Montag, 11. Dezember 2006

Nation und Nationalismus

Die Alternative lautet: Nation oder Despotie, sich selbst organisierende Bürgergesellschaft oder ein Regime, bei dem eine unstrukturierte Masse durch eine kleine politische Elite beherrscht wird.
Es lohnt, darüber nachzudenken, z.B. an Hand der Texte für politische Bildung.

Nation und Nationalismus

Wer meint auf die Nation als Legitimations- und Ordnungselement verzichten zu können, der optiert für die Despotie. Es gibt keinen dritten Weg.

Zitat:

Die Deutschen - eine Nation?


Thilo Ramm

Was tun?
Die bedingungslose Kapitulation von 1945 hat dennoch den Weg vorgezeichnet: Die Deutschen können seitdem die Vergangenheit weder annehmen noch über sie hinwegsehen und in Geschichtslosigkeit fliehen. In der Generationenabfolge nach 1945 konnte diese als Verdrängung selbst erlebter Vergangenheit praktiziert und sodann der Vätergeneration vorgeworfen werden. Nunmehr könnte sie das Bewusstsein einer neuen Generation, etwa der Zwanzig- bis Dreißigjährigen, wiedergeben. Die deutsche Geschichte lässt sich nicht durch den Vergleich mit anderen Völkern umgehen, auch wenn über deren Entwicklung Grillparzers Wort "Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität" steht und die Nationalgeschichte demnach stets als eine nur in Einzelheiten abweichende Verbrecher- und Verbrechensgeschichte (mit dem "Schurkenstaat" als Vergleichskategorie?) aufzufassen wäre.

Die Deutschen sind der Geschichte gegenüber offen, denn sie haben den Prozess ihres Werdens zur Staatsnation noch nicht abgeschlossen.[23] Sie sind auch dem Vergleich mit anderen Völkern gegenüber offen; der Bewertungsmaßstab ist der Anspruch an die Nation. Die deutsche Kulturnation gibt den Maßstab für diese Auseinandersetzung vor, die ohne Vorbedingung, ohne Konzession an den jetzigen oder an einen früheren Zeitgeist zu erfolgen hat. Geschichte ist Vergangenheit, "wie sie wirklich gewesen ist"[24]. Sie ist die Geschichte der Herrscher, der eigenen wie der fremden, und sie ist ebenso die Geschichte der Beherrschten, der Untertanen und der Opfer der Herrschaft. Beide Aspekte gehören zusammen. Es geht um Legitimation von Herrschaft und um ihre Ausübung, um Verantwortung für das politisch Geschehene, das Tun und Lassen in bestimmten entscheidenden Situationen.

Die Historiker stehen vor wichtigen Aufgaben. Können sie überhaupt erfüllt werden? Die Bestandsaufnahme ist schwierig. Es gibt eine Überfülle von geschichtlichen Arbeiten, doch sind sie nur allzu häufig Fragestellungen des Zeitgeistes verpflichtet, während erhebliche Lücken in der Forschung bei Grundfragen und deren Aufbereitung bestehen. Zudem hat sich der Adressatenkreis vergrößert, und die Medien haben einen anderen Erwartungshorizont geschaffen. Es geht nicht mehr nur um Geschichtsschreibung, sondern um kollektive Erinnerung: Die Vergangenheit soll unmittelbar nachvollzogen, soll erlebt werden. Essoll eine Brücke zu den früheren Zeitgenossen und deren Verhältnis zum kollektiven Geschehengeschlagen werden. Doch erschwert die Barriere des Kulturföderalismus die historische Analyse, denn die heutigen Länder entsprechen nicht den früheren und werden weder der RollePreußens noch der Österreichs und schon gar nicht dem Reich gerecht. Zum Gebot der Wahrheit tritt die Forderung nach gerechter Würdigung. Sie ist für die Zeit des Nationalsozialismus besonders dringlich. Der Jurist sollteüber die Recht- oder Unrechtmäßigkeit des"Dritten Reichs" urteilen.[25]

Es bleibt die Hoffnung, dass der Bundespräsident als vergleichsweise machtloser Nachfahre des "aufgeklärten Absolutismus", als selbstloser Berater das gelehrte, unpolitische Deutschland aktiviert.[26] Sicherlich ist der Bundespräsident kein Geschichtslehrer. Selbst mittelbar einzuwirken, die Richtung der wissenschaftlichen Arbeit oder gar deren Ergebnis vorzugeben, ist ihm versagt, ohne dass er damit freilich aus der wissenschaftlichen Diskussion ausgeschlossen werden sollte. Seine Aufgabe ist es, die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die der Freiheit der Wissenschaft entgegenstehen, und für den unmittelbaren Zugang des Bürgers zur Kultur, zu Wissenschaft und Kunst zu sorgen. Der Bundespräsident ist der unentbehrliche organisatorische Helfer. Er nutzt seine Autorität, um die bereits vorhandenen Kräfte - und sie stehen in ausreichendem Maße zur Verfügung - zu bündeln und die wissenschaftliche Arbeit für den Bürger überschaubar zu machen.[27] Dabei kann er kraft der Autorität seines Amtes die Grenzen der deutschen Geschichte weit ziehen. Er ist weder an die bestehenden Staatsgrenzen, noch an die Staatsräson gebunden. Er kann daher weiter als die politische Gegenwart greifen und auch Österreich und Preußen, die verlorenen Ostgebiete, die Vertreibungsgebiete und die Zwangsemigrationen der beiden letzten Jahrhunderte[28] einschließen, ohne sich damit dem Vorwurf des Revanchismus auszusetzen. Und er kann ebenfalls kraft seiner Stellung dafür sorgen, dass die Ereignisse und die Eliten der deutschen Geschichte auch in den Blick der anderen Nationen geraten.[29]

Doch das Amt gestattet noch mehr: Der Bundespräsident kann unmittelbar zur Bewahrung des kulturellen Erbes eingreifen. Gewissermaßen als Wächter über den Umgang mit der Vergangenheit obliegt es ihm, für die Verwaltung des deutschen Kulturbesitzes zu sorgen. Entsprechendes gilt für die Gegenwart: Die Gründung einer "Deutschen Nationalakademie" ist überfällig. Schließlich ist der Bundespräsident auch für die Außenrepräsentanz der deutschen Kulturnation zuständig, und dies schließt, etwa beim schwierigen Thema der so genannten Beutekunst, den Schutz eines Kernbereichs der Kultur jenseits des politisch Verhandelbaren und Verfügbaren ein.

Die Aufgabe ist groß. Sie wartet darauf, erfüllt zu werden. Das Amt des Bundespräsidenten harrt seiner nationalen Sinngebung. Der Bundespräsident muss nur die bestehenden Freiräume im Bereich der Freiheit der Wissenschaft und der Kunst nutzen und gestalten. All dies dient dazu - und dies ist seine zutiefst politische Aufgabe -, das deutsche Volk wieder Kulturnation werden zu lassen. Dann kann es über seine Geschichte befinden und über deren Annahme das Plebiszit abgeben, eine Staatsnation sein zu wollen.

Zitat Ende.

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