Dienstleistungsberufen wie Krankenschwester, Sekretärin, Lehrerin. Frauen sind weniger aktiv bei öffentlichen Versammlungen: "Je höher die Machtbefugnisse eines Amtes oder Gremiums, desto geringer der Frauenanteil"; und trotz gleicher Schulbildung "fallen Mädchen von der neunten Klasse an in ihren Leistungen hinter die der Jungen zurück" (Tiger/Shepher).

Die Frauen verlegen sich aufs Kinderkriegen: 52 Prozent der verheirateten Frauen haben drei und mehr, 75 Prozent der im Kibbuz geborenen Frauen wünschen sich vier oder mehr Kinder. Die durchschnittliche Kinderzahl pro Ehe ist mit 2.8 doppelt so hoch wie in der Bundesrepublik, Eheschließungs- und Geburtenraten sind dreimal so hoch und liegen seit einiger Zeit auch deutlich über denen der israelischen Gesamtbevölkerung. Die Scheidungsrate bei Kibbuz-Ehen sinkt.

"Warum", fragen die Autoren, "haben die Frauen im Kibbuz so viele Kinder?" Die Anthropologen Tiger und Shepher erklären das weibliche Verhalten "biogrammatisch", mit einer Art Säugetierinstinkt der Menschenfrau.

Heinsohn kritisiert diese Auffassung als "biologisches Vorurteil" und sucht die Antwort in der Sexualität. Kibbuz-Mädchen, spekuliert der Bremer Wissenschaftler, sehen in einer "immer längeren Reihe von Kindern", die sie "zwischen sich und den Mann" stellen, eine Möglichkeit, ihre "überlegene", da "nicht aberzogene sexuelle Potenz" in kibbuzgerechter Weise zu sublimieren.



DER SPIEGEL 11/1978
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG.

Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen diesen Artikel jedoch gerne verlinken.
Unter http://corporate.spiegel.de finden Sie Angebote für die Nutzung von SPIEGEL-Content zur Informationsversorgung von Firmen, Organisationen, Bibliotheken und Journalisten.
Unter http://www.spiegelgruppe-nachdrucke.de können Sie einzelne Artikel für Nachdruck bzw. digitale Publikation lizensieren.

Keine Kommentare: