Samstag, 2. Februar 2008

Über die Aggression

Quelle: Konrad Lorenz, "Über die Aggression", Sonderdruck von Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse, 1983 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co.KG, München

Wozu das Böse gut ist

Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
Goethe


Wozu kämpfen Lebewesen überhaupt miteinander? Kampf ist in der Natur ein allgegenwärtiger Vorgang, die Verhaltensweisen ebenso wie die Angriffs- und Verteidigungswaffen, die ihm dienen, sind so hoch entwickelt und so offensichtlich unter dem Selektionsdruck ihrer jeweiligen arterhaltenden Leistung entstanden, dass es uns zweifellos zur Pflicht gemacht ist, diese Frage Darwins zu stellen.

Der Laie, missleitet vom Sensationsbedürfnis der Presse und des Films, stellt sich das Verhältnis zwischen den »wilden Bestien« der »grünen Hölle« des Dschungels erfahrungsgemäß als einen blutdürstigen Kampf aller gegen alle vor. Noch jüngst gab es Filme, in denen man zum Beispiel einen Bengaltiger mit einem Python und gleich darauf diesen mit einem Krokodil kämpfen sah. Ich darf mit gutem Gewissen versichern, dass dergleichen unter natürlichen Bedingungen nie vorkommt. Welches Interesse hätte auch eines dieser Tiere daran, das andere zu vernichten ? Keines von ihnen stört die Lebensinteressen des anderen!

Auch denken Fernerstehende erfahrungsgemäß bei Darwins Ausdruck »Kampf ums Dasein«, der zum oft missbrauchten Schlagwort wurde, irrtümlicherweise meist an den Kampf zwischen verschiedenen Arten. In Wirklichkeit aber ist der »Kampf«, an den Darwin dachte und der die Evolution vorwärts treibt, in erster Linie die Konkurrent zwischen Nahverwandten. Das, was eine Art, so wie sie heute ist, verschwinden lässt oder in eine andere verwandelt, das ist die vorteilhafte »Erfindung«, die einem oder wenigen Artgenossen ganz zufällig durch einen Treffer im ewigen Würfelspiel der Erbänderungen in den Schoß fällt. Die Nachkommen des Glücklichen übervorteilen, wie schon S. 20 dargestellt, alsbald alle anderen, bis die betreffende Art nur aus Individuen besteht, denen die neue »Erfindung« zu eigen ist.
Es gibt allerdings auch kampf-artige Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Arten. Ein Uhu schlägt und frisst des Nachts selbst scharf bewaffnete Raubvögel trotz ihrer gewiss recht energischen Gegenwehr. Wenn diese dann die große Eule am hellen Tage antreffen, greifen sie ihrerseits voll Hass an. Fast jedes einigermaßen wehrhafte Tier, vom kleinen Nagetier aufwärts, kämpft wütend, wenn ihm zur Flucht kein Ausweg bleibt. Neben diesen drei besonderen Typen des zwischenartlichen Kampfes gibt es noch andere, weniger spezifische Fälle.

Zwei höhlenbrütende Vögel verschiedener Arten mögen um eine Nisthöhle, beliebige gleich starke Tiere ums Futter streiten usw. Über die drei oben durch Beispiele illustrierten Fälle zwischenartlichen Kämpfens muss hier einiges gesagt werden, um ihre Eigenart aufzuzeigen und sie von der innerartlichen Aggression abzugrenzen, die der eigentliche Gegenstand dieses Buches ist. Viel offensichtlicher als bei innerartlichen ist bei allen zwischenartlichen Auseinandersetzungen die arterhaltende Funktion. Die wechselseitige Beeinflussung der Evolution von Raubtier und Beute liefert geradezu Musterbeispiele dafür, wie der Selektionsdruck einer bestimmten Leistung entsprechende Anpassung bewirkt. Die Schnelligkeit der gejagten Huftiere züchtet den sie jagenden Großkatzen gewaltige Sprungkraft und fürchterlich bewehrte Tatzen an, diese ihrerseits der Beute immer feinere Sinne und immer flinkere Läufe. Ein eindrucksvolles Beispiel eines solchen evolutiven Wettlaufs zwischen Angriffs und Verteidigungswaffen liefert die palaeontologisch gut belegte Differenzierung immer härter und kaufähiger werdender Zähne bei grasfressenden Säugetieren und die parallel verlaufende Entwicklung der Nahrungspflanzen, die sich durch Einlagerung von Kieselsäure und andere Schutzmaßnahmen gegen das zerkaut Werden nach Möglichkeit schützen.

Doch führt diese Art von »Kampf« zwischen dem Fresser und dem Gefressenen nie dazu, dass das Raubtier die Beute ausrottet, immer stellt sich zwischen ihnen ein Gleichgewichtszustand her, der für beide, als Arten betrachtet, durchaus erträglich ist. Die letzten Löwen würden Hungers gestorben sein, lange ehe sie das letzte zuchtfähige Paar von Antilopen oder Zebras getötet hätten, oder, ins Menschlich-Kommerzielle übersetzt, die Walfang-Schifferei würde längst bankrott machen, ehe die letzten Wale ausgerottet wären. Was eine Tierart unmittelbar in ihrer Existenz bedroht, ist nie der »Fressfeind«, sondern, wie gesagt, immer nur der Konkurrent. Als in grauer Vorzeit der Dingo, ein primitiver Haushund, vom Menschen nach Australien gebracht wurde und dort verwilderte, rottete er keine einzige Art seiner Beutetiere aus, wohl aber die großen Beutelraubtiere, die auf die gleichen Tiere Jagd machten wie er. An Kampfkraft waren ihm die einheimischen großen Beutelraubtiere, der Beutelwolf und der Beutelteufel, erheblich überlegen, aber die Jagdart dieser altertümlichen, verhältnismäßig dummen und langsamen Wesen war der des »modernen« Säugetieres unterlegen. Der Dingo verminderte die Populationsdichte der Beutetiere so sehr, dass die Methoden der Konkurrenten nicht mehr »lohnten«. So leben sie heute nur mehr in Tasmanien, wo der Dingo nicht hingekommen ist.

Aber auch in anderer Hinsicht ist die Auseinandersetzung zwischen Raubtier und Beute kein Kampf im eigentlichen Sinne des Wortes. Zwar mag das Zuschlagen der Tatze, mit dem der Löwe seine Beute ergreift, in seiner Bewegungsform demjenigen gleichen, mit dem er seinem Nebenbuhler eins auswischt, wie ja auch ein Jagdgewehr und ein Militärkarabiner einander äußerlich ähneln. Aber die inneren, verhaltensphysiologischen Beweggründe des Jägers sind von denen des Kämpfers grundverschieden. Der Büffel, den der Löwe niederschlägt, ruft dessen Aggression so wenig hervor, wie der schöne Truthahn, den ich soeben voll Wohlgefallen in der Speisekammer hängen sah, die meine erregt. Schon in den Ausdrucksbewegungen ist die Verschiedenheit der inneren Antriebe deutlich abzulesen. Der Hund, der sich voll Jagdpassion auf einen Hasen stürzt, macht dabei genau dasselbe gespannt-freudige Gesicht, mit dem er seinen Herrn begrüßt oder ersehnten Ereignissen entgegensieht. Auch dem Gesicht des Löwen kann man, wie aus vielen ausgezeichneten Photographien zu entnehmen ist, im dramatischen Augenblick vor dem Sprunge ganz eindeutig ansehen, dass er keineswegs böse ist: Knurren, Ohrenzurücklegen und andere vom Kampfverhalten her bekannte Ausdrucksbewegungen sieht man von jagenden Raubtieren nur, wenn sie sich vor einer wehrhaften Beute erheblich fürchten - und selbst dann nur in Andeutungen.

Näher mit echter Aggression verwandt als der Angriff des Jägers auf seine Beute ist der interessante umgekehrte Vorgang, die »Gegenoffensive« des Beutetieres gegen den Fressfeind. Besonders sind es gesellschaftlich lebende Tiere, die zu vielen das sie gefährdende Raubtier angreifen, wo immer sie ihm begegnen. Deshalb nennt die englische Sprache den in Rede stehenden Vorgang »mobbing«, der deutschen Umgangssprache fehlt ein entsprechendes Wort, nur die alte Jägersprache hat eins, die sagt: Krähen oder andere Vögel »hassen auf« den Uhu, die Katze oder sonst einen nächtlich jagenden Fressfeind, wenn sie seiner bei Tageslicht ansichtig werden. Man würde indessen selbst bei Hubertus Jüngern Anstoß erregen, wollte man etwa sagen, eine Rinderherde habe »auf« einen Dackel »gehasst«, obwohl es sich tatsächlich, wie wir sogleich hören werden, um einen durchaus vergleichbaren Vorgang handelt.

Die arterhaltende Leistung des Angriffs auf den Fressfeind ist offensichtlich. Selbst wenn der Angreifer klein und waffenlos ist, tut er dem Angegriffenen sehr fühlbaren Schaden. Alle einzeln jagenden Tiere haben ja nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn ihr Angriff die Beute überrascht. Dem Fuchs, dem ein Eichelhäher laut kreischend durch den Wald folgt, dem Sperber, hinter dem ein Schwärm zwitschernder, warnschreiender Bachstelzen herfliegt, ist die Jagd für heute gründlich verdorben. Durch das Hassen vieler Vögel auf Eulen, die sie bei Tage entdeckt haben, soll offenbar der nächtliche Jäger so weit vertrieben werden, dass er am nächsten Abend anderswo jagt. Besonders interessant ist die Funktion des Hassens bei manchen sehr sozialen Vögeln, wie bei den Dohlen und vielen Gänsen. Bei ersteren liegt der wichtigste Arterhaltungswert des Hassens darin, den unerfahrenen Jungen beizubringen, wie der gefährliche Fressfeind aussieht. Angeborenermaßen wissen sie dies nämlich nicht. Ein für Vögel einzigartiger Fall von traditionell weitergegebenem Wissen!

Die Gänse »wissen« zwar auf Grund recht selektiver angeborener Auslösemechanismen, dass etwas Pelziges, Rotbraunes, langgestreckt Dahinschleichendes höchst gefährlich ist, aber dennoch ist auch bei ihnen die arterhaltende Leistung des »mobbing« mit all seiner ungeheuren Aufregung und dem Zusammenströmen vieler, vieler Gänse von weither im wesentlichen lehrhafter Natur. Wer es noch nicht gewusst hat, lernt dabei: Hier kommen Füchse vor! Als an unserem See nur ein Teil des Ufers durch ein fuchssicheres Gitter vor Raubtieren geschützt war, mieden die Gänse jegliche Deckung, die einen Fuchs hätte verbergen können, auf einen Abstand von 15 und mehr Meter, während sie im geschützten Gebiet furchtlos in die Dickichte junger Fichten eindrangen. Neben dieser didaktischen Leistung hat das Hassen auf Raubsäugetiere bei Dohlen wie bei Gänsen selbstverständlich auch noch seine ursprüngliche Wirkung, dem Feinde das Leben sauer zu machen. Dohlen stoßen nachdrücklich und tätlich auf ihn, und die Gänse scheinen ihn durch ihr Geschrei, ihre Menge und ihr furchtloses Auftreten einzuschüchtern.

Die schweren Kanadagänse gehen dem Fuchs sogar zu Lande in geschlossener Phalanx nach, und nie habe ich gesehen, dass er dabei versucht hätte, einen seiner Quälgeister zu fangen. Mit zurückgelegten Ohren und ausgesprochen geekeltem Gesicht sieht er über die Schulter weg nach der trompetenden Gänseschar und trollt sich langsam, sein »Gesicht wahrend«, von dannen.
Besonders wirkungsvoll ist natürlich das »mobbing« bei größeren und wahrhaften Pflanzenfressern, die, wenn ihrer viele sind, selbst große Raubtiere aufs Korn nehmen. Zebras sollen nach einem glaubhaften Bericht sogar den Leoparden belästigen, wenn sie ihn einmal auf deckungsarmer Steppe erwischen. Unseren Hausrindern und -Schweinen liegt der soziale Angriff gegen den Wolf noch so sehr im Blut, dass man durch sie in ernste Gefahr geraten kann, wenn man eine von einer größeren Herde bevölkerte Weide in Begleitung eines ängstlichen jungen Hundes betritt, der, anstatt die Angreifer zu verbellen oder selbständig zu fliehen, zwischen den Beinen des Herrn Schutz sucht. Ich selbst musste einmal samt meiner Hündin Stasi in einen See springen und schwimmend mein Heil suchen, als eine Herde von Jungrindern einen Halbkreis um uns gebildet hatte und drohend vorrückte. Mein Bruder hat im Ersten Weltkrieg in Südungarn einen angenehmen Nachmittag auf einer Kopfweide verbracht, auf die er mit seinem Scotchterrier unter dem Arm geklettert war, weil eine Herde der frei im Walde weidenden, halbwilden ungarischen Schweine die beiden eingekreist hatte und den Kreis, in unverkennbarer Absicht die Hauer entblößend, immer enger zog.

Man könnte noch viel über diese wirksamen Angriffe auf den - wirklichen oder vermeintlichen - Fressfeind sagen. Bei manchen Vögeln und Fischen haben sich im Dienste dieses besonderen Vorgangs grellbunte »aposematische« oder Warn-Farben herausgebildet, die sich das Raubtier gut merken und mit den unangenehmen Erfahrungen assoziieren kann, die es mit der betreffenden Art gemacht hat. Giftige, übelschmeckende oder sonstwie geschützte Tiere der verschiedensten Verwandtschaftsgruppen sind bei der »Wahl« dieser Warnsignale auffallend oft auf Zusammenstellung von Rot, Weiss und Schwarz verfallen, und höchst merkwürdigerweise taten zwei Wesen, die außer ihrer wirklich »springgiftigen« Angriffslust weder miteinander noch mit den erwähnten Giftwesen etwas gemein haben, genau dasselbe: die Brandente und die Sumatrabarbe. Von der Brandente ist seit langem bekannt, dass sie auf Raubtiere intensiv hasst und dem Fuchs den Anblick ihres bunten Gefieders so verekelt, dass sie ungestraft in bewohnten Fuchsbauten brüten kann. Sumatrabarben kaufte ich mir, weil ich mich fragte, wozu die Fischchen so ausgesprochen giftig aussähen, eine Frage, die sie mir sofort beantworteten, indem sie in einem großen Gemeinschaftsaquarium große Buntbarsche derart »mobbten«, dass ich die räuberischen Riesen vor den nur scheinbar harmlosen Zwergen schützen musste.

Ebenso leicht wie beim Angriff des Raubtiers auf seine Beute und beim Hassen des Beutetieres auf seinen Fressfeind ist die Frage nach der arterhaltenden Leistung bei einer dritten Art von Kampfverhalten zu beantworten, die wir mit H. Hediger die kritische Reaktion nennen. Der Ausdruck »fighting like a cornered rat« ist bekanntlich im Englischen zum Symbol des Verzweiflungskampfes geworden, in dem der Kämpfer alles einsetzt, weil er nicht entkommen kann und keinerlei Gnade zu erwarten hat. Diese heftigste Form des Kampfverhaltens ist von Furcht motiviert, von intensivstem Fluchtdrang, dem seine gewöhnliche Auswirkung im Davonlaufen dadurch verwehrt ist, dass die Gefahr %u nahe ist. Das Tier wagt dann gewissermaßen nicht mehr, dieser den Rücken zuzuwenden, und greift mit dem sprichwörtlichen »Mute der Verzweiflung« an. Genau dasselbe kann eintreten, wenn, wie bei der in die Ecke getriebenen Ratte, räumliche Ausweglosigkeit die Flucht verhindert; ebenso aber auch, wenn dies der Drang zur Verteidigung der Brut oder der Familie tut. Auch der Angriff einer Hühnerglucke oder eines Ganters auf jedwedes Objekt, das den Kücken zu nahe kommt, ist als kritische Reaktion zu werten. Bei überraschendem Erscheinen eines furchterregenden Feindes innerhalb einer bestimmten kritischen Entfernung greifen sehr viele Tiere ihn heftigst an, während sie schon auf viel größeren Abstand geflohen wären, hätten sie ihn von weitem sich nähern gesehen. Zirkusdompteure manövrieren große Raubtiere an beliebige Stellen der Manege, indem sie mit dem Schwellenwert zwischen Fluchtdistanz und kritischer Distanz ein gefährliches Spiel treiben, was Hediger sehr anschaulich geschildert hat. Wie in tausend Jagdgeschichten zu lesen steht, sind Großraubtiere in dichter Deckung höchst gefährlich. Dies ist vor allem deshalb so, weil dort die Fluchtdistanz besonders klein wird; das Tier fühlt sich geborgen und rechnet damit, dass der durchs Dickicht brechende Mensch es selbst dann nicht bemerkt, wenn er ziemlich nahe an ihm vorbeikommt. Unterschreitet er aber dabei die kritische Distanz des betreffenden Tieres, so passiert schnell und tragisch ein so genannter Jagdunfall.
Den eben besprochenen besonderen Fällen, in denen Tiere verschiedener Arten miteinander kämpfen, ist das eine gemeinsam, dass der Vorteil klar zutage liegt, den jeder der Streitenden durch sein Verhalten erringt oder doch im Interesse der Arterhaltung erringen »soll«. Auch die innerartliche Aggression, die Aggression im eigentlichen und engeren Sinne des Wortes, vollbringt eine arterhaltende Leistung! Auch in Bezug auf sie kann und muss die Darwinsche Frage »wozu ?« gestellt werden. Dies wird so manchem nicht unmittelbar einleuchten und dem des klassischen psychoanalytischen Denkens Gewohnten vielleicht als der frevelhafte Versuch einer Apologie des lebensvernichtenden Prinzips, des Bösen schlechthin, erscheinen. Der normale Zivilisationsmensch bekommt ja echte Aggression meistens nur dann zu sehen, wenn zwei seiner Mitbürger oder seiner Haustiere sich in die Wolle kriegen, und sieht so begreiflicherweise nur die üblen Auswirkungen solchen Zwistes. Dazu kommt die wahrhaft erschreckende Reihe fließender Übergänge, die von zwei Hähnen, die auf dem Mist raufen, weiter aufwärts führt über Hunde, die sich beißen, Buben, die sich abwatschen, Burschen, die einander Bierkrügel auf die Köpfe hauen und weiter aufwärts zu schon ein wenig politisch getönten Wirtshausraufereien bis schließlich zu Kriegen und Atombomben.

Wir haben guten Grund, die intraspezifische Aggression in der gegenwärtigen kulturhistorischen und technologischen Situation der Menschheit für die schwerste aller Gefahren zu halten. Aber wir werden unsere Aussichten, ihr zu begegnen, gewiss nicht dadurch verbessern, dass wir sie als etwas Metaphysisches und Unabwendbares hinnehmen, vielleicht aber dadurch, dass wir die Kette ihrer natürlichen Verursachung verfolgen. Wo immer der Mensch die Macht erlangt hat, ein Naturgeschehen willkürlich in bestimmter Richtung zu lenken, verdankt er sie seiner Einsicht in die Verkettung der Ursachen, die es bewirken. Die Lehre vom normalen, seine arterhaltende Leistung erfüllenden Lebensvorgang, die so genannte Physiologie, bildet die unentbehrliche Grundlage für die Lehre von seiner Störung, für die Pathologie. Wir wollen also für den Augenblick vergessen, dass der Aggressionstrieb unter den Lebensbedingungen der Zivilisation sehr gründlich »aus dem Gleise geraten« ist, und uns möglichst unbefangen der Erforschung seiner natürlichen Ursachen zuwenden. Als gute Darwinisten und aus bereits ausführlich dargestellten guten Gründen fragen wir zunächst nach der arterhaltenden Leistung, die das Kämpfen gegen Artgenossen unter natürlichen, oder besser gesagt vorkulturellen, Bedingungen vollbringt und die jenen Selektionsdruck ausgeübt hat, dem es seine hohe Entwicklung bei so vielen höheren Lebewesen verdankt. Es sind ja keineswegs nur die Fische, die in der bereits geschilderten Weise ihre Artgenossen bekämpfen, die große Mehrzahl aller Wirbeltiere tut es ebenso.

Die Frage nach dem Arterhaltungswert des Kämpfens hat bekanntlich schon Darwin selbst gestellt und auch schon eine einleuchtende Antwort gegeben: Es ist für die Art, für die Zukunft, immer von Vorteil, wenn der stärkere von zwei Rivalen das Revier oder das umworbene Weibchen erringt. Wie so oft, ist diese Wahrheit von gestern zwar keine Unwahrheit, aber doch nur ein Spezialfall von heute, und die Ökologen haben in jüngerer Zeit eine noch viel wesentlichere arterhaltende Leistung der Aggression nachgewiesen. Ökologie kommt von griechisch „das Haus", und ist die Lehre von den vielfältigen Wechselbeziehungen, die zwischen dem Organismus und seinem natürlichen Lebensraum, seinem »Zu-Hause«, bestehen, zu dem natürlich auch alle anderen, ebenfalls dort lebenden Tiere und Pflanzen zu rechnen sind. Wenn nicht etwa die Sonder-Interessen einer sozialen Organisation ein enges Zusammenleben fordern, ist es aus leicht einsehbaren Gründen am günstigsten, die Einzelwesen einer Tierart möglichst gleichmäßig über den auszunutzenden Lebensraum zu verteilen. In einem Gleichnis aus dem menschlichen Berufsleben ausgedrückt: Wenn in einem bestimmten Gebiet auf dem Lande eine größere Anzahl von Ärzten oder Kaufleuten oder Fahrradmechanikern ihr Auslangen finden soll, werden die Vertreter jedes dieser Berufe gut daran tun, sich möglichst weit weg voneinander anzusiedeln.

Die Gefahr, dass in einem Teil des zur Verfügung stehenden Biotops eine allzu dichte Bevölkerung einer Tierart alle Nahrungsquellen erschöpft und Hunger leidet, während ein anderer Teil ungenutzt bleibt, wird am einfachsten dadurch gebannt, dass die Tiere einer Art einander abstoßen. Dies ist, in dürren Worten, die wichtigste arterhaltende Leistung der intraspezifischen Aggression. Und nun sind wir auch imstande, uns einen Reim darauf zu machen, warum gerade die ortsansässigen Korallenfische so verrückt gefärbt sind.
Es gibt auf der Erde wenige Biotope, in denen so viel und vor allem so verschiedenartige Nahrung zur Verfügung steht wie auf dem Korallenriff. Eine Fischart kann hier, stammesgeschichtlich gesprochen, »die verschiedensten Berufe ergreifen«. Der Fisch kann sich als »ungelernter Arbeiter« sehr wohl mit dem durchbringen, was ein Durchschnittsfisch sowieso kann, indem er Jagd auf kleinere, nicht giftige, nicht gepanzerte, nicht stachelige oder sonstwie wehrhafte Lebewesen macht, die vom offenen Meere her in Massen auf das Riff zukommen, teils als »Plankton« passiv von Wind und Wellen getrieben, teils aber aktiv anschwimmend in der »Absicht«, sich auf dem Riff selbst niederzulassen, wie das die Millionen und Abermillionen der freischwimmenden Larven aller Riff bewohnenden Organismen tun.

Andererseits kann sich eine Fischart darauf spezialisieren, auf dem Riff selbst lebende und dann stets in irgendeiner Weise geschützte Lebewesen zu fressen, deren Schutzmaßnahmen sie in irgendeiner Weise unwirksam machen muss. Die Korallen selbst liefern einer ganzen Reihe von Fischarten Nahrung, und zwar auf ganz verschiedene Art. Die spitzschnäuzigen Schmetterlingsfische oder Borstenzähner ernähren sich meist als Nahrungsparasiten der Korallen und anderer Nesseltiere. Sie suchen dauernd die Korallenstöcke nach kleinen Beutetieren ab, die sich in den Nesselarmen der Korallenpolypen gefangen haben. Sowie sie solches bemerken, erzeugen sie durch Fächeln mit den Brustflossen einen Wasserstrom, der so genau auf die Beute gerichtet ist, dass an der betreffenden Stelle ein »Scheitel« zwischen den Korallentieren entsteht, die samt ihren nesselbewehrten Fangarmen nach allen Seiten hin flachgedrückt werden, so dass der Fisch, fast ohne sich die Nase zu verbrennen, die Beute weg zupfen kann. Ein bisschen brennt es doch immer, man sieht den Fisch »niesen« und ein wenig die Nase schütteln, aber dies scheint wie Paprika nur als angenehmer Reiz auf ihn zu wirken. Jedenfalls fressen solche Fische, wie etwa meine schönen gelben und braunen Schmetterlingsfische, dieselbe Beute, etwa ein Fischstückchen, lieber, wenn es bereits in den Tentakeln eines Nesseltieres klebt, als wenn es frei im Wasser schwimmt. Andere Verwandte haben sich eine stärkere Immunität gegen das Nesselgift zugelegt und fressen die Beute samt dem Korallentier, das sie gefangen hat, wieder andere machen sich überhaupt nichts aus den Nesselkapseln der Hohltiere und fressen Korallentiere, Hydroidpolypen und selbst große, stark nesselnde Seeanemonen in sich hinein, wie eine Kuh Gras frisst. Die Papageifische gar haben sich zur Gift-Immunität hinzu noch ein kraftvolles Brechscherengebiss angezüchtet und fressen die Korallenstöcke buchstäblich mit Butz und Stingel. Wenn man in der Nähe einer weidenden Herde dieser herrlich bunten Fische taucht, hört man es krachen und knacken, als ob eine kleine Schottermühle am Werk sei - was ja auch den Tatsachen entspricht. Wenn sich so ein Fisch entleert, so rieselt ein kleiner Regen weißen Sandes hernieder, und der Beobachter wird sich mit Staunen bewusst, dass all der schneeig reine Korallensand, der sämtliche Lichtungen im Korallenwalde bedeckt, offenbar den Weg durch einen Papageifisch hinter sich hat.
Andere Fische wiederum, die Haftkiefer, zu denen die humorvollen Kugel-, Koffer- und Igelfische gehören, haben sich auf das Knacken hartschaliger Mollusken, Krebstiere und Seeigel eingestellt, wiederum andere, so die Kaiserfische, sind Spezialisten im blitzraschen Abpflücken der schönen Federkronen, die gewisse Röhrenwürmer aus ihren harten Kalkröhren hervor strecken und die durch ihre Fähigkeit zum schnellen Zurückzucken vor dem Zugriff anderer, etwa langsamerer Räuber geschützt sind. Die Kaiserfische aber haben eine Art, sich seitlich anzuschleichen und mit einem blitzartigen seitwärts Rucken des Maules nach dem Wurmkopf zu greifen, dem die Reaktionsgeschwindigkeit des Wurmes nicht gewachsen ist. Auch wenn sie im Aquarium andere, nicht des raschen Wegzuckens fähige Beute aufnehmen, können die Kaiserfische nicht anders als mit der geschilderten Bewegungsweise zuschnappen.

Noch viele andere »Berufsmöglichkeiten« für spezialisierte Fische bietet das Riff. Da sind Fische, die anderen Fischen Parasiten ablesen. Sie werden von den bösesten Raubfischen geschont, selbst wenn sie in deren Mund- und Kiemenhöhlen eindringen, um dort ihr segensvolles Werk zu vollbringen. Da sind, noch verrückter, andere Fische, die als Parasiten von großen Fischen leben, denen sie Stücke aus der Oberhaut stanzen, und unter diesen sind, was das Verrückteste ist, solche, die den vorerwähnten Putzerfisch in Farbe, Form und Bewegungsweise täuschend nachahmen und sich so unter Vorspiegelung falscher Tatsachen an ihre Opfer heranmachen. Wer zählt die Völker, nennt die Namen ?

Wesentlich für unsere Betrachtung ist, dass sich oft alle oder doch fast alle diese Möglichkeiten für Spezialberufe, die man als »ökologische Nischen« bezeichnet, in dem gleichen Kubikmeter Ozeanwasser darbieten. Da jedes einzelne Individuum, was immer seine Spezialität sein mag, bei dem ungeheuren Nahrungsangebot des Korallenriffes nur weniger Quadratmeter Bodenfläche zu seinem Unterhalt bedarf, so ergibt sich, dass in diesem kleinen Areal so viele Fische zusammenleben können und »wollen«, wie in ihm ökologische Nischen vorhanden sind - und das sind sehr viele, wie jeder weiß, der staunenden Auges das Gewimmel auf einem Riff beobachtet hat. Jeder dieser Fische aber ist ausschließlich daran interessiert, dass sich in seinem kleinen Revier kein anderer der gleichen Art ansiedelt. Die Spezialisten anderer »Berufe« schädigen seinen Geschäftsgang genauso wenig, wie in unserem weiter oben gebrauchten Gleichnis die Anwesenheit eines Arztes im gleichen Dorf dem des Fahrradmechanikers Eintrag tut.

In weniger dicht besiedelten Biotopen, in denen die gleiche Einheit des Raums nur für drei oder vier Arten Lebensmöglichkeiten bietet, kann es ein ortsbeständiger Fisch oder Vogel »sich leisten«, auch alle andersartigen und seinen Unterhalt eigentlich nicht beeinträchtigenden Lebewesen fern zu halten. Wollte nun ein reviertreuer Korallenfisch Gleiches versuchen, so würde er sich völlig erschöpfen und doch nicht imstande sein, das eigene Territorium von dem Gewimmel der Nicht-Konkurrenten verschiedener Professionen freizuhalten. Es ist im ökologischen Interesse aller ortsansässigen Arten, dass jede von ihnen die räumliche Verteilung ihrer Individuen für sich und ohne Rücksicht auf andere Arten vollzieht. Die im ersten Kapitel beschriebenen bunten »Plakat«-Farben und die durch sie selektiv ausgelösten Kampfreaktionen bewirken, dass jeder Fisch jeder Art nur von dem gleichartigen Nahrungskonkurrenten gemessenen Abstand hält. Dies ist die sehr einfache Antwort auf die viel und oft diskutierte Frage nach der Funktion der Farben der Korallenfische.

Wie schon gesagt, hat der artbezeichnende Gesang der Singvögel eine sehr ähnliche arterhaltende Wirkung wie die optischen Signale der eben geschilderten Fische. Ganz sicher erkennen aus ihm andere, noch kein Revier besitzende Vögel, dass an der betreffenden Stelle ein Männchen territoriale Ansprüche geltend macht und wes Nam' und Art es ist. Vielleicht ist es außerdem noch von Wichtigkeit, dass aus dem Gesang bei vielen Arten sehr deutlich hervorgeht, wie stark, möglicherweise auch, wie alt der betreffende Vogel sei, mit anderen Worten, wie sehr er für den ihn hörenden Eindringling zu fürchten sei. Bei manchen akustisch ihr Revier markierenden Vögeln fällt die große individuelle Verschiedenheit der Lautäußerungen auf, manche Untersucher sind der Ansicht, dass bei solchen Arten die persönliche Visitenkarte von Bedeutung sei. Wenn Heinroth das Krähen des Hahnes in die Worte übersetzt: »Hier ist ein Hahn«, so hört Bäumer, der beste aller Hühnerkenner, die weit speziellere Botschaft heraus: »Hier ist der Hahn Balthasar!«

Bei den Säugetieren, die meist »durch die Nase denken«, ist es wenig zu verwundern, dass die geruchliche Markierung des eigenen Grundbesitzes bei ihnen eine große Rolle spielt. Die verschiedensten Wege wurden beschritten, die verschiedensten Duftdrüsen entwickelt, die merkwürdigsten Zeremonien beim Absetzen von Harn und Kot ausgebildet, von denen das Beinchenheben des Haushundes jedem wohlvertraut ist. Der von verschiedenen Säugetierkundigen erhobene Einwand, dass derlei Geruchsmarken mit Revierbesitz nichts zu tun hätten, da sie sowohl bei sozial lebenden, keine Einzelreviere verteidigenden Säugern vorkommen als auch bei solchen, die weit umherzigeunern, besteht nur teilweise zu Recht. Erstens erkennen sich Hunde - und sicher auch andere in Rudeln lebende Tiere - nachweislich individuell am Duft der Marken, und es würde also den Mitgliedern eines Packs sofort auffallen, wenn ein Nicht-Mitglied sich erkühnen sollte, in ihrem Jagdgebiet das Hinterbein zu heben. Zweitens aber besteht die von Leyhausen und Wolff nachgewiesene, sehr interessante Möglichkeit, dass eine räumliche Verteilung gleichartiger Tiere über den verfügbaren Biotop nicht nur durch einen Raumplan, sondern ebenso gut durch einen Zeitplan bewirkt werden kann. Sie haben an freilaufenden, auf offenem Lande lebenden Hauskatzen gefunden, dass mehrere Individuen dasselbe Jagdgebiet benutzen können, ohne je miteinander in Streitigkeiten zu geraten, indem sie seine Benutzung nach einem festen Stundenplan einteilen, ganz wie die Hausfrauen unseres Seewiesener Instituts die Benützung der gemeinsamen Waschküche. Eine zusätzliche Sicherung gegen unliebsame Begegnungen besteht in den Duftmarken, die diese Tiere - die Katzen, nicht die Hausfrauen - in regelmäßigen Abständen, wo immer sie gehen und stehen, abzusetzen pflegen. Diese wirken genau wie das Blocksignal auf der Eisenbahn, das ja in analoger Weise darauf abzielt, ein Zusammenstoßen zweier Züge zu verhindern: Die Katze, die auf ihrem Pirschweg das Signal einer anderen vorfindet, dessen Alter sie sehr wohl zu beurteilen vermag, zögert oder schlägt einen anderen Weg ein, wenn es frisch abgesetzt ist, bzw. setzt ruhig ihren Weg fort, wenn es ein paar Stunden alt ist.

Auch bei Wesen, deren »Territorium« nicht in dieser Weise zeitlich, sondern nur einfach räumlich bestimmt ist, darf man sich das Revier nicht als einen Grundbesitz vorstellen, der durch feste geographische Grenzen bestimmt und gewissermaßen im Grundbuch eingetragen ist. Vielmehr wird es nur durch den Umstand bestimmt, dass die Kampfbereitschaft des betreffenden Tieres an dem ihm besten vertrauten Orte, eben dem Mittelpunkt des Reviers, am größten ist, anders ausgedrückt, es sind die Schwellenwerte der kampfauslösenden Reize dort am niedrigsten, wo das Tier sich »am sichersten fühlt«, d. h. wo seine Aggression am wenigsten durch Fluchtstimmung unterdrückt wird. Mit zunehmender Entfernung von diesem »Hauptquartier« nimmt die Kampfbereitschaft in gleichem Maße ab, wie die Umgebung für das Tier fremder und furchterregender wirkt. Die Kurve dieser Abnahme ist daher nicht in allen Raumrichtungen gleich steil; bei Fischen, die ihren Reviermittelpunkt fast stets am Boden haben, ist das Gefalle der Angriffslust in der Lotrechten am stärksten, sicherlich deshalb, weil dem Fisch von oben her besondere Gefahren drohen.

Das Territorium, das ein Tier zu besitzen scheint, ist also nur die Funktion einer ortsabhängigen Verschiedenheit der Angriffslust, bedingt durch verschiedene ortsgebundene Faktoren, die sie hemmen. Bei Annäherung an den Gebietsmittelpunkt wächst der Aggressionsdrang im geometrischen Verhältnis zur Entfernungsabnahme. Dieser Anstieg ist so groß, dass er alle zwischen erwachsenen geschlechtsreifen Tieren einer Art je vorkommenden Unterschiede der Größe und Stärke ausgleicht. Kennt man also bei territorialen Lebewesen, etwa bei Gartenrotschwänzen vor dem Hause oder bei Stichlingen im Aquarium, die Gebiets-Mittelpunkte von zwei eben in Streit geratenen Revierbesitzern, so kann man aus dem Ort des Zusammentreffens mit Sicherheit voraussagen, wer siegen wird, nämlich ceteris paribus derjenige, der im Augenblick seinem Heim näher ist.

Wenn dann der Besiegte flieht, so führt die Trägheit der Reaktionen beider Tiere zu jenem Vorgang, der immer dann eintritt, wenn ein sich selbst regelndes Geschehen sich mit einer Verzögerung abspielt, nämlich zu einer Schwingung. Dem Verfolgten kehrt mit Annäherung an sein Hauptquartier der Mut wieder, während der des Verfolgers in dem Maße sinkt, in dem er ins Feindesland vordringt. Schließlich macht der eben noch Fliehende kehrt und greift ebenso unvermittelt wie energisch den vorherigen Sieger an, den er nun völlig voraussagbarerweise schlägt und vertreibt. Das Ganze wiederholt sich dann noch mehrere Male, bis die beiden Kämpfer schließlich ausgependelt sind und an einer ganz bestimmten Stelle zum Stillstand kommen, an der sie, nunmehr im Gleichgewicht, gegeneinander drohen ohne anzugreifen.
Diese Stelle, die Revier-»Grenze«, ist also keineswegs auf dem Erdboden eingezeichnet, sondern ausschließlich durch ein Kräftegleichgewicht bestimmt und kann, wenn sich dieses im geringsten ändert, sei es auch nur, dass einer der Fische gerade vollgefressen und daher faul ist, an einer anderen Stelle, etwas näher dem Hauptquartier des Gehemmten liegen. Ein altes Beobachtungsprotokoll über das Revierverhalten zweier Paare des Zebrabuntbarsches mag dieses Schwanken der Reviergrenzen illustrieren. Von vier in ein großes Becken eingesetzten Fischen dieser Art besetzte sofort das stärkste Männchen A die linke, hintere, untere Ecke und jagte die drei übrigen Fische mitleidlos im ganzen Becken umher, mit anderen Worten, er beanspruchte das ganze Aquarium als »sein« Revier. Nach einigen Tagen hatte sich Männchen B ein winziges Plätzchen dicht unter der Oberfläche in der diagonal gegenüberliegenden rechten, vorderen, oberen Raumecke des Beckens zu eigen gemacht und hielt hier den Angriffen des ersten Männchens tapfer stand.

Das Besetzen eines Raumgebietes nahe der Oberfläche ist gewissermaßen eine Verzweiflungsmaßnahme von Seiten des Fisches, der große Gefahren in Kauf nimmt, um sich gegen den überlegenen Artgenossen durchzusetzen, der aus den schon erwähnten Gründen in solchen Gegenden weniger entschlossen angreift. Der Besitzer eines solchen gefährdeten Reviers hat die Oberflächenfurcht des bösen Nachbarn zum Verbündeten. Im Laufe der nächsten Tage wuchs der von B verteidigte Raum zusehends und dehnte sich vor allem mehr und mehr nach unten aus, bis er schließlich seinen Standplatz in die rechte, vordere, untere Aquarienecke verlegt und damit ein vollwertiges Hauptquartier erkämpft hatte. Nun erst hatte er A gegenüber gleiche Chancen und drängte diesen rasch soweit zurück, dass beide Fische das Becken in zwei annähernd gleich große Gebiete geteilt hatten. Es war ein schönes Bild, wie die beiden, dauernd die Grenze patrouillierend, einander drohend gegenüberstanden. Dann, eines Morgens, taten sie dies aber wieder ganz rechts im Becken, auf B's ursprünglicher Seite, kaum einige Quadratdezimeter Bodens nannte dieser nunmehr sein eigen! Ich wusste sofort, was geschehen war: A hatte sich verpaart, und da bei allen großen Buntbarschen die Aufgabe der Revierverteidigung von beiden Gatten treulich geteilt wird, hatte B nunmehr einem verdoppelten Druck standzuhalten, der sein Revier entsprechend zusammen gepresst hatte. Schon am nächsten Tag standen die einander frontal androhenden Fische wieder in der Mitte des Beckens, aber nun waren ihrer vier, denn auch B hatte eine Gattin errungen, so dass das Gleichgewicht der Familie A gegenüber wiederhergestellt war. Eine Woche später wieder fand ich die Grenze ganz weit nach links hinten, in das A-Territorium hinein verschoben, und der Grund dafür war, dass das Ehepaar A soeben abgelaicht hatte, und da nunmehr immer einer der Gatten mit dem Bewachen und Pflegen der Eier beschäftigt war, konnte sich nur jeweils einer von ihnen der Grenzverteidigung widmen. Als kurz darauf das Ehepaar B ebenfalls gelaicht hatte, war die vorherige, gleichmäßige Raumverteilung alsbald wiederhergestellt. Julian Huxley hat dieses Verhalten einmal sehr hübsch in einem physikalischen Gleichnis dargestellt, in dem er die Territorien mit Luftballons verglich, die in einem allseits geschlossenen Behälter sich gegeneinander abplatten und die sich mit dem etwas wechselnden Innendruck jedes einzelnen vergrößern und verkleinern.

Dieser verhaltensphysiologisch recht einfache Mechanismus des territorialen Kämpfens löst in geradezu idealer Weise die Aufgabe, gleichartige Tiere in »gerechter«, das heißt für die Gesamtheit der betreffenden Art günstiger Weise über das verfügbare Areal zu verteilen. Auch der Schwächere kann sich, wenn auch nur in bescheidenerem Raum, erhalten und fortpflanzen. Dies ist besonders bei solchen Lebewesen von Bedeutung, die wie manche Fische und Reptilien schon früh, lange vor Erreichen der Endgröße, geschlechtsreif werden, dabei aber noch weiter wachsen. Welch friedlicher Erfolg des »bösen Prinzips«!
Derselbe Erfolg wird bei manchen Tieren auch ohne aggressives Verhalten erzielt. Es genügt ja theoretisch, dass sich die Tiere derselben Art »nicht riechen können« und einander dementsprechend vermeiden. Bis zu einem gewissen Grade ist dies ja schon bei den von den Katzen gesetzten Duftmarken (S. 41) der Fall, wenn auch hinter deren Wirkung die stille Drohung tätlicher Aggression steht. Es gibt aber auch einige Wirbeltiere, die jeder intraspezifischen Aggression völlig bar sind und dennoch Artgenossen streng vermeiden.
Manche Frösche, vor allem die baumbewohnenden, sind, von der Fortpflanzungszeit abgesehen, ausgesprochene Einzelgänger und offensichtlich sehr gleichmäßig über den verfügbaren Lebensraum verteilt. Dies wird, wie amerikanische Forscher neuerdings herausgefunden haben, ganz einfach dadurch bewirkt, dass jedes Tier vor dem Quaken eines Artgenossen davonläuft. Wie sich allerdings die Weibchen, die bei den meisten Fröschen stumm sind, über das Gebiet verteilen, wird durch diese Befunde nicht geklärt.

Wir dürfen als sicher annehmen, dass die gleichmäßige Verteilung gleichartiger Tiere im Raum die wichtigste Leistung der intraspezifischen Aggression ist. Doch ist sie keineswegs ihre einzige! Schon Charles Darwin hat richtig gesehen, dass die geschlechtliche Zuchtwahl, die Auswahl der besten und stärksten Tiere zur Fortpflanzung sehr wesentlich dadurch gefördert wird, dass rivalisierende Tiere, vor allem Männchen, miteinander kämpfen. Einen unmittelbaren Vorteil für das Gedeihen der Kinderschar bietet die Stärke des Vaters natürlich bei solchen Arten, bei denen er an der Fürsorge für die Jungen und vor allem an ihrer Verteidigung aktiv teilnimmt. Die enge Beziehung zwischen männlicher Brutfürsorge und Rivalenkämpfen wird vor allem bei solchen Tieren deutlich, die nicht im weiter oben geschilderten Sinne »territorial« sind, sondern mehr oder weniger nomadenhaft umherstreifen, wie dies zum Beispiel große Huftiere, bodenbewohnende Affen und viele andere tun. Bei solchen Tieren spielt die intraspezifische Aggression keine wesentliche Rolle für die Raumverteilung, das »spacing out« der betreffenden Arten, man denke etwa an Bisons, Antilopen, Pferde u.a., die sehr große Verbände bilden und denen Revierabgrenzung und Raum-Eifersucht deshalb völlig fremd sind, weil Nahrung in Hülle und Fülle zur Verfügung steht. Dennoch kämpfen die Männer dieser Tierformen heftig und dramatisch miteinander, und es besteht kein Zweifel darüber, dass die von diesem Kampfverhalten getriebene Selektion zur Herauszüchtung besonders großer und wehrhafter Familien- und Herdenverteidiger führt, umgekehrt aber ebenso wenig daran, dass die arterhaltende Leistung der Herdenverteidigung eine Zuchtwahl auf Ausbildung scharfer Rivalenkämpfe getrieben hat. Auf diese Weise sind solche imposanten Kämpfer entstanden, wie es etwa Bisonbullen oder die Männer der großen Pavianarten sind, die bei jeder Bedrohung der Gemeinschaft einen Ringwall mutiger Verteidigung um die schwächeren Herdenmitglieder errichten.

Im Zusammenhang mit den Rivalenkämpfen sei einer Tatsache Erwähnung getan, die erfahrungsgemäß dem NichtBiologen überraschend, ja paradox erscheint und die im Verlaufe dessen, was in diesem Buche später noch gesagt werden soll, von allergrößter Wichtigkeit ist: Die rein intra-spezifische Zuchtwahl kann zur Ausbildung von Formen und Verhaltensweisen führen, die nicht nur bar jedes Anpassungswertes sind, sondern die Arterhaltung direkt schädigen können. Deshalb habe ich auch im vorangehenden Absatz so ausdrücklich erwähnt, dass die Familienverteidigung - also eine Form der Auseinandersetzung mit der intra-artlichen Umwelt - den Rivalenkampf herausgezüchtet hat und dieser erst seinerseits die wehrhaften Männer. Wenn geschlechtliche Rivalität allein, ohne funktionelle Beziehung zu einer auf die Ausßenwelt gerichteten arterhaltenden Leistung, in bestimmter Richtung Zuchtwahl treibt, kann es unter Umständen zu bizarren Bildungen kommen, die der Art als solcher durchaus nicht nützlich sind. Das Geweih der Hirsche zum Beispiel wurde ausgesprochen im Dienste des Rivalenkampfes entwickelt, ein Exemplar, das seiner entbehrt, hat nicht die geringste Aussicht, Nachkommen zu erzeugen. Sonst ist das Geweih bekanntermaßen zu nichts gut.

Gegen Raubfeinde verteidigen sich auch männliche Hirsche nur mit den Vorderhufen, nie mit dem Geweih. Dass die verbreiterte Augensprosse des Rentieres zum Schneeschaufeln verwendet wird, hat sich als Märchen erwiesen. Sie dient vielmehr dem Schutz der Augen bei einer ganz bestimmten ritualisierten Bewegungsweise, bei der der Rentierhirsch sein Geweih heftig gegen niedere Büsche schlägt.

Genau wie der Rivalenkampf wirkt sich oft die vom Weibchen getriebene geschlechtliche Zuchtwahl aus. Wo immer wir extreme Ausbildung bunter Federn, bizarrer Formen usw. beim Männchen finden, liegt der Verdacht nahe, dass die Männer nicht mehr kämpfen, sondern dass das letzte Wort in der Gattenwahl vom Weibchen gesprochen wird und dass dem Mann gegen diese Entscheidung keine »Rechtsmittel« zur Verfügung stehen. Paradiesvögel, Kampfläufer, Mandarinente und Argusfasan sind Beispiele solchen Verhaltens. Die Argusfasanhenne reagiert auf die großen, mit wunderschönen Augenflecken gezierten Armschwingen des Hahnes, der sie in der Balz vor den Augen der Umworbenen spreizt. Sie sind so riesig, dass der Hahn kaum mehr fliegen kann, und je größer sie sind, desto stärker wird die Henne erregt. Die Zahl der Nachkommen, die ein Hahn in einer gewissen Zeiteinheit erzeugt, steht im geraden Verhältnis zur Länge jener Federn.

Selbst wenn ihm deren extreme Ausbildung in anderer Hinsicht zum Nachteil gereicht, wenn er beispielsweise viel früher von einem Raubtier gefressen wird als ein Rivale mit weniger verrückter Übertreibung des Balzorgans, wird er doch ebenso viel oder mehr Nachkommenschaft hinterlassen als jener, und so erhält sich die Anlage zu gewaltigen Armschwingen, völlig entgegen den Interessen der Arterhaltung. Es wäre genauso gut denkbar, dass die Argushenne auf einen kleinen roten Fleck auf den Armschwingen des Männchens reagierte, der beim Zusammenfalten der Flügel verschwände und weder der Flugfähigkeit noch der Schutzfärbigkeit des Vogels Eintrag täte. Aber die Evolution des Argusfasans hat sich nun einmal in die Sackgasse verrannt, die darin besteht, dass die Männer in Bezug auf möglichst' große Armschwingen miteinander konkurrieren, mit anderen Worten, die Tiere dieser Art werden niemals die vernünftige Lösung finden und »beschließen«, diesen Unsinn hinfort sein zu lassen.

Wir stoßen hier zum ersten Mal auf ein stammesgeschichtliches Geschehen, das uns befremdlich und bei tieferem Nachdenken geradezu unheimlich anmutet. Zwar ist uns der Gedanke vertraut, dass die Methode des blinden Versuchs und Irrtums, die von den großen Konstrukteuren angewandt wird, notwendigerweise manchmal zu Bauplänen führt, die nicht gerade die zweckmäßigsten sind. Ganz selbstverständlich gibt es im Tier-und Pflanzenreiche neben dem Zweckmäßigen auch alles, was nicht so unzweckmäßig ist, dass die Selektion es ausmerzt. Hier aber liegt etwas völlig anderes vor. Der strenge Wächter über die Zweckmäßigkeit »drückt nicht nur ein Auge zu« und lässt eine zweitklassige Konstruktion passieren, nein, die Selektion selbst ist es, die sich hier in Verderben bringende Sackgassen verirrt. Sie tut dies immer dann, wenn der Wettbewerb der Artgenossen, ohne Beziehung zur außerartlichen Umwelt, allein Zuchtwahl treibt.

Mein Lehrer Oskar Heinroth pflegte im Scherz zu sagen: »Neben den Schwingen des Argusfasans ist das Arbeitstempo des westlichen Zivilisationsmenschen das dümmste Produkt intraspezifischer Selektion.« Die Hast, in die sich die industrialisierte und kommerzialisierte Menschheit hineingesteigert hat, ist in der Tat ein gutes Beispiel einer unzweckmäßigen Entwicklung, die ausschließlich durch den Wettbewerb zwischen Artgenossen bewirkt wird. Die heutigen Menschen kriegen die Managerkrankheit, arteriellen Hochdruck, genuine Schrumpfnieren, Magengeschwüre und quälende Neurosen, sie verfallen der Barbarei, weil sie keine Zeit mehr für kulturelle Interessen haben, und all dies unnötigerweise, denn sie könnten ja eigentlich ganz gut ein Abkommen treffen, hinfort etwas langsamer zu arbeiten, d. h., sie könnten das theoretisch, denn praktisch bringen sie es offensichtlich ebenso wenig fertig, wie Argushähne beschließen können, sich weniger lange Schwungfedern wachsen zu lassen.

Den bösen Wirkungen intraspezifischer Selektion ist der Mensch aus nahe liegenden Gründen besonders ausgesetzt. Wie kein anderes Lebewesen vor ihm ist er aller feindlichen Mächte der außerartlichen Umwelt Herr geworden. Bär und Wolf hat er ausgerottet und ist nun tatsächlich, wie das lateinische Sprichwort sagt, sein eigener Feind, Homo homini lupus. Moderne amerikanische Soziologen haben diese Tatsache auf ihrem eigenen Forschungsgebiet klar erfasst; in seinem Buche >Die geheimen Verführen gibt Vance Packard eine eindrucksvolle Darstellung der beinahe hoffnungslosen Lage, in die sich kommerzielle Konkurrenz hineinsteigern kann. Bei seiner Lektüre ist man versucht zu glauben, der intraspezifische Wettbewerb sei in einem unmittelbareren Sinne die »Wurzel alles Bösen«, als die Aggression es je sein kann.
Der Grund dafür, dass ich hier im Kapitel über die arterhaltende Leistung der Aggression auf die Gefahren der intraspezifischen Selektion so ausführlich eingegangen bin, ist folgender: Mehr als andere Eigenschaften und Leistungen kann gerade das aggressive Verhalten durch seine verderbliche Wirkung ins Groteske und Unzweckmäßige übersteigert werden. Wir werden in späteren Kapiteln hören, welche Folgen dies bei manchen Tieren, so bei der Nilgans und bei der Wanderratte, gezeitigt hat. Vor allem aber ist es mehr als wahrscheinlich, dass das verderbliche Maß an Aggressionstrieb, das uns Menschen heute noch als böses Erbe in den Knochen sitzt, durch einen Vorgang der intraspezifischen Selektion verursacht wurde, der durch mehrere Jahrzehntausende, nämlich durch die ganze Frühsteinzeit, auf unsere Ahnen eingewirkt hat. Als die Menschen eben gerade soweit waren, dass sie kraft ihrer Bewaffnung, Bekleidung und ihrer sozialen Organisation die von außen drohenden Gefahren des Verhungerns, Erfrierens und Gefressenwerdens von Großraubtieren einigermaßen gebannt hatten, so dass diese nicht mehr die wesentlichen selektierenden Faktoren darstellten, muss eine böse intraspezifische Selektion eingesetzt haben. Der nunmehr Auslese treibende Faktor war der Krieg, den die feindlichen benachbarten Menschenhorden gegeneinander führten. Er muss eine extreme Herauszüchtung aller so genannten »kriegerischen Tugenden« bewirkt haben, die leider noch heute vielen Menschen als wirklich anstrebenswerte Ideale erscheinen - worauf wir in den letzten Kapiteln dieses Buches zurückkommen werden.

Wir kehren zum Thema der arterhaltenden Leistung des Rivalenkampfes mit der Feststellung zurück, dass dieser nur dort eine nützliche Auslese treibt, wo er Kämpfer züchtet, die nicht nur auf das innerartliche Duell-Reglement, sondern auf die Auseinandersetzung mit außerartlichen Feinden geeicht sind. Seine wichtigste Funktion liegt im Auswählen eines kämpferischen Familienverteidigers, was eine weitere Funktion der intraspezifischen Aggression bei der Brutverteidigung voraussetzt. Diese ist so selbstverständlich, dass wir über sie wohl nichts weiter zu sagen brauchen. Wollte man an ihr zweifeln, so genügte zum Beweise ihrer Existenz wohl die Tatsache, dass bei vielen Tieren, bei denen nur ein Geschlecht Brutpflege treibt, nur dieses eine Geschlecht wirklich aggressiv gegen Artgenossen wird, zumindest unvergleichlich mehr als das andere. Beim Stichling ist dies das Männchen, bei manchen Zwergbuntbarschen das Weibchen. Auch bei Hühnern und Entenvögeln, bei denen nur die Weibchen Brut pflegen, sind diese weit unverträglicher als die Männer - vom Rivalenkampf natürlich abgesehen. Beim Menschen soll das ähnlich sein.

Es wäre falsch zu glauben, dass die drei im vorliegenden Kapitel bereits besprochenen Leistungen aggressiven Verhaltens, nämlich die Verteilung gleichartiger Lebewesen über den verfügbaren Lebensraum, die Selektion durch Rivalenkämpfe und die Verteidigung der Nachkommenschaft, die einzigen für die Arterhaltung wichtigen Funktionen seien. Wir werden später noch hören, welche unentbehrliche Rolle die Aggression im großen Konzert der Triebe spielt und wie sie als Motor und »Motivation« auch solche Verhaltensweisen treibt, die äußerlich mit Aggression nichts zu tun haben, ja sogar ihr Gegenteil zu sein scheinen. Dass gerade in den innigsten persönlichen Bindungen, die es zwischen Lebewesen überhaupt gibt, ein gerütteltes Maß von Aggression steckt, ist eine Tatsache, von der man nicht weiß, ob man sie als ein Paradoxon oder als einen Gemeinplatz bezeichnen soll. Indessen muss noch sehr viel anderes gesagt werden, ehe wir auf diese zentralen Probleme unserer Naturgeschichte der Aggression zu sprechen kommen. Die wichtige Leistung, die von der Aggression in der demokratischen Wechselwirkung der Antriebe innerhalb der Ganzheit des Organismus vollbracht wird, ist nicht leicht zu verstehen und noch weniger leicht darzustellen.

Was dagegen schon an dieser Stelle geschildert werden kann, ist die Rolle, die der Aggression im Gefüge einer übergeordneten und dennoch leichter zu verstehenden Systemganzheit zufällt, nämlich innerhalb der aus vielen Individuen zusammengesetzten Gesellschaft sozialer Tiere. Ein Ordnungsprinzip, ohne das sich ein organisiertes Gemeinschaftsleben höherer Tiere offenbar nicht entwickeln kann, ist die so genannte Rangordnung.

Sie besteht ganz einfach darin, dass von den in einer Gemeinschaft lebenden Individuen jedes einzelne weiß, welches stärker und welches schwächer ist als es selbst, so dass sich jedes von dem Stärkeren kampflos zurückziehen und seinerseits von dem Schwächeren erwarten kann, dass dieser kampflos weicht, wann immer eins dem anderen in den Weg kommt. Schjelderup-Ebbe hat als erster das Rangordnungsphänomen an Haushühnern untersucht und von »Hackordnung«, englisch »pecking order«, gesprochen, ein Ausdruck, der sich vor allem in der englischen Fachliteratur bis heute erhalten hat. Es wirkt auf mich stets etwas komisch, wenn man von »pecking order« bei großen Säugern spricht, die sich nicht hacken, sondern beißen oder mit den Hörnern stoßen. Die weite Verbreitung der Rangordnung spricht, wie schon angedeutet, eine beredte Sprache für ihren großen Arterhaltungswert, und wir müssen uns daher die Frage vorlegen, worin dieser eigentlich besteht.

Die nächst liegende Antwort ist natürlich, dass sie Kampf zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft vermeidet, worauf man allerdings die Gegenfrage stellen kann, weshalb dann nicht besser die Aggressivität zwischen den zur Sozietät gehörigen Individuen unter Hemmung gesetzt werde. Auf diese Frage hinwiederum lassen sich eine ganze Reihe von Antworten geben. Erstens kann, wie wir in einem späteren Kapitel (i i. Das Band) noch sehr ausführlich zu besprechen haben werden, durchaus der Fall eintreten, dass eine Sozietät, etwa ein Wolfsrudel oder eine Affenherde, der Aggressivität gegen andere, gleichartige Gemeinschaften dringend bedarf und dass das Kämpfen nur innerhalb der Horde vermieden werden muss. Zweitens aber können die Spannungsverhältnisse, die durch den Aggressionstrieb und durch seine Auswirkung, die Rangordnung, innerhalb der Gemeinschaft entstehen, dieser eine in vielen Hinsichten segensreiche Struktur und Festigkeit verleihen. Bei den Dohlen, und wohl bei vielen anderen sehr sozialen Vögeln, führt die Rangordnung unmittelbar zum Schutz des Schwächeren. Da jedes Individuum stets bestrebt ist, seine Stellung im Rang zu verbessern, herrscht zwischen den unmittelbar über- bzw. untereinander stehenden Individuen stets eine besonders große Spannung, ja Feindseligkeit, und diese ist umgekehrt um so geringer, je weiter zwei Tiere rangmäßig voneinander entfernt sind. Da nun aber ranghohe Dohlen, vor allem Männchen, sich unbedingt in jeden Streit zwischen zwei Untergebenen einmischen, hat diese abgestufte Verschiedenheit sozialer Spannung die erwünschte Folge, dass die höherrangige Dohle in den Kampf stets zugunsten des jeweils Unterlegenen eingreift, scheinbar nach dem ritterlichen Prinzip »Wo es Stärkere gibt, auf Seite des Schwächeren!«.

Schon bei Dohlen verbindet sich mit der aggressiv erkämpften Rangstellung des Einzeltieres eine andere Form der »Autorität«: Die Ausdrucksbewegungen eines ranghohen, besonders eines alten Männchens werden von den Koloniemitgliedern viel stärker beachtet als die eines rangtiefen Jungtieres. Erschrickt zum Beispiel ein Jungvogel über irgendeinen bedeutungslosen Reiz, so schenken die anderen, vor allem die älteren Vögel, seinen Schreckensäußerungen kaum Beachtung. Geht dagegen ein gleicher Alarm von einem der alten Männer aus, so fliegen alle Dohlen, die ihn wahrnehmen können, in heftiger Flucht davon. Da bei der Dohle interessanterweise die Kenntnis der Raubfeinde nicht angeboren ist, sondern von jedem Individuum aus dem Verhalten der erfahreneren Altvögel gelernt wird, mag es erhebliche Bedeutung haben, wenn in der eben geschilderten Weise der »Meinung« alter, hochrangiger und erfahrener Vögel ein besonders großes »Gewicht« beigelegt wird.

Mit der Entwicklungshöhe einer Tierart nimmt im allgemeinen die Bedeutung der Rolle zu, die individuelle Erfahrung und Lernen spielen, während das angeborene Verhalten zwar nicht an Wichtigkeit verliert, aber auf einfachere Elemente reduziert wird. Mit diesem allgemeinen Fortschreiten der Evolution wird die Bedeutung immer größer, die dem erfahrenen alten Tier zukommt, ja, man kann geradezu sagen, dass das soziale Zusammenleben bei den klügsten Säugetieren eben dadurch eine neue arterhaltende Leistung entwickelt, dass es ein traditionelles Weitergeben individuell erworbener Information ermöglicht.

Die umgekehrte Feststellung enthält natürlich ebenso viel Wahres. Zweifellos übt soziales Zusammenleben einen Selektionsdruck in der Richtung einer besseren Entwicklung der Lernfähigkeit aus, weil diese bei geselligen Tieren nicht nur dem Individuum, sondern auch der Gemeinschaft zugute kommt. Damit erhält auch eine lange Lebensdauer, die weit über die Periode der Fortpflanzungsfähigkeit hinausreicht, arterhaltenden Wert. Wie wir von Fräser Darling und Margaret Altmann wissen, wird bei vielen Hirschartigen das Rudel von einer uralten Dame angeführt, die längst nicht mehr durch die Pflichten der Mutterschaft von ihren sozialen Verpflichtungen abgehalten wird.

Nun steht aber mit großer Regelmäßigkeit - wofern alle anderen Begleitumstände als gleich vorausgesetzt werden dürfen - das Alter eines Tieres in geradem Verhältnis zur Stellung, die es in der Rangordnung seiner Sozietät einnimmt. Es ist daher nicht unzweckmäßig, wenn sich die »Konstruktion« des Verhaltens auf diese Regelmäßigkeit verlässt und die Mitglieder der Gemeinschaft, die ja das Alter der erfahrenen Leittiere nicht in deren Taufschein nachlesen können, den Grad der Vertrauenswürdigkeit ihrer Leiter nach deren Rangstellung bemessen. Von Mitarbeitern Yerkes' wurde schon vor längerer Zeit die außerordentlich interessante, ja aufregende Feststellung gemacht, dass Schimpansen, die bekanntlich des Lernens durch echte Nachahmung wohl fähig sind, grundsätzlich nur ranghöheren Artgenossen etwas nachmachen. Man entfernte einen rangniedrigen aus einer Gruppe dieser Affen und brachte ihm allein bei, durch einige recht komplizierte Manipulationen Bananen aus einem besonders hierzu konstruierten Futterapparat herauszubekommen. Als man diesen Affen dann samt dem Bananenapparat zu der Gruppe zurückbrachte, versuchten die ranghöheren zwar, ihm die Bananen wegzunehmen, die er sich erarbeitet hatte, aber keiner kam auf den Gedanken, dem Verachteten bei der Arbeit zuzusehen und etwas von ihm zu lernen. Dann ließ man den Ranghöchsten in gleicher Weise die Bedienung des Apparates erlernen, und als man ihn in die Gemeinschaft zurückversetzte, beobachteten ihn die anderen Mitglieder voll Interesse und hatten ihm im Nu das Erlernte abgesehen.

S. L.Washburn und Irven de Vore haben an freilebenden Pavianen beobachtet, dass die Horde nicht durch einen einzigen, sondern durch ein »Gremium« von mehreren uralten Männern geführt wird, die ihre Vorherrschaft über jüngere und körperlich weit stärkere Mitglieder der Horde dadurch aufrechterhalten, dass sie wie Pech und Schwefel zusammenhalten und vereint jedem einzelnen jüngeren Mann überlegen sind.

Im genauer beobachteten Fall war einer der drei Senatoren ein beinahe zahnloser Greis, und die beiden anderen standen durchaus nicht mehr in der Blüte ihrer Jahre. Als die Horde einmal in Gefahr geriet, in baumlosem Gebiet einem Löwen in die Arme - oder besser gesagt in den Rachen - zu laufen, machten die Tiere halt, und die jungen starken Männchen formierten einen Verteidigungsring um die schwächeren Tiere. Der Greis aber ging allein voraus, löste umsichtig die gefährliche Aufgabe, den Standort des Löwen festzustellen, ohne von ihm gesehen zu werden, kam zur Horde zurück und führte sie auf einem weiten Umweg um den Löwen herum zu der Sicherheit der Schlafbäume. Alle folgten ihm in blindem Gehorsam, niemand zweifelte seine Autorität an.

Blicken wir zurück auf alles, was wir in diesem Kapitel aus der objektiven Beobachtung von Tieren darüber gelernt haben, in welcher Weise die intraspezifische Aggression der Erhaltung einer Tierart nützlich ist: Der Lebensraum wird unter den Artgenossen in solcher Weise verteilt, dass nach Möglichkeit jeder sein Auskommen findet. Der beste Vater, die beste Mutter wird zum Segen der Nachkommenschaft ausgewählt. Die Kinder werden beschützt. Die Gemeinschaft wird so organisiert, dass einigen weisen Männern, dem Senat, diejenige Autorität zukommt, die vorhanden sein muss, um Entscheidungen zum Wohle der Gemeinschaft nicht nur zu treffen, sondern auch durchzusetzen. Niemals haben wir gefunden, dass das Ziel der Aggression die Vernichtung der Artgenossen sei, wenn auch durch einen unglücklichen Zufall gelegentlich im Revier- oder Rivalenkampf ein Hörn ins Auge oder ein Zahn in die Halsschlagader dringen kann und wenn auch unter unnatürlichen Umständen - unter solchen, die von der »Konstruktion« des Artenwandels nicht vorgesehen sind, zum Beispiel in Gefangenschaft - aggressives Verhalten vernichtende Wirkungen entfalten kann. Blicken wir ein wenig in unser Inneres und versuchen wir ohne Überheblichkeit, aber auch ohne uns selbst von vornherein als bösartige Sünder zu betrachten, einmal unvoreingenommen festzustellen, was wir bei höchster aggressiver Erregung dem Mitmenschen, der sie auslöst, zufügen wollen. Ich glaube, ich mache mich nicht besser, als ich bin, wenn ich behaupte, dass die zielbildende, trieb-beruhigende Endhandlung nicht das Umbringen meines Feindes ist.

Das mich beglückende Erlebnis besteht vielmehr in solchem Falle zweifellos im Austeilen von möglichst laut klatschenden Watschen, allenfalls von leise knirschenden Kinnhaken, keinesfalls aber im Bauchaufschlitzen oder Totschießen. Und auch die angestrebte Endsituation besteht nicht darin, dass der Gegner tot daliegt, o nein, windelweich geprügelt soll er sein und demütig meine körperliche und, wenn er ein Pavian ist, auch meine geistige Überlegenheit anerkennen. Und da ich grundsätzlich nur solche Kerle prügeln möchte, denen eine derartige Unterwerfung nichts schaden würde, kann ich meine diesbezüglichen Instinkte nicht so ganz verurteilen. Natürlich muss man sich eingestehen, dass leicht aus dem Verprügelnwollen ein Totschlag entstehen kann, zum Beispiel wenn man zufällig eine Waffe in der Hand hat. Überblicken wir dies alles in umfassender Zusammenschau, so erscheint uns die intraspezifische Aggression durchaus nicht als der Teufel, als das vernichtende Prinzip, ja nicht einmal als »Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft«, sondern ganz eindeutig als Teil der System- und lebenserhaltenden Organisation aller Wesen, der zwar, wie alles Irdische, in Fehlfunktionen verfallen und Leben vernichten kann, der aber doch vom großen Geschehen des organischen Werdens zum Guten bestimmt ist. Und dabei ist noch nicht einmal in Rechnung gestellt, was wir erst im 11. Kapitel hören werden, dass nämlich die beiden großen Konstrukteure Mutation und Selektion, die alle Stammbäume wachsen lassen, gerade den ruppigen Ast der intraspezifischen Aggression ausersehen haben, um aus ihm die Blüte der persönlichen Freundschaft und Liebe sprießen zu lassen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen